Die Wiederkehr des Autors

Der Dichter Botho Strauß schreibt über seine Heimat und seine „Herkunft“

Von Helga ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helga Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erzähler des neuen Buches Herkunft von Botho Strauß beschreibt zunächst einen arbeitenden Vater am Schreibtisch, der von dem Kind, das sich in der Wohnung aufhält, nicht gestört werden darf. Erst auf der zweiten Seite wechselt der Erzähler die Perspektive, indem er den Vater mit „mein Vater“ betitelt. Obwohl nur wenige Fakten aus dem Leben von Strauß bekannt sind, wird häufig erwähnt, dass sein Vater freiberuflich für Arzneimittelfirmen arbeitete und Bad Ems eine wichtige Lebensstation für Strauß darstellt. Die kleine Kurstadt, die durch einen Fluss in der Mitte getrennt wird, wird in seinen Texten immer wieder beschrieben. Auch das große Hotel, in dem er sechzehn Jahre seines Lebens verbrachte, spielt in einigen seiner Schriften eine wichtige Rolle. Die genauen Daten und Raumbeschreibungen lassen keinen Zweifel aufkommen: Der Ich-Erzähler gibt biografische Fakten und Erinnerungen aus dem Leben des Autors preis. Botho Strauß, der es lange Zeit abgelehnt hat, dass sein Werk mit seiner Person in Zusammenhang gebracht wird und deshalb nur wenig über sein Leben an die Öffentlichkeit weitergegeben hat, veröffentlicht kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag autobiografische Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, seine Eltern, seine Kameraden, die Lehrer und die Orte, die ihn beeindruckt haben. Der Autor, der in der Literaturtheorie seit den siebziger Jahren immer wieder für unwichtig erklärt wurde, kehrt in die Literatur zurück. Der neue Schriftsteller inszeniert seine Person literarisch; er nimmt seine Person in die Dichtung hinein, indem er seine Erinnerungen wachruft und die Personen der Kindheit in einen ästhetischen Rahmen setzt.

Im Mittelpunkt steht der Vater, dessen Auftreten, Arbeit und Verhalten ihn dahingehend geprägt haben, Schriftsteller zu werden: Der Vater sitzt den ganzen Tag am Schreibtisch; er arbeitet an einem Werk; er verehrt Schriftsteller und schreibt selbst ein ausgefeiltes, überschmücktes Deutsch. Aber der Vater konnte auch ein sehr „sicheres, gewandtes und unmanieriertes, sehr ansprechendes Deutsch“ in seinen Briefen verwenden. Großen Wert legt der Vater auf ein gepflegtes Äußeres, das dem Kind außergewöhnlich und etwas zu vornehm erscheint: „In den Krawattenknoten wurde eine Nadel mit Perle gesteckt.“ Außerdem wird der eng geregelte Tagesablauf des Vaters detailliert beschrieben und durch ein allgemeines Konzept legitimiert: „Die Behausung und die bergenden Zeremonien, sie sind für den einzelnen zuweilen das, was die Institutionen für die Gemeinschaft bedeuten: diese Regeln, die man durchaus nicht als leer ansehen mag, da sie offenkundig die Selbsterhaltungskräfte stärken.“

Das Präteritum, in dem die Tagesläufe dargestellt werden, wechselt an Stellen besonders positiver Erinnerungen in das Präsens. Autor, Erzähler und der längst verstorbene Vater befinden sich in der Gegenwart, sind wieder auf einer Ebene präsent. Der Heimatort des Vaters, Merzig im Saarland, sein Beruf und die Gründe für das Weggehen aus Naumburg im Osten Deutschlands werden erläutert; die Arzneifabrik, in der der Vater Teilhaber war, wurde enteignet; der Vater musste sogar ins Gefängnis und er wollte nicht, dass sein Sohn unter Kommunisten aufwachse.

Die äußere Haltung des Schriftstellers, tief gebückt über seinen Heften, teilt der Sohn mit dem Vater. Aber die Schriften des Vorfahren möchte er nicht lesen, seine Ansichten findet er reaktionär. Obwohl gesagt wird, dass der Vater ihn zum Lesen erzogen hat, entwickelt der Sohn schon sehr früh eigene Leseinteressen: Bertolt Brecht, Paul Celan, Ernest Hemingway, Paul Verlaine und Tennessee Williams.

Es sind die äußeren Formen, auf die der Vater Wert legt. Diese sind für ihn wichtig: „Für ihn bestand die halbe Welt aus Comment, auch die Ansichten waren nicht die Hauptsache, schon gar nicht die ‚Gefühle’. Es war vielleicht überhaupt eher ein artifizielles Verständigungsritual, diese letzte Bürgerlichkeit, als ein Programm sittlicher Werte.“ Gerade diese zwecklosen Äußerlichkeiten verbinden den Vater mit der Welt der Ästhetik, die am Schluss des Textes in der Form eines Briefbeschwerers, der auf dem Schreibtisch des Vaters liegt, symbolisiert wird. Der Briefbeschwerer ist etwas Lebloses und er gehört zu den Dingen, „deren Zweck geringer wiegt als die Form, die mithin in das ästhetische Kraftfeld des Menschen eingedrungen sind.“ Die „Nutzbestimmung“ macht den Gegenstand nur im Geringsten aus. Leicht kann der reine Zweck von anderen Gegenständen übernommen werden, aber der Briefbeschwerer selbst kann nicht für anderes benutzt werden. Die Ästhetik ist das, was alles zusammenhält. Sobald die Zettel, die der Beschwerer festhält, sich vereinzeln, bleibt nur noch Gerümpel, wie von einer Wohnung, die aufgelöst wird.

Die Eltern, die Wohnung in dem alten Hotel Wiesbaden, die Schule, das Städtchen Bad Ems und die Gegend um die Kurstadt werden als das Zuhause bezeichnet. Erinnerung und Gedächtnis an Vergangenes gewinnen ab einem gewissen Alter einen anderen Stellenwert: „Das Gedächtnis ist eine Variable der Sehnsucht, so daß Fernweh und Heimweh, Erwartung und Erinnerung in ein und demselben ‚Enzym’ des Unerreichlichen symmetrisch angeordnet sind.“ Das ganze Buch ist eine Spurensuche nach der Heimat, die aber nicht abgeschlossen werden kann. Die Vergangenheit ist ein „unbezwingliches Reich, das keine Aufklärung je erobern könnte.“ Als Vergleich zur Vergangenheit kann man den Fluß, der durch die Kurstadt fließt, heranziehen: „Er ist und bleibt deine Zeit, dein Zuhause, dein Ort, deine Grenze. Ein Fluß fließt nicht weg. Nur das, was er trägt, kommt und geht.“

Botho Strauß’ Erinnerungen sind neu und ganz anders als das, was er bisher geschrieben hat, weil die Erinnerungen sich an Fakten und Daten orientieren, die zum Leben des Autors gehören. Reale Gegenstände und Personen werden in einem warmen Licht dargestellt und mit erfundenen und vergangenen Gestalten vermengt, so dass die gewesene Realität, die Vergangenheit vor der eigenen Zeit und die ästhetische Erfindung zu einem Ganzen werden, das untrennbar miteinander verknüpft ist. Die eigene Erinnerung kann nur in Form eines ästhetischen Gebildes, wie es hier geschieht, gestaltet werden.

In diesen Erinnerungserzählungen werden die Begriffe Zuhause und Heimat in neuen Dimensionen durchdacht und gestaltet. Wichtige Erinnerungsdaten sind zunächst 1960 vor dem Geburtshaus des Vaters in Merzig, wo dem Erzähler aufgrund seiner Jugendlichkeit die Bedeutung, die dieser Besuch für den Vater hat, noch nicht klar ist. 1971 als der Vater stirbt, ist ihm noch nicht die Tragweite des Todes bewusst, erst 1990 zum hundertsten Geburtstag des Vaters werden die Erinnerungen zum wichtigen Teil des eigenen Lebens. Ein weiterer Zeitpunkt, von dem die Erinnerung rückwärtsgeht, ist 1996, als die elterliche Wohnung aufgelöst wird und somit die äußerlichen Anhaltspunkte des Zuhauses verlorengehen.

Auch wenn die Gegenstände nicht mehr da sind: Zurück bleibt das Buch Herkunft, das die Wurzeln eines schreibenden Menschen aufzeigt. Es beleuchtet in einer unnachahmlichen Form und mit einem außergewöhnlichen sprachlichen Ausdruck, wo der Dichter Botho Strauß herkommt. Der Text beginnt am Schreibtisch des Vaters, er schlägt einen Bogen über die Erinnerungen des Autors und endet wieder beim Schreibtisch des Vaters, auf dem der Briefbeschwerer gelegen hat und noch liegt. Der Briefbeschwerer hält die Notizen zusammen, so wie das Ich die Erinnerungen bindet, die durch die Wohnung und deren Zimmer wachgerufen wurden. Im letzten Satz wird ein Blick in die Zukunft geworfen: Das Zuhause wird aufgelöst werden.

Titelbild

Botho Strauß: Herkunft.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
96 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783446246768

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