Die Fackel im Player

Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ als Hörbuch

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Karl Kraus war, das wissen heute nicht mehr viele – schon gar nicht außerhalb Österreichs. Dabei war der 1874 geborene Wiener jahrzehntelang einer der wirkungsmächtigsten Autoren der Donaumonarchie. Das wurde er nicht nur mit seiner 1899 gegründeten Zeitschrift Die Fackel, die er bis in die dreißiger Jahre fast im Alleingang mit Artikeln bestückte, sondern auch durch hunderte von Vorlesungen, die ein begeistertes Publikum anzogen. Elias Canetti hat einmal beschrieben, welche Faszination Kraus auf ihn als kaum zwanzigjährigen Hörer ausübte: „Ein Gesicht so beweglich, daß es auf nichts festzulegen war, eindringlich und fremdartig, wie das eines Tieres, aber ein neues, anderes, keines, das man kannte. Fassungslos war ich über die Steigerungen, deren diese Stimme fähig war, der Saal war sehr groß, aber es war dann ein Beben in ihr, das sich dem ganzen Saale mitteilte. Stühle wie Menschen schienen unter diesem Beben nachzugeben, es hätte mich nicht gewundert, wenn die Stühle sich gebogen hätten.“

Kraus besaß ein ungeheures Feingefühl für die Sprache – und dafür, was er als ihren Missbrauch durch Journalisten und andere Schriftsteller erlebte. Bedächtiges Abwägen war seine Sache nicht, sondern die radikale, polemische, und (pardon) bisweilen ungerechte Kritik. Die zielte aber nicht nur auf schlechten Stil und unfreiwillige Komik, sondern auf den dahinterstehenden Geist. Besonders deutlich wird das in seinem Hauptwerk, dem über 800 Seiten langen Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit, das er zwischen 1915 und 1922 schrieb und sukzessive in der Fackel erscheinen ließ. Nominell ist das Stück zwar in fünf Akte eingeteilt, besteht aber in Wirklichkeit aus über 200 isolierten Szenen. Thema ist der Erste Weltkrieg, gegen den sich Kraus von Anfang an leidenschaftlich engagiert hatte – mit einer solchen Vehemenz, das einzelne Hefte seiner Zeitschrift von der österreichischen Zensur beschlagnahmt und verboten wurden. Statt einer durchgehenden Handlung erwartet den Leser ein Welttheater des Wahnsinns, das alle wichtigen Schauplätze und Figuren des Krieges abzubilden sucht. Es reicht von den Begeisterungsstürmen des Kriegsausbruchs auf der Wiener Ringstraße über die bittere Realität der Front bis zum steindummen Wilhelm II., der sich vom bayerischen Akzent heuchelnden Ludwig Ganghofer ein Kriegsfeuilleton vorlesen lässt. Übertrieben? Jedenfalls weniger, als man vermuten würde. Kraus besteht auf der Wahrheit seines Stückes: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen […] Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Man lacht bei der Lektüre voll Ingrimm und nickt wissend. Man will gar nicht lachen, aber man lacht.

Aber könnte man das einem heutigen Publikum zumuten? Schließlich ist seit dem Geschilderten ein ganzes Jahrhundert vergangen. Aber der von Kraus geschilderte Wahn ist uns keineswegs fremd – im Gegenteil: heute, da die allgemeinen Gemetzel um die vermeintlich richtige Fahne und den vermeintlich richtigen Glauben wieder ein ganzes Stück näher an Mitteleuropa geführt werden, muss man die Brisanz der Letzten Tage niemandem mehr erklären. Schon eher stellt sich die Frage, wie man das Drama aufführen könnte. Auch wenn immer wieder einzelne Teile auf die Bühne gebracht oder für das Radio aufgenommen werden, wurde das Stück noch nie komplett gespielt. Eine Schwierigkeit, um die auch Kraus wusste, der behauptete, die Aufführung seiner Letzten Tage der Menschheit sei „einem Marstheater zugedacht. Theatergänger der Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten.“

Der Wiener Mandelbaum Verlag hat einen brauchbaren Weg gefunden. Auf zwei CDs tragen der Schauspieler Erwin Steinhauer und vier Musiker in gut hundert Minuten eine Kleinstauswahl aus dem riesigen Textkonvolut vor, wobei alle fünf Akte ungefähr gleichermaßen berücksichtigt werden. Steinhauer, der die Fassung gemeinsam mit Franz Schuh erarbeitet hat, ist der wirkliche Star des Programms, der mit wandlungsfähiger Stimme preußische Offiziere ebenso spricht wie feine Damen, cholerische Gemüsehändler, plappernde Kinder und den schlafenden, greisen Kaiser Franz Joseph. Sein Vortrag macht das Zuhören zu einem Vergnügen, wenn auch einem bitteren (warum ich nicht „Genuss“ schreibe, mag man am Ende des dritten Aktes selbst nachhören). Begleitet wird er von Georg Graf, Pamela Kurstin, Joe Pinkl und Peter Rosmanith, die es fertigbringen, Haydns Kaiserquartett (das heißt, die deutsche Nationalhymne) im Dreivierteltakt swingen zu lassen. Mit Cello, Flöte und einer singenden Säge – nein, Verzeihung – einem angenehm fremdartig klingenden Theremin. Das gigantische Welttheater wird auf ein Format reduziert, mit dem man es auf jede Theaterbühne bringen kann (was mit dieser Produktion leicht möglich ist) und doch eine Ahnung von der Essenz des Textes bekommt.

Statt mit dem von Kraus vorgesehenen Epilogs schließt die Aufnahme mit einer beklemmenden Szene aus dem fünften Akt, in der das Alter Ego des Autors, der „Nörgler“, spricht: „Die Welt geht unter, und man wird es nicht wissen. […] Man wird vergessen haben, daß man den Krieg verloren, vergessen haben, daß man ihn begonnen, vergessen, daß man ihn geführt hat. Darum wird er nicht aufhören.“ – Karl Kraus hat recht behalten, aber sein Ende war weniger rühmlich. Trotz seiner jüdischen Herkunft unterstützte er das rechtsradikale Regime von Engelbert Dollfuß, weil er vergeblich hoffte, die autoritäre Regierung könnte den deutschen Faschismus vom Übergreifen nach Österreich abhalten. Die Annexion erlebte er nicht mehr: 1936 starb Kraus an einem Herzinfarkt.

Titelbild

Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Klangbuch mit 2 CDs.
Mandelbaum Verlag, Wien 2014.
32 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783854764373

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