Wir warten auf unsere Hinrichtung

Thomas Melles zweiter Roman „3000 Euro“ schafft es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis

Von Emily JeuckensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Emily Jeuckens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erzähler zoomt nah heran, hinein in die ignoranten Massen, die Pornosüchtigen, die Amphetamin-Zerstörten, die Verschuldeten. In 3000 Euro von Thomas Melle liegen zwei besonders gescheiterte Figuren auf dem moralischen Seziertisch: Anton, den eine manische Episode am Staatsexamen hinderte und in den finanziellen Abgrund trieb. Denise, eine alleinerziehende Pornodarstellerin auf Speed. Natürlich werden die beiden eine Beziehung beginnen, natürlich wird sie scheitern, natürlich wird die finanzielle Last auf den Schultern von Tag zu Tag schwerer.

Der zweite Roman des jungen Dramatikers Melle folgt auf Sickster, sein sprachgewaltiges Debüt, das sich schonungslos mit gescheiterten Selbstansprüchen zweier junger Männer in den Coming-of-Age-Jahren beschäftigte. Warum der klügere und anspruchsvollere Erstling es im letzten Jahr nur auf die Longlist des Deutschen Buchpreises brachte, während es nun 3000 Euro unter die letzten Sechs geschafft hat, bleibt bei der Lektüre schleierhaft.

Das Nirvana-Zitat „You can’t fire me because I quit“ ist dem Roman als Motto vorangestellt, doch wer feuert und wer wird gefeuert in 3000 Euro? Von Ausgestoßenen will der Roman erzählen, von Gescheiterten, die sich jenseits der öffentlichen Wertschätzung durchschlagen. Wurden Anton und Denise gefeuert, aus der Gesellschaft der Produktiven und Einflussreichen einfach entlassen, oder sind sie erhobenen Hauptes gegangen? Diese Frage umkreist den Roman, wird jedoch inkohärent behandelt.

Protagonist Anton hat alles verloren – seine Kreditwürdigkeit und zugleich sein Dach über dem Kopf. Seine Kommilitonen aus dem Jurastudium sind ihm längst entwachsen. Ihm bleiben ein Zimmer in einem Heim für Wohnungslose und ein Handy ohne Guthaben. Dreitausend Euro Schulden haben sich bei seiner Bank angesammelt, kann er die Summe nicht aufbringen, kommen Verwaltungs- und Prozesskosten hinzu und als letzte Rettung bleibt die Privatinsolvenz.

Die titelgebende Summe verfolgt Anton bei jedem Schritt, sie bedeutet Rettung und Abgrund zugleich: Sie markiert den Durchschnittsbruttolohn eines deutschen Arbeitnehmers und doch kann kaum jemand ohne größeren Aufwand über sie verfügen. Für den Protagonisten ist sie horrend und doch das kleinere Übel im Vergleich zu dem, was ihn nach dem Prozess erwarten wird. Abgestumpft und verzweifelt wandert er durch Hamburg, investiert geschenktes Geld in Sekt und wartet auf die Hinrichtung.

Protagonistin Denise wartet nicht mehr, sie handelt. Um sich eine Reise nach New York zu finanzieren dreht sie einen Pornofilm und bekommt nach Gehaltsverhandlungen jene dreitausend Euro, die bei Anton so dringend fehlen. Doch anstelle der roten Zahlen auf dem Konto verfolgen sie nun die Augen ihrer vermeintlichen Zuschauer, Widerwillen über die Entwicklungsstörungen ihrer Tochter und daraus resultierender Selbsthass. Um den Alltag zu überstehen, lässt sie sich von ihrem Exfreund mit Amphetaminen versorgen, die Nächte verbringt sie mit verschiedenen Bekanntschaften, die via Kurznachrichten für gemeinsame Stunden akquiriert werden.

Eine große Liebesgeschichte findet nicht statt: Für Anton ist die Romanze die Ruhe vor dem Sturm, für Denise eine willkommene Abwechslung. Das größte Kompliment, das man sich am Ende machen kann, ist, dass man sich nicht vergessen hat.

Wie bereits in seinen Theatertexten, für die er den Franz-Hessel-Preis erhalten hat, zelebriert Melle auch hier eine in hohem Maße bildhafte Sprache, die nichts als allgegenwärtige Gefahr und Hoffnungslosigkeit vermittelt. Ihre kunstvoll-rohe Kälte lässt den Leser erschaudern, bleibt jedoch als Unterton der Erzählstimme seltsam losgelöst von den Protagonisten. „Sie schrubbt sich die Zähne, bis das Zahnfleisch blutet, spuckt rote Muster ins dreckige Becken“, ist ein Satz, der Charakteristik und Sprachgestus der Figuren widerspricht, die ihrerseits stets in schlichten Ein- bis Dreiwort-Dialogen kommunizieren: „Wie geht’s dir?“ – „Zu spät“ – „Wofür?“ – „Termin“.

Der scharfe Ton des Erzählers bricht konstant den Vertrag zwischen Leser und Roman: Weder vertraut man seiner Kenntnis über die Handelnden, die er mit Kälte und Langeweile betrachtet, noch kann ihn der Leser als moralische Instanz akzeptieren, wenn die Erzählstimme mit klinischer Lakonie das Schicksal der Beiden kommentiert. Die unstimmigen Gefühle der Protagonisten und die ins Leere laufen Handlungsstränge sind zwei wesentliche Faktoren, die für Verständnisprobleme sorgen. Warum unterstellt Denise allen ihren männlichen Bekanntschaften, sie als Sexobjekt zu sehen, außer denjenigen, die sie tatsächlich so behandeln? Warum beginnt Anton eine „Karriere“ als Straßenmusiker, die einen kleinen Erfolg verspricht, im Verlauf des Romans aber nicht wieder aufgegriffen wird?

Ein dritter Kritikpunkt sorgt jedoch für größte Schwierigkeiten bei der Lektüre des Romans. Das Leid der Protagonisten, ihre Hilflosigkeit einem mahlenden Bürokratiesystem gegenüber (Antons Bemühungen zur Resozialisierung einerseits, Therapien und Arztbesuche bei Denises Tochter andererseits) und die Gratwanderung am Rande der Gesellschaft mögen korrekt dargestellt sein. Doch der Erzähler begeht den kapitalen Fehler, dem Leser zu unterstellen, das selbst nicht zu bemerken und die Geschichte durch moralisierende Seitenhiebe und plumpe Klischees anzureichern (‚Denise’ – man bedenke die Namensgebung – ist obendrein Pennykassiererin und Bushidofan). „Die Naivsten werden schnell zu den schlimmsten Sadisten. Alles nur unter dem Mantel der Anonymität“, wird man da aus dem Off heraus belehrt. Stets schwingt die Stimme der Moral mit, die erklärt, man dürfe die Protagonisten wegen ihrer Handlungen, zu denen die Gesellschaft sie zwinge, keinesfalls verurteilen. Dabei erfolgt das schlimmste Urteil über Denise und Anton im Roman selbst: indem man sie zu lächerlichen Abziehbildern zweier „Gescheiterter“ ernennt und gewissenhaft klarstellt, dass man auch unterhalb des Mindestlohnes ein Anrecht auf Gefühle habe. Der Erzähler ist offenbar der einzige, der das anzweifelt.

Wenn der Deutsche Buchpreis 2014 an Thomas Melles 3000 Euro geht, dann zurecht für eine kühne, metaphernreiche Sprache, die der Autor seit einer Erstpublikation vor zehn Jahren (Vier Millionen Türen, Deutsches Theater Berlin) pflegt und weiter auslotet. Auch für den Mut, zu zeigen, wie an einer vermeintlich kleinen, dem Durchschnittslohn entsprechenden Summe eine ganze Existenz scheitern kann. In der hypothetischen Laudatio sollten allerdings die Figuren Denise und Anton unerwähnt bleiben, die von ihrem literarischen Schöpfer ebenso schlecht behandelt werden wie von der Gesellschaft: Als Gescheiterte, die den (mutmaßlich) nicht ganz so Gescheiterten zur Belustigung und zur Rückversicherung der eigenen (mutmaßlichen) Überlegenheit dienen. Unweigerlich fühlt man sich an sozial-voyeuristische Reality Shows im Nachmittagsprogramm privater Fernsehsender erinnert, die den Zuschauer mit dem Versprechen locken: Schlimmer geht’s immer.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Thomas Melle: 3000 Euro.
Rowohlt Verlag, Berlin 2014.
206 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347771

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