Der Sexappeal der Zwanziger Jahre
Das Juni-Magazin präsentiert Materialien zu Polly Tieck und zu Wirtschaftsdiskursen der Weimarer Republik
Von Bernd Blaschke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit gut 25 Jahren überrascht das Juni-Magazin für Literatur und Kultur mit Wiederentdeckungen von Texten oftmals vergessener AutorInnen der ersten Jahrhunderthälfte. Trotz mehrfacher Verlagswechsel ist dieses Publikationsorgan mit Schwerpunkt auf versteckten Kulturblüten der Weimarer Republik nunmehr beim Doppelband 47/48 angekommen, der wie gewohnt eine so üppige wie anregende Mischung von Essays zu einem Schwerpunktthema und darüber hinaus Neudrucke wenig bekannter Autoren bietet. Neben einem bisher unpublizierten Brief Hermann Ungars, dessen reiche Kommentierung durch Gregor Ackermann und Hartmut Vollmer nicht nur die Lebenssituation des Autors sondern auch einen Mordfall und Justizskandale der Zeit beleuchtet, ist es vor allem die deutsch-jüdisch Feuilletonautorin Polly Tieck (1893–1975?), der hier auf 60 Seiten eine formidable Hommage ausgerichtet wird. Gut 30 Seiten davon versammeln eine (von Anne Martina Emonts und Gregor Ackermann zusammengetragene) Bibliografie zu ihren mehr als 400 Zeitungstexten von 1925 bis 1945 – wobei ihre vielfältige Publizistik mit der erzwungenen Emigration 1933 fast völlig versiegt. Im chilenischen Exil arbeitete sie als Textildesignerin und Kleiderverkäuferin; schon für Ullstein hatte sie um 1930 Texte über selbst zu schneidernde Kostüme verfasst.
Polly Tieck war ein Pseudonym von Ilse Ehrenfried, die in erster Ehe Falkenfeld und in zweiter Ehe Ilse Aufrichtig hieß. Als zusätzliche Publikationsnamen verwendete sie die sprechenden Namen Katta (oder Polly) Launisch und (wie erst jüngst entschlüsselt) auch Lieschen Lassdas. Sie schrieb Gedichte, Kurzerzählungen und Feuilleton-Glossen, die in Ton, Haltung und Humor mit Irmtraud Keun, Kurt Tucholsky oder Erich Kästner vergleichbar sind. Sie konnte diese in den führenden Zeitungen der Zeit veröffentlichen, so in der Vossischen Zeitung, im Querschnitt, Börsen Courier, der B.Z. am Mittag, im Prager Tagblatt und der innovativen Ullstein-Zeitung Tempo.
Das Juni-Magazin publiziert nun einen kleine Auswahl an Wiederabdrucken ihrer Gedichte und Prosa, die mit melancholisch grundierter Ironie auf Verlockungen und Herausforderungen der Moderne reagierten: autofahrende Frauen, Geliebte des eigenen Geliebten, Gefühle der Sekretärinnen, die imaginierte eigene Beerdigung, der Charme blonder Männer. In einem ihrer bekanntesten Texte, „Was macht die Frau, wenn sie allein ist“, antwortete Polly Tieck 1926 genderbewusst auf jenen Essay Kurt Tucholskys, der das Rätsel zu lösen versprach, was ein Mann anstelle, wenn er allein sei. Die Lasten und Lüste des Ehe- und Beziehungslebens waren ein Hauptthema der eifrigen Publizistin, ein frivoles Kampfgebiet der Moderne, das die Autorin mit leichter Hand und untergründiger Kritik an unvollkommenen Geschlechterverhältnissen pointiert kommentierte.
Der heute am frischesten und unmittelbarsten wirkende Text unter den hier neu gedruckten ist das lustige Gedicht „Ich sexappeale, du sexappealst – Konjugation“. Das holprig gereimte Poem ist originell und komisch, indem es allerlei menschliches Verhalten in der ersten, zweiten und dritten Person als Ausdruck aktiver Attraktivitätsperformances mit sexuellen Hinterabsichten dekodiert, um schließlich (biologisch ja gar nicht abwegig) noch den Frühling und seine Blumenblütenpracht in ihren wahren Absichten zu outen: „sie sexappealen“. Sprachgeschichtlich festzuhalten ist, dass dieses Gedicht aus dem Jahr 1930 (damals publiziert in Ullsteins moderner Zeitung „Tempo“) ganz offensichtlich die Verbreitung dieses Anglizismus‘ indiziert – der als neues Modewort gerade Konjunktur hatte. Die deutsche Wikipedia behauptet in ihrem Artikel zum Sexappeal derzeit: „Der aus dem Englischen übernommene Begriff fand seine Verbreitung in Deutschland mit der zunehmenden Sexualisierung in den Massenmedien, erste Belege findet man seit Mitte des 20. Jahrhunderts.“ Das Juni-Magazin bringt nun mit seiner willkommenen Wiederentdeckung Polly Tiecks, die wie so viele deutsch-jüdische Autorinnen vom Faschismus vertrieben und zum Verstummen gebracht wurde, einen deutlichen Beleg, dass in Berlin schon im Frühling 1930 der Sexappeal ausgebrochen war – und reflektiert wurde. Eine kleine weitere Recherche zur Geschichte des auch heute im Zeichen des Neodarwinismus noch attraktiven Begriffs ergab, dass ‚sex appeal‘ im englischen erstmals 1912 nachgewiesen sein soll. In Ullsteins Monatszeitschrift „Uhu“ (im Oktoberheft 1928) schrieb eine als ‚Anita‘ firmierende Autorin einen kleinen bebilderten Essay über „Sex Appeal“ als aktuelles Ideal und als neues Wort für ein altes Phänomen. Diesen Text ohne die wichtigen beigefügten Porträt-Fotos der Illustrierten findet man nun auch Online. Digitalisate der kompletten Uhu-Ausgaben findet man im Netz über die Sächsische Staats- und Universitätsbibliothek Dresden.
Die seit langem als Doppelbände erscheinenden Ausgaben des Juni-Magazins sind Fundgruben für Seitenwege, Nischen und vergessene Fundamente der Moderne. Trotz seines eng bedruckten Buchformats ist dieses Magazin mit historischen Fotografien passend illustriert. Die Juni-Ausgaben 43–44 über Fantastische Literatur sowie 39–42 (in zwei Büchern als Doppel-Doppelband) über Lied und Lyrik hatten den traditionellen Schwerpunkt dieses kulturgeschichtlichen Forums – die Welt der Hochmoderne (mithin vom ersten Weltkrieg bis in die Zeit des Nationalsozialismus) – zugunsten weiterer historischer Ausgriffe überschritten. Die vorige Juni-Ausgabe widmete sich mit dem Thema ‚Schreibende Frauen‘ wieder weitgehend der bunten Kultur der Weimarer Republik; gleiches gilt nun für den Schwerpunkt des aktuellen Bandes des Magazins: „Erzählte Wirtschaftssachen“.
Erneut finden sich hier nicht die üblichen Verdächtigen, nicht die Autoren und Texte der ersten Reihe, die einem als Wirtschaftserzähler der ersten Jahrhunderthälfte gleich einfallen möchten: erörtert werden im Schwerpunkt „Erzählte Wirtschaftssachen“ nicht Erik Regers Ruhrgebietsroman „Union der starken Hand“, nicht die Inflationsdramatik der 1920er-Jahre, nicht Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie (und auch nicht Brochs kaum bekannte Wirtschafts-Komödien und seine an Regers Wirtschaftsroman orientierte einzige Tragödie) schließlich auch nicht Döblins Schlaglichter auf Berliner Wirtschaftsmilieus in “Berlin Alexanderplatz“. Vielmehr sind es vor allem thematische Streifzüge durch wenig erforschte Subgenres wie den Filmroman, den frühen Fußball-Roman und Fußballfilm (ja, diese existierten schon seit 1925), den Warenhaus-Roman und den Angestellten-Roman, denen hier meist überzeugende Analysen gelten. Neben der Erschließung wenig bekannter Erzählcorpora, in denen die Ökonomisierung der modernen Lebensverhältnisse in formal mehr oder weniger traditionellen Erzählungen widergespiegelt und kritisiert wird, stehen einige Interpretationen einzelner Werke. Meist drehen sich diese Milieu-Erzählungen um Beziehungsschicksale und Berufswege im Spannungsfeld von Geld, Moral und von Liebe – die freilich mit der Brille ‘Erzählte Wirtschaftssache’ weitgehend als ökonomisch grundierte Veranstaltungen decouvriert wird.
Walter Delabar dezentriert die Analyse der Literatur aus der Epoche der klassischen Moderne ein weiteres Mal, indem er in zahlreichen Dorf- und Bauernromanen die Modelle vom Landleben nachzeichnet, das als Gegenwelt zur urbanen Moderne entworfen wurde. Dabei wandelte sich die Landwirtschaft zu dieser Zeit, wie mit zahlreichen Hinweisen auf die Technik- und Wirtschaftsgeschichte der Agrarökonomie belegt wird, von der Subsistenzwirtschaft zum weitgehend geldbasierten Teil der modernisierten Volkswirtschaft. Nichtsdestotrotz dienten die Plots und Figurenkonstellationen der Dorfromane meist als Projektionsfläche für möglichst archaische Wirtschafts-, Sozial- und Familienverhältnisse. Einen Gegenpol hierzu erkundet Julia Bertschik, indem sie Szenen des Fetischismus und der Signifikanz von Kleidungen bei Nestroy und Horvath studiert. Um das Verhältnis von Sexualität, Ökonomie, Berufs- und Rollenmodellen geht es auch in Anna Burgdorfs Interpretation von Erich Kästners Berlin Roman „Fabian. Geschichte eines Moralisten“.
Iuditha Balint liest Bertolt Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony“ vor der Folie von Brechts Operntheorie und seiner Kritik der Kulinarik und unterläuft den üblichen Topos der Gesellschaftkritik, indem sie Brecht/Weill als Kritiker einer Anthropologie des ökonomischen Menschen rekonstruiert. Enno Stahl interpretiert Franz Jungs „Eroberung der Maschinen“ mit Michel Foucaults (fragwürdigem) Begriff der Biopolitik. Daniel Lutz zeigt, wie Carl Sternheims Erzählung „Fairfax“ schon sehr früh (1921) und mit literarisch avancierten Mitteln eine kühl nihilistische Sicht auf Zusammenhänge von Kriegs- und Zivilwirtschaft unter dem Zeichen der Globalisierung und Amerikanisierung wirft. Robert Radu widmet sich einer Presseschau im Hinblick auf Kommentare und Prophezeiungen angesichts des epochalen Zusammenbruchs der Darmstädter und Nationalbank 1931. Wie die deutsche Filmwirtschaft im Laufe des Ersten Weltkriegs unaufhörlich wuchs und bis 1922 auch noch mit der ansteigenden Inflation gute Geschäfte machte, zeigt Philipp Stiasny ebenso wie die Handelsprobleme, die wegen der Hyperinflation (1923) die deutsche Filmindustrie gegenüber der USA uneinholbar ins Hintertreffen brachten. Dass es zahlreiche zeitgenössische (seither meist verlorene) Filme gab, deren Titel Geld- und Wirtschaftsplots versprechen, erwähnt Stiasny auch. Doch erörtert er nicht diese (filmisch) erzählten Wirtschaftssachen, sondern die Investitions- und Exportbedingungen der Filmwirtschaft.
Nicht fehlen dürfen in einer solchen Essay-Sammlung die Brüder Mann, bei denen hier freilich nicht ihre einschlägigen Kaufmanns- oder Börsenromane der Jahrhundertwende (Thomas’ „Buddenbrooks“ und Heinrichs „Im Schlaraffenland“) neuerlich untersucht werden, sondern vielmehr von Ann-Cathrin Oelkers aufgezeigt wird, wie unterschiedlich die Brüder 1923 auf die ökonomische Krise und die außenpolitische Konfrontation mit Frankreich (Ruhrbesetzung) reagierten.
Ergänzt werden die willkommene Wiederentdeckung Polly Tiecks und das Kaleidoskop zu den vielfältigen literarischen Wirtschaftsbeobachtungen der Weimarer Republik mit dem Abdruck eines Weltbühnen-Texts, den Tucholsky 1924 pseudonym veröffentlichte. „Der Türke“ wird von Sargut Sölçün gründlich kommentiert im Hinblick auf die raffiniert sprachsatirische Kritik Tucholskys am Habitus der deutschen Offiziere. Zudem zeichnet Momme Brodersen Luise von Landaus Lebenslauf nach und weist auf Walter Benjamins sehr eigentümliche Erinnerungskonzeption in dessen Schrift „Berliner Kindheit“ hin. Denn während in Benjamins Erinnerungstext Luise von Landau als vermeintlich früh verstorbene Teilnehmerin seines großbürgerlichen, vorschulischen Lernzirkels figuriert, zeigt Brodersen, wie die mit dem Bankier und Kunsterben Fritz Gutmann verheiratete Luise von Landau seit 1918 in den Niederlanden lebte, dort mittels Beziehungen über die italienische Botschaft direkt bis zu Heinrich Himmler bis 1942 von den Nazis kaum behelligt wurde (die an die wertvolle, in der Schweiz deponierte Kunstsammlung der Familie wollten), 1943 dann aber doch via Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurde, wo sie vermutlich 1944 ermordet wurde.
Mit diesen mannigfaltigen Materialien zu vielen Neben- und Hintergrundszenen der Weimarer Republik taugt diese Ausgabe des Juni-Magazins als detektivisch versierter Reiseführer zu vielen bisher unterbelichteten Hinterzimmern der Kultur der Zwanziger Jahre. Die Zwischenkriegszeit zeigt sich hier als Kraftfeld turbulenter Modernisierungsprozesse, in dem die deutsche Kultur und Literatur zwischen Nachkriegskrise, Wirtschaftsboom, Weltwirtschaftskrise und Machtergreifung der Nationalsozialisten schillerte wie kaum je. Während in der französischen Literaturwissenschaft die Spezialisierung auf Jahrhunderte lange schon üblich ist (jemand ist dort beispielsweise Seizièmiste oder Dix-huitièmiste), sind derartige Spezialisierungen nach Jahrhunderten oder gar Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum immer noch eher selten. Mit dem seit 10 Jahren bestehenden Jahrbuch „Treibhaus“ für die Nachkriegsliteratur der 1950er-Jahre und mit dem Juni-Magazin für die frühere Nachkriegsmoderne gibt es freilich auch bei uns spezialisierte Publikationsorgane als Fundgruben. Als mittlerweile reich beschickte Forschungsarchive helfen sie beim Erkunden der verschütteten und vielfach vergessenen Seitenwege der Moderne.
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