Macht macht Kunst
Das dreibändige Katalogsepos „Karl der Große/Charlemagne“ zum Karlsjahr 2014
Von Nick Ostrau
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEr hat das frühmittelalterliche Schrift- und Bildungssystem grundlegend reformiert, die Kunst und Architektur in Westeuropa wie kein zweiter Herrscher seiner Zeit gefördert und mit Diplomatie und erbarmungsloser Brutalität den europäischen Kontinent zu seinem neuen Kaiserreich erklärt – das letztere Unterfangen ein lebenslanges Gewaltprojekt, dessen Ziel es war an die längst vergangene Macht des alten Roms anzuknüpfen. Ob man ihn heute eher als Wohltäter oder Tyrann bezeichnen will, eines lässt sich nicht leugnen: Hätte es anno 800 das Time Magazine schon gegeben, so wäre ihm im Jahr seiner Kaiserkrönung ohne Zweifel ein Platz auf dessen Titelseite als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der westlichen Welt sicher gewesen.
Die Rede ist natürlich von Karl dem Großen, jenem unermüdlichen Franken aus der Karolingerdynastie, dem bis heute nicht nur ein großer Einfluss auf die Anfänge Deutschlands und Frankreichs zugesagt wird, sondern der als “Vater Europas” und Architekt der karolingischen Renaissance auch immer wieder mit dem politischen und geistigen Erbe der Europäischen Union in Verbindung gebracht wird. Und weil das Jahr 2014 – in Gedenken an den 1200. Todestag des Kaisers am 28. Januar 814 – das offizielle Karlsjahr ist, verwundert es nicht, dass uns jener so fremde Mensch aus dem Mittelalter in den letzten Monaten überall wieder begegnet ist. In einer Reihe neuer Biografien von namenhaften Historikern, in Fernsehdokumentationen und in zahlreichen Ausstellungen an karlsträchtigen Orten können wir der Spur des zum Mythos gewordenen Karolingerkönigs folgen. Unter den diesjährigen Neuerscheinungen befindet sich auch das hier zu besprechende dreibändige Kompendium Karl der Große/Charlemagne, das im Verlag Sandstein Kommunikation erschienen ist. Zum einen enthält der Schuber die Bände Orte der Macht als auch den Katalog, den Frank Pohle im Auftrag der Stadt Aachen zur Sonderausstellung im dortigen Rathaus mit Unterstützung des Europäischen Parlaments und unter der Schirmherrschaft der deutschen, italienischen und französischen Staatsregierungen herausgegeben hat. Zum anderen enthalten ist der ebenfalls an die Ausstellung anknüpfende und von Peter van den Brink und Sarvenaz Ayooghi editierte Band Karls Kunst.
Aber brauchen wir denn überhaupt noch einen weiteren Band, der sich mit dem Thema Karl auseinander setzt? Die Frage ist hinsichtlich der diesjährigen Veröffentlichungswut zum Thema berechtigt, man wird sie aber schon nach der ersten Durchsicht der neuen Publikation von insgesamt über 1100 großteils farbigen Seiten ohne Zögern bejahen müssen. Denn das Besondere an diesem dreibändigen Kleinod ist denn auch dreierlei: Karl der Große ist zugleich Ausstellungskatalog, Biografie und kultur- und kunstgeschichtliches Sachbuch. Um es gleich vorweg zu nehmen, alle drei Bereiche meistern die Lektoren mit Bravur.
Im ersten Band Orte der Macht erhalten Geschichtsinteressierte in über 40 reich bebilderten Fachessays einen faszinierenden Einblick in verschiedene Bereiche der Biografie Karls und in die Welt der Karolinger an den Machtzentren Europas. Jeder Text kann zwar sehr gut für sich allein gelesen werden ohne dabei Neulinge zu über- und Kenner zu unterfordern. Erst in ihrer Gesamtheit aber verdichtet sich die Essaysammlung zu einer beeindruckenden Karlschronik, welche andere Einzelwerke über die Zeit Karls in den Schatten stellt. So erfährt man zum Beispiel in einem Text über die Infrastruktur des karolingischen Reiches, dass Karls Hof sich in ständiger Bewegung befand und dass der Frankenkönig nur als reisender Herrscher die weit auseinanderliegenden Teile seines Reiches überhaupt regieren konnte. In einem weiteren Essay wird das Wissen um die sich in ständiger Bewegung befindliche Monarchie Karls um Beispiele der daraus resultierenden internationalen Repräsentationskultur an Karls Höfen erweitert, was wiederum in einem späteren Text eine semantische Verbindung zu Karls Prachtbauten in verschiedenen Teilen seines Reiches schafft. Dank des sehr guten Schlagwortkatalogs findet man sich in dieser Informationsflut dennoch leicht zurecht. Textstellen, Sachzusammenhänge, sowie Namen von Orten und Personen lassen sich leicht wieder finden, so dass man die einzelnen Texte auch sehr gut parallel oder quer lesen kann.
Bietet der Essayband Orte der Macht ein ausführliches Hintergrundwissen zur Lebenswelt der Karolinger, ist der zweite Band als Katalog ganz den Gegenständen aus der Ausstellung im Aachener Rathaus gewidmet. Glücklicherweise ist der zweite Band in ebenso gut durchdachte Kapitel unterteilt, deren Organisation den Themenbereichen des ersten Bandes folgt, so dass sich leicht kontextuelle Verbindungen zwischen individuellen Ausstellungsstücken und ihrer kulturgeschichtlichem Bedeutung herstellen lassen. So findet man im Kapitel zum Thema kaiserlicher Mobilität und karolingischer Infrastruktur unter anderem ein rekonstruiertes Wagenrad, den Querschnitt durch eine römische Straße, eine bronzene Reiterstatue des Kaisers und eine bleierne Pilgerampulle. Zu jedem der 315 Ausstellungsstücke gibt es erfreulicherweise farbige Abbildungen sowie ausführliche Beschreibungen und Randnotizen. Die Qualität der Fotos ist teilweise so gut, dass man nach den Objekten greifen möchte, um sich ihrer Materialbeschaffenheit zu vergewissern. Deutlich macht die Vielfalt der ausgestellten Gegenstände im zweiten Band vor allem auch, wie gut es der mobile Karl verstand, Innovationen, denen er auf seinen Reisen zu Herrschaftsorten außerhalb Aachens begegnete, zu erkennen und sie in das Zentrum seiner Macht zurückzuführen, um sie dort für sich nutzbar zu machen.
Karls Aneignung von Versatzstücken repräsentativer Herrschaftskultur aus verschiedenen Teilen Europas wird ebenso eindrücklich im dritten Band Karls Kunst vermittelt. Der Fokus liegt hier auf denjenigen Ausstellungsstücken, die in besonderer Weise im Zusammenhang mit Karls Höfen als kaiserlicher Künstlerschmiede stehen, einer Institution, die zurecht als das Zentrum der karolingischen Renaissance angesehen werden darf. In neun Essays werden die Produktion und Rezeption derjenigen Kunstgegenstände beleuchtet, die für die Aachener Ausstellung erstmals aus verschiedenen europäischen Sammlungen und Museen zusammengeführt wurden und die in ihrer Gesamtheit für eine schwer zu übertreffende Blütezeit frühmittelalterlichen kreativen Schaffens stehen. Es fehlen weder die Elfenbein- und Goldschmiedearbeiten, die metallenen Waffenverzierungen, noch die in Stein gehauenen Schmuckelemente der kaiserlichen Pfalzen, Domkapitel und Paläste. Nicht vergessen werden dürfen auch die kostbaren Manuskripte, die in detaillierter Kleinarbeit per Hand geschrieben und dem Stande angemessen reich verziert wurden. Wiederum steht auch in diesem Band der Entstehungskontext der Repräsentationsobjekte in Bezug auf Karls politischer, religiöser und persönlicher Macht im Mittelpunkt. Wir erhalten darüber hinaus einen spannenden Einblick in die Welt des Kunsthandwerkes im frühen Mittelalter: beleuchtet wird das Arbeitsumfeld der Hofkopisten und Handwerker ebenso wie die Aufbewahrungsgeschichte der Stücke in späteren Jahren. Die Objekte erinnern immer wieder eindrücklich daran, dass es Karls Förderung der Kunst immer auch gleichzeitig zum Ziel hatte, die Stärke seines Kaisertums nach außen zu zeigen und den Status seiner Herrschaft zu legitimieren. Denn in einer Zeit, in der Kommunikation in erster Linie über persönliche Anwesenheit funktionierte, musste kaiserliche Macht entweder über die Person des Herrschenden selbst oder über einprägsame Stellvertreterobjekte an den verschiedenen Orten des Reiches sichtbar gemacht werden.
Die drei Bände Karl der Große/Charlemagne dürfen – wie die in ihnen gezeigten Objekte – selbst als Preziosen bezeichnet werden. Hochwertig gearbeitet und reich bebildert verbinden sie die Geschichte der Karolingerdynastie mit der Produktion von Gebrauchs- und Kunstgegenständen auf derart spannende Weise, dass man am liebsten alle drei Bücher parallel vor sich aufgeschlagen lassen möchte. Die Autoren veranschaulichen visuell ansprechend die Bedeutung der Wirkungsstätten Karls als Orte politischer, religiöser und repräsentativer kaiserlicher Macht. Ordnet man die drei Bände in ihrem Schuber im Bücherregal an, ergibt sich aus den großgedruckten Titeln der drei Buchrücken das Satzgefüge MACHT, MACHT, KUNST. Arrangiert man die Bände in umgekehrter Reihenfolge ergibt sich wiederum KUNST, MACHT, MACHT. Diese Sätze fassen zusammen, was uns in den Bänden auf eindrucksvolle Weise nähergebracht wird: Karls Macht und Kunst bedingen einander, so dass der Kaiser gleichzeitig Förderer des Schöngeistigen aber auch Vertreter einer heute fassungslos machenden Gewaltpolitik sein konnte. Die karolingische Politik und Kunst getrennt voneinander zu betrachten würde dem damaligen Denken nicht gerecht. Zwar sind die drei Bände auch einzeln erhältlich, aber wenn man sich dieses Jahr nur eine Neupublikation zu Karl dem Großen zulegen wollte, ist die hier besprochene dreibändige Gesamtausgabe uneingeschränkt zu empfehlen.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg