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Nadja Geers Buch „Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose“ ist eine Analyse der Kämpfe um kulturelle Distinktionen

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Studie „Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose“ der Berliner Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Nadja Geer geht auf eine von Erhard Schütz betreute Dissertation an der HU Berlin zurück. Ihr Wert liegt ohne Zweifel in der scharfsinnigen Analyse des kulturellen Distinktionstheaters, der Kämpfe um kulturelle Profile und der Spiele damit, um „Denkstile“ und Posen das 20. Jahrhundert hindurch. Der schlüssige und klare Aufbau in einer gewandten und prägnanten Sprache macht die Untersuchung vollends zu einem Ausnahmefall der ‚wissenschaftlichen‘ Publizistik, in der die unbeholfene, verquer formulierte und auch schlicht fehlerhafte Diktion inzwischen längst eine traurige Leseerfahrung ist, über die in der Öffentlichkeit auch immer seltener bedauernde oder gar kritische Worte zu hören sind.

Zentral ist der Titelbegriff der sophistication, ein schwer übersetzbarer, weil im Englischen höchst konnotationen- und referenzenreicher Begriff, mit dem wohl seit Joseph Litvak[1], Anglist an der Tufts University (Boston), die Aneignung von Wissen und der öffentliche Umgang damit in der sogenannten „Popkultur“ bezeichnet wird. Sophisticated meint – nicht erst heute – etwas zwischen witzig, geistreich, skurril, raffiniert, elitär, und dabei auch immer wieder – sagen wir: möchte-gern-subversiv. Ein einziges deutsches Äquivalent dürfte schwer zu finden sein, und Nadja Geer versucht es klugerweise auch nicht mit irgendeiner Scheinlösung, die nicht anders als plump ausfallen müsste. Viele Begriffe, Fragen, Denkfiguren und überhaupt kultursoziologische Inspirationen bezieht die Verfasserin durchaus zu ihrem Vorteil nicht nur von Pierre Bourdieu (Die feinen Unterschiede, deutsch zuerst 1982, nicht erst 1996), sondern vor allem bereits von Georg Simmel und Helmuth Plessner, Irving Goffman und Panajotis Kondylis, und es gelingt ihr, diese Anregungen auf kluge Weise für ihre Analyse zu nutzen, die in Gedankenführung und Urteilen stets distanziert bleibt, bei aller Zugänglichkeit für den Jargon, die der großen Nähe zu ihrem Gegenstand geschuldet ist und dem Text für manche Leser einen gewissen Unterhaltungswert sichern wird. Die Alternative wäre eine kühle Analyse aus großer Distanz gewesen, die aber leicht selbst als eine Version von sophistication hätte gelesen werden können. Theodor W. Adornos Kulturkritik wird von Geer immer wieder erwähnt – die Rede ist im Schlusskapitel sogar von einem „adornitischen Erbe“ im Falle des „Popintellektuellen“ Diedrich Diederichsen –, aber man kann nicht sagen, dass sie sich selbst davon leiten lässt. Sonst hätte sie wohl ein anderes Buch schreiben müssen.

Ihrem übergeordneten Thema: Habitus, Denkstil und Selbstinszenierung jedenfalls der Autoren, Musiker und weiteren Stimmen des ‘klassischen’ Pop, sucht Geer sodann eine historische Abschattierung zu verleihen, indem sie einerseits auf den historisch älteren Typus zurückgeht, der typologisch aber auch als Gegenstück zu verstehen ist, nämlich den „intellektuellen Habitus“ der „bürgerlichen“ beziehungsweise „bildungsbürgerlichen“ Kultiviertheit, und indem sie zum anderen diejenigen Phänomene der aktuellen Popkultur herausarbeitet, in denen sie eine zunehmende Bedeutung der Pose (diese auch im Kontrast zur kultivierten Haltung) wahrnimmt. Das Traditionskonstrukt der Kultiviertheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird besonders an den Autoren Rudolf Borchardt, Friedrich Reck-Malleczewen und Friedrich Sieburg und einigen ihrer Schriften exemplifiziert, denen knappe, aber kenntnisreiche Charakteristiken gewidmet werden. Sieburg repräsentiert auch – unter westdeutschen Bedingungen der frühen Bundesrepublik, muss man hinzufügen – Habitus-Elemente des Dandys, in Geers Typenabfolge ein Übergangsphänomen zur sophistication, über das man einen sehr instruktiven Exkurs lesen kann, ehe die Kapitel 5 bis 7 (von 8) den sophistication-Phänomenen in der deutschsprachigen Literatur, Kritik und Publizistik der Gegenwart gewidmet werden. Untersucht werden hier vor allem das literarische Programm generell sowie die Autoren Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Max Goldt und Christian Kracht sowie als einflussreicher Publizist Diedrich Diederichsen. En passant kommen auch sehr viel mehr Autoren und Texte zur Sprache, wie etwa Dietmar Dath, Clara Drechsler, Kerstin Grether, Charlotte Roche und Benjamin von Stuckrad-Barre, Martin Mosebach oder der Äthiopier Asfa-Wossen Asserate, der den Deutschen erfolgreich sowohl ihre „Manieren“ als auch ihre „Tugenden“ erklärt hat. Die Konzentration auf wenige Repräsentanten dient gewiss der Konturierung der Konzepte. Aber reizvoll wäre es schon zu fragen, wie andere Autoren, Arno Schmidt etwa oder Thomas Bernhard, in dieser Optik aussähen.

Zentral für die Anlage der Untersuchung ist die Auffassung, die auch sonst vertreten wird, dass im Popdiskurs das Wissen des Pop zu dem des Bildungsbürgertums und seiner Kultiviertheit konkurrierend hinzutritt und in Texten der Popliteraten „aufscheinen“ darf, mit den bekannten (intendierten) Folgen der Aufhebung der kulturellen Hierarchisierung, von „high“ und „low“ und so weiter. Das folgende Zitat aus einer Plattenkritik von Diederichsen (1989) ist von der Verfasserin gut gewählt: „Let it be war ja schon in the first place ein Schwanengesang, das Gegenteil eines Birth Of a Nation (vielleicht der Birth von Daydream Nation?), an denen Laibach, von gleichnamigen Titeln bis zur ‚Klangniederschrift einer Taufe‘, über die Umtaufung von Nationen, immer so interessiert waren, war ihr Arbeitsgebiet also bisher Gründung von Staaten und ihre ideologische Verknüpfung mit Emotionszusammenhängen durch Musik, so scheint es jetzt seit ‚Sympathy for the Devil‘ der für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts existierende Mythos der alternativen Nationen, der Woodstock-Nations, zu sein, und wie sie sich auf Musik gründen.“ Geer erkennt darin treffend eine „Referenzinflation“. Meinecke hat (2007) von einer „Verweishölle“ gesprochen, „die Pop ja immer ist.“

Zu fragen ist, ob das so zutrifft. Gerade wenn man Texte wie diesen auf sich wirken lässt, liegt der Schluss nahe, dass es doch gar nicht „legitimes Bildungswissen“ ist, womit sophistication konkurriert, sondern bereits dessen Zerschlagung zu Bildungsschrott,[2] also Bildungskultur in einem bereits veränderten Aggregatzustand: dekomponiert und zu Kompost verarbeitet (die Wörter sind verwandt), und den notorisch strengen Geruch, der mit derlei Zersetzungsprozessen einhergeht, muss man sich hinzudenken. Ist diese „Referenzinflation“ nicht nur ein anderes Wort für den Schrotthaufen, zu dem die Kultur gemacht wurde und in dem der „Popintellektuelle“ als eine Art Schrottverwerter, als eine Art Penner auf der Suche nach brauchbaren Stücken im Müll herumstochert, um eine paar Euro damit zu verdienen – und weil seine Agenten bis hinauf zur akademischen Popforschung ihn für einen Intellektuellen halten wollen, ist damit, wie er hofft, gelegentlich auch noch mehr zu verdienen. Und, wenn er ehrlich zu sich selbst ist, lacht er sich zugleich schief dabei.

Während der Lektüre von Geers Buch kann man sich immer weniger gegen den Eindruck wehren – und will sich schließlich dagegen nicht mehr wehren –, Zeuge einer gewaltigen Umetikettierung zu sein, die von Geer nicht erfunden oder bewerkstelligt, aber so klar wie nirgends sonst vorgeführt und von innen her analysiert wird. Eine konsumistische Trivialkultur hat sich mit halbverstandenen begrifflichen Versatzstücken, Denkfiguren, Namen (Nietzsche! Adorno!) drapiert, mit denen diese Typen doch nun wirklich nichts zu tun haben. Ein Narrentheater also – in dessen Dramaturgie und Asservatenkammer dieses Buch jedoch wie kein anderes einen klarsichtigen, präzise formulierten Einblick verschafft. Eine bessere Nummer 1 ihrer Buchreihe „Westwärts. Studien zur Popkultur“ konnten sich deren Herausgeber nicht wünschen. Dennoch: der Eindruck, dass das Buch selbst dem Narrentheater angehört, von dem es so kundig berichtet, ist einfach zu stark. Und deshalb legt man es dann doch schnell weg, weder der Verfasserin noch ihren Gewährsleuten Erfolg wünschend.

Anmerkungen:

[1] Joseph Litvak: Strange Gourmets. Sophistication, Theory, and the Novel. Durham, London: Duke UP 1997.

[2] Vgl. die jüngste Publikation von Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, bereits in 2. Auflage.

Titelbild

Nadja Geer: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose.
V&R unipress, Göttingen 2012.
267 Seiten, 43,90 EUR.
ISBN-13: 9783899719765

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