Die Darstellung der Schmerzen
Elisa Primavera-Lévy untersucht „Figurationen körperlichen Leids in der deutschen Literatur und Kultur 1870-1945“
Von Marie-Luise Wünsche
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVon der Metapher und Klängen, welche die Schmerzen evozieren
„Der Schmerz hat“, so formulierte es einmal der Schweizer Schriftsteller Heinrich Wiesner, „eine Vorliebe für Selbstlaute“. Schmerz und Klang und die Reflexion dieses Paars als Pointe der Schmerzprotokolle scheinen gelegentlich ein untrennbares Dreigestirn von Bezugspunkten zu bilden.
Ich beginne diese Rezension mit dem, was die zu rezensierende Monografie ausspart, obwohl es ihren Rahmen und ihr Koordinatensystem ausmacht. Erst danach werde ich Struktur und Inhalt der ausgesprochen materialreichen und insgesamt durchaus klugen Studie vorstellen.
Im Ecce homo erwähnt Friedrich Nietzsche einmal auf die diesen Text konstituierende performativ-ironische Weise ein paradoxal anmutendes Grundphänomen, welches die nicht auflösbare Spannung von Schmerzen-haben einerseits und trotzdem durch die Schmerzen hindurch kreativ-kognitiv Handeln zu können andererseits umreißt: „mitten in Martern“ lesen wir da, „die ein ununterbrochener dreitägiger Gehirnschmerz samt mühseligem Schleimerbrechen mit sich bringt, – besaß ich eine Dialektiker-Klarheit par excellence und dachte Dinge sehr kaltblütig durch, zu denen ich in gesünderen Verhältnissen nicht Kletterer, nicht raffiniert, nicht kalt genug bin.“ Natürlich ließe sich einwenden, dass es streng genommen keine Gehirnschmerzen gibt. Ja, dies ließe sich sogar formvollendet mit einem Zitat von Rainer Malkowski auf den neuralgischen Punkt bringen, der da fragt: „Ist es etwa keine Ironie, dass nur das Gehirn des Menschen schmerzunempfindlich ist?“
Doch gewonnen wäre damit nichts, weiß doch jeder, der sich ein wenig mit den Schmerzensreichen Nietzsches auskennt, dass er Migräniker war. Gegen Nietzsches hartnäckige Migräne mit Aura, die seinen gesamten Körper Zeit seines Lebens gelegentlich für Tage in ein lichtscheues, von Tränen geschütteltes und nahezu schreibunfähiges Häufchen Elend verwandelte, war kein Kraut gewachsen, half keine Chemie, kein Zittern und Beben, so dass seine Ärzte halbwegs machtlos und ratlos blieben. Sie konnten, trotz Zitteraaltherapie und anderen erfolgreichen Behandlungen der damaligen Gesundheitsversorgung weder dem Studenten noch dem Professor wirklich und nachhaltig helfen – und derartige Schmerzpatienten sind heutzutage keineswegs undenkbar, sondern Krankenhaus- und Hausarztroutine, wenngleich erfreulicherweise prozentual gesehen nur eine winzige Minderheit der Patienten vor Schmerzen schreien und gegebenenfalls isoliert werden müssen, damit andere Patienten nicht mutlos und noch kränker werden.
Also musste der Artistenmetaphysiker damals schon zur Selbsttherapie greifen und hätte das eventuell auch heute noch nötig, trotz der mittlerweile entwickelten und höchst wirksamen Triptane und anderer Mittel: doch das muss ungeklärt bleiben. Er ließ jedenfalls in mal kleineren, mal größeren Abständen seines Lebens, doch stets regelmäßig, geschriebene Worte gleichsam so laut poltern und so nachhaltig schallen, dass darunter die Schmerzen, wenn nicht verstummten, so doch nahezu still wurden. Rüdiger Safranski war es, der wohl als einer der ersten auf diese meditative Funktion der Philosophie Nietzsches hinwies, die nicht selten Töne anschlägt, die von jenen der vorsokratischen Denker über die antiken Kyniker bis hin zur frühromantischen Ironie und darüber hinaus reichen.
Auch Franz Kafka, der, ähnlich wie Friedrich Nietzsche und ganz im Gegensatz zu einer der Hauptthesen der hier zu besprechenden Monografie, nicht etwa das Leid stilisierte und aushielt, obwohl er von den Qualen leicht medikamentös und mit anderen Mitteln völlig hätte befreit werden können, wunderte sich gelegentlich über die Beschaffenheit von Schmerzen, die man aushalten und zugleich, wenn auch unangemessen, schriftlich reflektieren kann.
In dem nicht überbrückbaren Abgrund zwischen Lebensleid und Schreibleben, in dieser Differenz, die Menschen nie los werden, kann sich dennoch eine kreative Selbstheilungskraft über der Physiologie entfalten. Ganz ohne das Konstrukt der Psyche und im Anschluss an neuere Erkenntnisse, wie sie etwa Manfred Spitzer allgemeinverständlich und wissenschaftsjournalistisch aufbereitet, ließe sich dieses physiologische Surplus als ein sich selbst transzendierendes Epiphänomen verstehen. Denn Schreiben bedeutet eben, mittels welcher Gerätschaften auch immer, vor allem eine direkte Einflussnahme auf zerebrale Bewegungen zu haben und dies wiederum bedeutet eine Dynamisierung chemischer Prozesse, denen sich unter anderem der menschliche Stimmungshaushalt verdankt. Derart ließe sich durch Schreibbewegungen etwa der Serotoninstoffwechsel verändern, und so könnte es einen gequälten, durch seine Schmerzen derart auf sich zurückgeworfenen Menschen erfreuen, der nur noch ohne Licht und mit geschlossenen Augen Schreiben kann, wenn mittels rhetorischer Verfahren Geschriebenes für ihn wirken kann, als könne es lachen, poltern, trösten, kurzum sozusagen alle dem ‚Schmerzmonster’ geopferten „Lebensgeister“ wieder wecken.
Dies muss nicht bei jedem wirken, aber für den einen oder die andere könnte die bloße Schreibbewegung Linderung bedeuten. Zumindest würde so und auf der Basis neuester neurophysiologischer Erkenntnisse verständlicher, auf welche Weise Nietzsche und Kafka mit ihren Denk- und Schreibprozessen alles andere als nazistische und regressive Selbstbeobachtung betrieben haben.
Was hier in Bezug auf das Schreiben ausgeführt wurde, gilt natürlich auch für das Lesen, in besonderem Maße für das Lautlesen, weil Schreiben und Laut-Lesen wie Sport und Sex sinnliche Tätigkeiten sind, die den gesamten menschlichen Organismus betreffen und bewegen, also therapieren, ja gar über sich selbst hinauswachsen lassen können.
Freilich gibt es nicht die eine als Massenware zu verordnende Bewegungstherapie: was dem einen sein Schreiben und der anderen der Sex ist, das mag dem Dritten der Theaterbesuch und dem Vierten das Kopfrechnen sein. Wenngleich also weder Mündlichkeit noch Schriftlichkeit den bohrenden, zischenden und wogenden Schmerzen Vehikel sein können, die diese zumindest annähernd auszudrücken oder zu beschreiben verstünden, so sind sie dennoch als Klangbecken respektive als Schreibzug Resonanzräume des Leids. Hinter dem Begriff Schmerz öffnet sich stets ein Abgrund dessen, auf was er verweist.
Auch die Skala der Interjektionen, derer wir uns bedienen, wenn uns der Schmerz trifft, ist breit und erlaubt Vielfalt. Die Skala selbst ist zudem nach unten wie nach oben hin offen für alle noch so unwahrscheinlich wirkenden Variationen der ‚Pingphonie’, also der Schmerzensschreie, die das Pathos, wie der Grieche das Leiden nennt, wenn nicht ausdrücken, so doch immerhin klangvoll begleiten.
Auf dieser Klaviatur finden sich allein im deutschsprachigen Raum neben dem bereits bemühten rheinischen ‚Ping’, welches auch als ‚Koping’ oder ‚Buchping’ daherkommt, weitere, oft regional jeweils spezifisch eingefärbte schmerzensreiche Ausrufe, die da etwa lauten können: Au! oder Aua! Oder auch ‚Autschen’! Letzteres ist ein Ausruf der kultigen Kunstfigur mit der Lizenz zum „Maulwurfen“, die wir dem Puppenspieler René Marik verdanken.
Der Maulwurf weiß, etwa in der Rolle des Hamlet ebenso wie in der des Faust, gerade wegen seines Sprachfehlers zu sagen, wie er leidet. Dies geschieht aber nie ohne jene erfrischende und den geseufzten Ernst dekonstruierende, partielle Zurücknahme des Pathos. Meistens gelingt das dadurch, dass das tosende Lachen des Publikums von der Maulwurfpuppe aufgegriffen und in ein hallend-äffisches Echo verwandelt wird: „Ja ne, immer He, he, he, he“! Wer wollte da noch an der Berechtigung des Schmerzes und des ihn begleitenden „Autschens“ zweifeln, wo eine derart überzeugende Symbiose mit dem Humor gelingt? Und wer erkennt in eben diesem Humor nicht eine entfernte Ähnlichkeit zu jenem, den Texte der Moderne durch ihre jeweils relevanten pathetischen Figurationen hindurch von Nietzsche bis Jünger eben auch aufscheinen lassen?
Schmerz als Metapher
Die Antwort auf diese Frage, die den ersten, in die thematische Struktur unseres Buches einführenden Abschnitt beendet, ist leicht und führt zugleich in medias res, also von einführenden Kontextualisierungen mittels anderer Lektüren der Rezensentin zur nun enggeführten Lektüre des Buches von Elisa Primavéra-Lévi selbst.
Elisa Primavéra-Levi studierte in Berlin und Kopenhagen Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und promovierte an der University of Chicago mit einem Thema zu Schmerzdiskursen innerhalb von literarischen, philosophischen und physiologischen Zusammenhängen. Inwieweit es sich bei der vorliegenden Monografie um eine (überabeitete) Fassung eben dieser Dissertation handelt, konnte nicht geklärt werden. Die Verfasserin ist auch Chefredakteurin der renommierten Zeitschrift „Sinn und Form“ und im Moment Postdoktorandin am Konstanzer Graduiertenkolleg „Das Reale in der Kultur der Moderne“.
Die Autorin selbst kappt die Relation von ‚Schmerzen haben’ zu ‚darüber schreibend reflektieren’ und jene von ‚Schreiben als Prozess’ zu ‚Schreiben als Produkt’, um statt dieser Performanz die Metaphorik von Schmerz, wie sie sich bei verschiedenen Autoren der Moderne spezifisch finden lässt, in den Blick zu nehmen.
Anders als etwa Joseph Vogl, der in einem der Fernsehgespräche mit Alexander Kluge unter dem Titel „Ich habe Schmerzen, also bin ich“ als „Gegenpol von Schmerz“ nicht etwa „Freude, Vergnügen oder Spaß“, sondern „Apathie“ vorschlägt, versucht Primavéra-Levi Schmerz als Metapher ohne Bezug zu eventuell gegenläufigen anderen Metaphern innerhalb der jeweils relevanten Texte zu beschreiben. Daraus resultiert, dass die Autorin einen verkürzten Blick auf ihr Gegenstandsfeld wirft, der potentiell vorhandene textuelle Doppelspiele von vornherein ausblendet, mittels derer die Reichweite einzelner Thesen oder Tropen durch entgegengesetzte weitere Thesen oder Tropen, die sich zudem aller Dialektik versagten, postwendend eingeschränkt, wenn nicht gar ad absurdum geführt werden könnten.
Die Perspektive, von der aus die Kulturwissenschaftlerin auf ihr Gegenstandsfeld schaut, skizziert sie mittels eines Zitates in der Einleitung, also gleich im ersten Teilabschnitt des ersten von insgesamt sechs Kapiteln. Das erste Hauptkapitel trägt die vorausweisende Überschrift „Die deutsche Wendung zum Schmerz 1870-1945“. Die Einleitung lässt Primavera-Lévy mit Verweis auf den nach Ende des Ersten Weltkriegs publizierten Essay von Max Scheler beginnen, der bereits mit dem Titel „Vom Verrat der Freude“ die Hauptthese ankündigt. Danach könne man „den größeren Teil der deutschen Geistesgeschichte eines schweren Verrates: des Verrats an der Freude“ bezichtigen.
In Analogie zu Max Scheler begreift sie dann die von ihr berücksichtigten Werke als Textzeugen stilisierten Leidens, welches sie in Einklang mit Scheler auch als einen typisch deutschen Verrat darzustellen sucht. Anders jedoch als Scheler pointiert die Verfasserin noch deutlicher das Maskuline der Handschrift, die diese vermeintliche oder tatsächlich typisch deutsche Passion zum Jammern und Wehklagen stets trüge.
Zum Gegenstandsfeld zählen neben Nietzsches „Morgenröte“, „Die fröhliche Wissenschaft“ und anderen aphoristischen ‚Denkeraden’ des Philosophen, den die Verfasserin als „wichtigsten Schmerzdenker des 19. Jahrhunderts bewertet“, unter anderem auch dadaistische und expressionistische Prosa. Leonhard Frank etwa wird als messianischer Expressionist vorgestellt, in dessen Werk groteske Bilder, wie etwa der „Rumpf“ oder das „Unikum“ Schockwirkungen erzeugen sollen. Darüber hinaus ist die frühe Lyrik Franz Werfels ebenso präsent wie in Ernst Jüngers „Stahlgewitter“ oder „Der Kampf als inneres Erlebnis“.
Das Kapitel VI endlich, welches „Die Metapher Schmerz nach 1945“ skizziert, ist eine Art Ausblick, in dem prognostiziert wird, dass aufgrund der zunehmenden „Medikalisierung westlicher Wohlstandsgesellschaften“ Schmerz als Metapher eine immer geringere Rolle spielt und immer deutlicher als „Gegenspieler des Lebens“ und nicht als vitaler Katalysator kodiert erscheinen wird.
Alles in allem sind die Ergebnisse nicht wirklich neu, das Gegenstandsfeld ist jedoch außerordentlich beachtlich. Die stark verkürzte Perspektive, die der Konzentration auf den Schmerz als „Vielzweckmetapher“ geschuldet ist, so dass weder das textuelle Wechselspiel zwischen Metapher und metaphorischen Antagonisten in den Blick geraten kann, noch eben die Relationen zwischen Schmerz als physiologischem Wert, Schmerz als individueller Empfindung und Schmerz als Gegenstand rhetorischer Inszenierungen, eröffnet zudem eben auch nicht einen ganz anderen Blick auf Altbekanntes.
Eine der Hauptthesen von Elisa Primavera-Lévy, dass nämlich die Schmerzensmetaphern in philosophischen und literarischen Texten just in jenem Moment hoch im Kurs standen, als die ihnen korrespondierenden Schmerzensschreie innerhalb medizinischer Räume durch die Nutzbarmachung moderner Narkotika eine eher untergeordnete Rolle zu spielen begannen, ist ebenso Ansichtsache wie der zwischendurch immer einmal wieder vorgebrachte Verdacht, die behandelten Exponenten hätten dem modernen Bürgertum und seinen lebenserleichternden Errungenschaften hasserfüllt gegenübergestanden.
Durch den Wechsel der Perspektive lässt sich dann eben doch, wie ich eingangs am Beispiel des Schmerzpateinten Friedrich Nietzsche darzustellen suchte, zeigen, dass die berücksichtigten Schriftsteller nicht unbedingt immer unter Schmerzen litten, die durch Therapeutika behandelbar geworden wären und sich dieser Sedierung sozusagen heroisch leidend entgegenstellten, um Material für stilisierende Textspiele zu sammeln. Zudem zeigt ein Blick ins Register der Kritischen Studienausgabe, dass Schmerzensreiche im Werk Friedrich Nietzsches eher unter- denn überrepräsentiert sind.
Trotz dieser Kritikpunkte ist die Monografie recht lesenswert. Dies allein schon deshalb, weil sie dann doch in einem Kapitel durchaus Neues und außerordentlich Aufschlussreiches vorzustellen weiß. Unter dem Titel „Spiele auf der Schmerzskala“ wendet die Verfasserin sich der Poetik von Stanislaw Przybyszewskis zu. In diesem Teil ihrer Arbeit gelingt es Elisa Primavera-Lévy, einen im deutschsprachigen Kulturraum eher unbekannten polnischen Autor, der zu Beginn seiner Karriere in der deutschen Sprache schrieb und Mitbegründer der Zeitschrift Pan war, mit Hilfe seiner Texte innovativ zu porträtieren.