Eine italienische Liebeserklärung an das Finnische endet im Kauderwelsch

Der Roman „Neue finnische Grammatik“ von Diego Marani tut dem Buchmessen-Gastland keinen Gefallen

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Vorfeld der Buchmesse wird man immer mit zahlreichen Neuerscheinungen konfrontiert, gerade aus dem jeweiligen Gastland, was leicht den Überblick verlieren lässt. Wenn dann noch ein ursprünglich auf Italienisch geschriebener, als „finnische Grammatik“ verkleideter Roman als Beitrag des Gastlandes auftaucht, ist die Verwirrung groß: was hat es also mit der „Neuen Finnischen Grammatik“ des italienischen Autors Diego Marani auf sich, die soeben in deutscher Übersetzung im Graf Verlag erschienen ist?

Diego Marani ist neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit eigentlich Übersetzer und Publizist, zudem arbeitet er bei der Europäischen Union als Dolmetscher. Zu einiger Bekanntheit gelangte er in den 90er Jahren durch die Erfindung der künstlichen Mischsprache ‚Europanto‘, eine Mischsprache ohne festes Regelwerk, die eher als Scherz, denn als ernsthafter Versuch gedacht war, eine gemeinsame lingua franca der EU zu schaffen. Dennoch veröffentlichte Marani auch einen Roman in der Kunstsprache („Las Adventures des Inspector Cabillot“, 1998), weitere belletristische Veröffentlichungen – diesmal auf Italienisch – folgten. In Italien bekannt wurde Marani im Jahr 2000, als er für seinen Roman „Nuova grammatica finlandese“ den renommierten italienischen Premio Grinzane Cavour erhielt. Genau dieser Roman wurde nun anlässlich des finnländischen Gastspiels auf der Buchmesse 14 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung unter dem Titel „Neue finnische Grammatik“ von Helmut Moysich ins Deutsche übertragen – und ein finnischer Roman ist er insofern, als er sich tatsächlich als eine Liebeserklärung an die finnische Sprache und Kultur versteht.

Der Plot ist dabei etwas verworren. Im Jahr 1944, in den Wirren des Krieges, findet ein exilierter Finne, der inzwischen als Neurologe in Hamburg arbeitet, als diensthabender Arzt auf einem deutschen Militärschiff im Hafen von Triest einen schwer verwundeten Soldaten mit einer finnischen Uniform. Er bringt ihn auf dem Schiff unter und wohnt seiner langsamen Genesung bei, begeistert davon, einen Landsmann gefunden zu haben. Doch durch die schwere Verletzung hat der Soldat sein Gedächtnis, seine Erinnerung und die Fähigkeit zum Sprechen verloren. Ganz langsam, mühsam, Stück für Stück bringt der Arzt ihm die finnische Sprache bei. Im Verlaufe der Geschichte wird der Verwundete zurück nach Helsinki gebracht, wo er in einem Militärkrankenhaus zur weiteren Genesung verbleibt und dort vom Militärkaplan Koskela im Finnischen weiter unterrichtet wird, während er gleichzeitig die junge Krankenschwester Ilma kennenlernt. Was wir lesen, sind die Tagebuchaufzeichnungen des Soldaten, der sich ‚Sampo‘ nennt, herausgegeben und mit erklärenden Passagen versehen von dem finnischen Neurologen, der, so die Fiktion, die Tagebücher nach dem Tode Sampos gefunden haben will.

Genauso konstruiert, wie dieser Plot in der Paraphrase wirkt, ist er es auch im Gesamtwerk – doch das Hauptanliegen des Romans scheint auch nicht die Geschichte zu sein, sondern die Magie der finnischen Sprache beziehungsweise der Zauber des Lernens einer Sprache überhaupt und die Frage nach dem Zusammenhang von Identität und Spracherwerb. Der gedächtnislose Sampo versucht sich langsam, tastend, aber akribisch mit dem Lernen der fremden Sprache seiner Identität zu nähern, er versucht sich im Finnischen selbst zu finden. Er lernt erst, zu verstehen, dann, sich zu artikulieren, und irgendwann kann er sprechen, kann sich auch in Menschenmengen Gehör verschaffen und hat seine Stimme wiedergefunden – doch seine Identität nicht. Denn bis zum Finale des Romans bleibt unklar, wer er nun wirklich ist. Das Geheimnis wird am Ende gelüftet werden, und doch bleibt der Roman als Ganzes unbefriedigend. Denn: durch die unbedingte Liebe zur Sprache wird Maranis Stil über weite Strecken des Textes zu einem pompösen, überbordenden Anstrich, völlig überfrachtet mit scheinbar poetischen Formulierungen und Metaphern. Nichts ist mehr einfach, sondern alles ist wie etwas: „Mein Verstand war wie ein Schiff, dessen Leinen vom Sturm losgerissen waren“, vom „Wind der Verzweiflung“ wird dieses Verstandesschiff aufs Meer getrieben, geschützt durch einen „kaum wahrnehmbare[n] Schleier, wie eine Art Hypnose“ vor den „schrillen Farben der Wirklichkeit“. Dergleichen Beispiele mehr lassen sich auf fast jeder beliebigen Seite des Romans finden. Aus der Liebe zur Sprache wird Kitsch:

„Das Gedächtnis ist gleichsam der Schmerzzoll, den ich alltäglich zahle, wenn ich in dieser Welt aufwache und in ihr zu leben akzeptiere. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht weil es einfacher ist, geboren zu werden, als zu sterben. Vielleicht aus der krankhaften Neugier eines jeden Menschen, selbst noch im Schmerz zu sehen, wie alles enden wird.“

Man kann den Hang zur Poesie nicht negieren, aber das allein macht die Sprache nicht künstlerisch, sondern künstlich, es führt zum Eindruck einer gewaltigen zuckersüßen Glasur, mit der der Roman übergossen wurde. Und die Geschichte darunter ist nicht weniger gekünstelt. Die verzweifelte Suche nach Identität und Gedächtnis, die heraufziehende, aber letztlich scheiternde Liebe, das seltsame Spiel des Schicksals und die Wirren des Krieges, der Kampf um eine Erinnerung und die Einsamkeit in der Welt – all das sind Themen, die man kennt und die, ineinander vermengt wie in der Kunstsprache des Europanto, zu einem Kauderwelsch führen, das nach vielem klingt, aber am Ende doch nur ein etwas blutleeres Konstrukt ist.

Bei aller Liebe zur Sprache und der Kultur des Finnischen: mit der „Neuen finnischen Grammatik“ tut Diego Marani seiner Liebhaberin keinen Gefallen – und dem Leser auch nicht.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Diego Marani: Neue finnische Grammatik.
Aus dem Italienischen übersetzt von Helmut Moysich.
Graf Verlag, München 2014.
256 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783862200412

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