Ziel- und zeitlose Streifzüge durch Berlin

Feridun Zaimoglus „Isabel“ – ein kleines Monument für eine große Stadt

Von Lisa EggertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Eggert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wäre Feridun Zaimoglus Roman Isabel nicht nur knappe 240 Seiten schmal, man würde ihn ein Monumentalwerk nennen. So wie man sich in der deutschen Hauptstadt ohne Stadtplan verlaufen und dabei in jedem der verschiedenen Stadtteile eine neue Welt entdecken kann, streift man auch mit der Protagonistin durch eine vielschichtige Erählung. Der Stadtbahn gleich, die einen beinahe unbemerkt von Charlottenburg nach Neukölln, Kreuzberg, Marzahn oder Mitte befördert, treibt dieser Roman seinen Leser völlig unaufgeregt durch die Genres. Man beginnt mit einer Sozialstudie über das erfrischend „un-hippe“ Berlin, gleitet sanft in eine Geschichte von Migration und verlorener Heimat und wird zum Schluss in die wilde Hetzjagd eines Psychothrillers geworfen. Die ganze Zeit begleitet man die Protagonistin Isabel, ähnlich ihrer kleinen Hündin Ruby, auf Schritt und Tritt.

Isabel ist das Gegenteil des Berliner Hipster-Mädchens, das in der Hauptstadt das gelobte Land all derer sucht, die sich mit einem Projekt, das ‚irgendwas mit Kultur zu tun’ hat, verwirklichen wollen. Vielleicht war sie das mal. Zumindest flüchtet sie aus der schicken Wohnung ihres „gewesenen Freundes“ in einen Plattenbau am Alex. Von dort aus geht sie die Wege derjenigen, denen Jutetaschen, Vollbärte und Hornbrillen völlig egal sind, streift von einer Armenspeisung zur nächsten. Sie begegnet alten Bekannten und guten Freunden, allesamt schillernde aber auch gebrochene Figuren. Verhinderte Modedesignerinnen, Transvestiten, die sich unter der Hochbahn anbieten und am Leben gescheiterte Flaschensammler und Bettler. Der Selbstmord ihrer Freundin Juliette wabert wie ein grauer Nebel über ihre Streifzüge und verdichtet sich, als plötzlich der Ex-Freund der Toten an Isabels Tür klingelt. Marcus, der Soldat a.D., weiß noch nichts vom Tod der mageren, labilen Frau. Um mehr herauszufinden suchen Isabel und der Soldat Juliettes Bruder auf. Mit dem Eindruck, den dieser Mann auf sie macht, hatte die Protagonistin nicht gerechnet: „Die Tür wurde aufgerissen. Er. Der Weichmacher. Der Seelenspalter. Isabel wurde übel, als sich sein Gesicht beim Lächeln verzog. Sie lief den Männern davon“. Sie läuft sogar recht weit davon, zu ihren Eltern in die Türkei. Ihre Mutter, die das Leben der Tochter als Marginalisierte im fernen Berlin nicht ertragen kann, will sie nun gut verheiraten. Beinahe märchenhaft mutet die Parade der drei Bewerber an und fast wünscht man, Isabel würde den dritten Freier wählen und ein glückliches orientalisches Leben führen mit honiggetränkten Süßigkeiten und schwarzem Tee aus verschnörkelten Gläsern. Aber die junge Frau mag sich nicht fügen, ist diesem Land, das ihre Familie selbst als kaukasische Flüchtlinge aufgenommen hat, fremd geworden. So kehrt sie zurück in das Berlin der „Faulen und Verwahrlosten“.

„Soldat“ hat in der Zwischenzeit versucht mehr über Juliettes zwielichtigen Bruder herauszufinden. Patrick, „das Schwein“, scheint ein betrügerischer Kleinkrimineller mit Hang zum Sadismus zu sein. Über Isabels Kontakte zur Künstlerszene – hier deutet sich nun doch ein kurzer Blick auf das hippe Berlin an – kommt das ungleiche ‚Ermittler-Duo’ langsam dahinter, wie weit die Grausamkeiten „des Schweins“ gehen und was er mit Juliettes Tod und dem Verschwinden von ihrem und Marcus‘ neugeborenem Kind zu tun hat. Schnell wird klar, dass Patrick alles andere als harmlos, sondern vielmehr ein amtlicher Psychopath ist, der Isabel um neuntausend Euro erpresst. Wenn Isabel irgendetwas wirklich nicht hat, dann ist es Geld – und so fürchtet der Leser am Ende diese Protagonistin, der er im Laufe des Romans nicht wirklich näher gekommen ist und die er dennoch lieb gewonnen hat, an „das Schwein“ zu verlieren. Das fast unmögliche Happy End wird dann doch von der unwahrscheinlichsten Gestalt herbeigeführt, die man sich für solch eine Heldentat vorstellen kann: Helga, die scheinbar verrückte Flaschenpflückerin, sorgt lakonisch für Gerechtigkeit. „Am Tisch saß reglos Patrick, Kopf leicht gebeugt über einer Porzellantasse. Schaum an den Lippen. Erbrochenes am Hemd. Mund wie Schlitz. ‚Ist entschlafen‘, sagte Helga, ‚trank meinen Kräutertee und starb.‘“

Mit diesem 2014 bei Kiepenheuer&Witsch erschienenen Roman ist Feridun Zaimoglu ein Glanzstück gelungen. Die Geschichte einer Frau, die gleichzeitig die einer riesigen Stadt, die einer ganzen Gesellschaft ist. Isabel zeigt die dunklen Winkel Berlins genauso wie die menschlichen Abgründe in den gepflegten Vororten, berichtet von Schuld ebenso wie von Heimatlosigkeit und weiß dabei noch zu unterhalten. Fast mühelos gleitet der Leser aus der Armenspeisung in die traumatischen Erinnerungen an den Kosovo-Krieg, zurück auf die Straßen Berlins zu den Strichjungen, hinüber in eine Türkei zwischen gestern und morgen und von da aus in ein unklares Räuber-und-Gendarm–Spiel im feinen Tegeler Hafen.

Die Frage nach der Motivation der Protagonisten stellt sich erst im Nachhinein. Vielleicht weil Handlungsmotivation und planvollem Handeln schon auf den ersten Seiten eine Absage erteilt wird. Wer lebt wie Isabel, braucht keinen Plan, kann keine Pläne machen. Den Takt des Lebens geben die Öffnungszeiten der sozialen Einrichtungen vor und die skurrilen Gelegenheitsjobs – etwa als stille Beisitzerin beim Sex eines nach außen sehr bürgerlichen Ehepaars. Wie die Hündin Ruby folgt man einfach, ohne Fragen zu stellen. Vielleicht ist es das, was diesen kaleidoskopartigen Roman zusammen hält. Wenn man nichts plant, wird alles möglich und alles passt in den Nicht-Plan. Eigentlich eine schöne Aussicht, in Zeiten, in denen man das eigene Leben immer weniger planen kann und gleichzeitig möglichst für jede Eventualität eine Zusatzversicherung abschließt.

Darüber hinaus besticht der Text, der auf der Longlist des diesjährigen deutschen Buchpreises stand, durch eine trockene Sprache, deren elliptische Aufzählungen den Hauptstadtspaziergang ins Stroboskoplicht tauchen: „Starrte blind in die Nacht hinaus. Blind war richtig. Blind an der falschen Station aussteigen. Blind durch die Straßen treiben. Blind auf der Caféterrasse unter der Markise sitzen.“ Der Erzähler geleitet, wie es die wenigsten Stadtführer tun, ohne Pathos und Nostalgie durch diese Geschichte, die sich dankenswerter Weise auch jeden Sozialkitsch spart. Einfach ein schönes Buch.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Feridun Zaimoglu: Isabel. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
240 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462046076

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