Jüdisch sein heute in Südamerika

Eine narrative Suche nach den Spuren jüdischer Vergangenheit bei Michel Laub aus Brasilien und Eduardo Halfon aus Guatemala

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Januar 2014 hatte Deborah Ferjencik, eine Spezialistin für jüdisch-amerikanische Literatur, in einem Essay über die zeitgenössische Jewish American Literature in dieser Zeitschrift geschrieben, dass das in den 70er Jahren von Literaturkritiker Irving Howe geäußerte Diktum, die jüdische Literatur in den USA werde bald verschwunden sein, sich als hinfällig erwiesen habe. Selbstverständlich, schrieb Ferjencik, „beschäftigen sich auch die geistigen Enkel der jüdischen Einwanderer, also die dritte Generation, mit ihrer Identität und ihrer Stellung in der amerikanischen Gesellschaft.“

Der entscheidende Unterschied hingegen sei, dass es den jungen Autorinnen und Autoren nicht mehr so sehr um Fragen der Assimilation und Eingliederung in eine fremde Gesellschaft gehe, wie das bei Roth und Bellow, aber beispielsweise auch bei dem jüdisch-brasilianischen Autor Moacyr Scliar der Fall ist, sondern vielmehr um die Frage, was es überhaupt für die dritte Generation noch heißt, ‚jüdisch‘ zu sein. Diese Diagnose lässt sich noch schärfer fassen, wenn man den Blick erweitert und die zeitgenössische jüdisch-südamerikanische Literatur mit einbezieht. Sowohl in Brasilien als auch in lateinamerikanischen Ländern lässt  sich seit einigen Jahren eine neue Erzählergeneration ausmachen, die, in dritter Generation von jüdischen Immigranten abstammend, die Frage stellt, was es heute bedeutet, ‚jüdisch‘ zu sein und inwiefern das in der gegenwärtigen brasilianischen oder lateinamerikanischen Gesellschaft noch eine Rolle spielt. Anders als in der nordamerikanischen Literaturlandschaft, die durch creative writing-Programme an Universitäten geprägt scheint, ist dieses jüdische Schreiben noch weniger schematisiert und standardisiert. Das lässt sich gut an zwei jüngst erschienenen Romanen eines brasilianischen und eines guatemaltekischen Schriftstellers sehen, die fraglos zu den besten Romanen der jüdischen Gegenwartsliteratur überhaupt gerechnet werden müssen.

Im vergangenen Jahr erschien anlässlich der Buchmesse in einer Übersetzung von Michael Kegler der Roman „Tagebuch eines Sturzes“ des Brasilianers Michel Laub, Jahrgang 1973. Wie es der Titel vermuten lässt, umkreist der Roman in tagebuchartigen narrativen Fragmenten ein einschneidendes Erlebnis des Ich-Erzählers Michel Laub, nämlich jenen Moment in seinem vierzehnten Lebensjahr, als er und ein paar jüdische Freunde auf der Feier eines nicht-jüdischen Mitschülers  diesen „Goj“ beim Hochleben einfach nicht wieder auffangen, was zu einer schweren Verletzung führt. Warum hat er, warum haben sie das getan, fragt sich Laub in seinem Tagebuch-Roman und erinnert sich – wieder und wieder. Schreibend erkennt er, dass der Sturz auch sein Sturz war, Auslöser für seinen Alkoholismus, für das Scheitern von zwei Ehen und möglicherweise auch der dritten. Und schreibend erkennt er, dass das Fallenlassen des nicht-jüdischen Mitschülers nicht zu trennen ist von der Geschichte seines Großvaters, der als Auschwitz-Überlebender nach Brasilien kam und sich hier ein neues Leben aufbaute, ohne jemals über seine Vergangenheit zu sprechen. Er gründete eine Familie, eine solide wirtschaftliche Existenz und tat so, als habe er seine Erinnerung an das Schreckliche in Europa gelassen. Und doch schließt er sich zeitweise tagelang in seinem Arbeitszimmer ein, schreibt wie besessen an Tagebüchern, die jedoch ausschließlich das neue Leben beleuchten und ausschließlich Positives berichten, alles Schlechte einfach aussparen. Es ist ein Nicht-Erinnern-Können, das den Großvater belastet und das er an den Sohn – den Vater des Ich-Erzählers – weitergibt: in dem Moment nämlich, als er sich das Leben nimmt. Sein Sohn ist zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt. Auch der Vaters des Erzählers erlebt also mit 14 Jahren einen Sturz, und auch ihn macht das Erlebnis unfähig zu erinnern, die spätere Alzheimer-Erkrankung steht sinnbildlich dafür.

Michel Laub gelingt es auf nicht einmal 200 Seiten auf eindringliche Art, die Lebensgeschichten von Großvater, Vater und Ich-Erzähler stetig ineinander- und durcheinanderlaufen zu lassen, indem er Tagebuchpassagen des Großvaters in seinen Text montiert, Erinnerungsfetzen des Vaters und litaneiartig wiederholte Rückblenden auf den Sturz und die darauf folgenden Ereignisse aufeinanderfolgen lässt. Sein Roman ist nicht frei von Ironie, er ist innovativ erzählt und dennoch weit davon entfernt, wie ein den creative-writing-Seminaren entsprungener tragikomischer coming-of-age-Roman nordamerikanischer Prägung im Stile von Safran Foer zu klingen. Am Ende bleibt offen, wie autobiographisch der Roman wirklich ist, wieviel von Michel Laub im Erzähler steckt, es bleibt offen, warum genau man den Jungen fallenließ, genauso offen, wie die Frage, wie der Großvater Auschwitz überlebte und warum er sich schließlich umgebracht hat. Es geht Laub in seinem „Tagebuch“ weniger um die wahre Erinnerung, es geht vielmehr um den Prozess des Erinnerns und das Erzählen davon.

Ganz ähnlich nähert sich Eduardo Halfon in seinem jetzt im Hanser-Verlag erschienenen Roman „Der polnische Boxer“ der Frage des Erinnerns. Halfon, Jahrgang 1971, ist in Guatemala als Sohn jüdischer Eltern geboren, er studierte in den USA Ingenieurwissenschaften, unterrichtete zwischenzeitlich als Professor für Literatur in Guatemala Stadt und lebt heute in Nebraska. 2007 wurde er auf dem Hay-Festival in Bogotá als einer der besten lateinamerikanischen Schriftsteller der jungen Generation geehrt. „Der polnische Boxer“ ist das erste Buch von Halfon, das nun auf Deutsch erscheint.  

Auch hier steht die Geschichte des jüdischen Großvaters und Auschwitz-Überlebenden im Fokus, denn auch hier möchte der Ich-Erzähler, Eduardo Halfon, wissen, was es mit der auf den Arm seines Großvaters tätowierten fünfstelligen Nummer auf sich hat. Als Kind in dem Glauben gelassen, dass es sich dabei um die Telefonnummer des Großvaters handele, erkennt Halfon als Erwachsener, dass sich hinter der Nummer eine Geschichte, ein unvorstellbares Schicksal, ein Stück jüdische Geschichte und damit ein Stück seiner eigenen Herkunft verbergen muss. In zehn Kapiteln kreist der Roman nun um diese Nummer, um das Überleben des Lagers in Auschwitz, ohne jedoch explizit darüber zu sprechen. Eduardo will von seinem Großvater erzählen, erzählt aber hauptsächlich von sich. Um zur Erinnerung des Großvaters vorstoßen zu können, scheint es, muss er erst an sich selbst vorbei. In „Der polnische Boxer“ geht es weder um das Boxen noch um einen polnischen Boxer, es geht um die Frage, wie sich die Geschichte von Halfons Großvater und seinem Überleben erzählen lässt, ob sie sich erzählen lässt und ob sie überhaupt erzählt werden muss. Der polnische Boxer kommt, obwohl titelgebend, in dem Text kaum vor, nur an zwei Stellen, und doch ist er ständig präsent. Genauso kommt der Aufhänger des ‚Romans‘, nämlich die Geschichte des Überlebens des Großvaters zu erzählen, kaum vor und ist doch ständig präsent. Klar wird nur, dass der polnische Boxer mitgeholfen hat, dass Eduardos Großvater das KZ überleben konnte, wie genau und warum, das bleibt verborgen. Letztlich bleibt auch unklar, ob die Geschichte mit dem polnischen Boxer überhaupt stimmt, aber es ist dieser besondere Status der Unsicherheit, der die Brüchigkeit der Erinnerung besonders fassbar macht. Halfons Roman, der vielleicht besser als Erzählungs-Zyklus zu bezeichnen wäre, erzählt daher auch keine kohärente Geschichte. Er erzählt von Eduardos Suche nach einem verschwundenen Studenten genauso wie von einer Reise nach Serbien, um einen Pianisten zu finden, den er in Guatemala kennengerlernt hatte, von einem seltsamen Mark Twain-Kongress in den USA und schließlich vom Tod des Großvaters. Im Hintergrund jedoch stehen immer die fünfstellige Nummer und das Geheimnis, das sie hütet. „Gern hätte ich ihn gefragt“, schreibt Eduardo nachdem ihm sein Großvater eröffnet hat, dass die Nummer aus Auschwitz stammt, „wie es war, nach fast sechzigjährigem Schweigen auf einmal etwas Wahres über den Ursprung dieser Zahlen zu sagen.“

Genau wie Laub lässt Halfon offen, wieviel Autobiographisches in seinem Text steckt. Immer wieder lässt er Figuren aus früheren Erzählungen wieder auftauchen und verschwinden, versteckt in scheinbar realistischen Episoden intertextuelle Anspielungen und spielt mit Legenden und Mythen. Damit wird sein Roman zu einem Gewebe aus literarischen und autobiographischen Episoden, die unentwirrbar ineinander verstrickt sind – genau wie die Fragen der Erinnerung und des Erinnerungsprozesses in den Text eingewoben sind. Damit stellt Halfons Roman also auch formal letztlich etwas aus, das so schon Michel Laub thematisiert hatte und das sich als zentraler Topos der jüdischen Literatur der dritten Generation erweisen wird: Beim Erinnern geht es weniger darum, die Fakten korrekt und kohärent zu rekonstruieren, sondern um den Prozess des Erinnerns selbst. Jedes Erinnern bedingt ein Vergessen und dieses Vergessen fordert neues Erinnern heraus – was letztlich ein unabschließbarer Prozess der Selbstvergewisserung ist. Für die dritte Generation mag es scheinen, als ob alles bereits erzählt und die Fakten verfügbar gemacht worden seien, doch es ist der Prozess des narrativen Erinnerns, der die eigene Identität bedingt und die Selbstvergewisserung als Jude möglich macht.

Beide Romane, „Der polnische Boxer“ genauso wie „Tagebuch eines Sturzes“, stellen einen eigenständigen, südamerikanischen Strang der jüdischen Literatur der dritten Generation dar. Mit ihren innovativen Erzählverfahren, dem nicht postmodern-spielerischen, sondern funktionalisierten und wirkungsvollen Changieren zwischen autobiographischen und fiktionalen Elementen, ihrer radikalen Thematisierung des Erinnerungsprozesses und der immer deutlichen kritischen Komponente in der Auseinandersetzung mit dem Judentum und dem jüdischen Selbstverständnis im Exil 70 Jahre nach Auschwitz sind sie nicht nur literarisch anspruchsvoll und ästhetisch bedeutsam, sondern auch gesellschaftlich relevant. Die Romane sind, was die Texte von Roth und Bellow waren, literarisch engagierte Beiträge zu gesellschaftspolitischen Debatten und damit im besten Wortsinne wirklich bedeutende Literatur.         

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Michel Laub: Tagebuch eines Sturzes. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013.
176 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783608939729

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Titelbild

Eduardo Halfon: Der polnische Boxer. Roman in zehn Runden.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen und Luis Ruby.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
224 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446245990

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