Verdiente Verrisse?

Bernhard Schlinks Roman „Die Frau auf der Treppe“ in der Kritik

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sofort nach seinem Erscheinen eroberte der neue Roman „Die Frau auf der Treppe“ von Bernhard Schlink den ersten Platz der Bestsellerliste. Das verwundert nicht, denn mit dem im Jahr 1995 veröffentlichten Roman „Der Vorleser“, der inzwischen auch als Spielfilm erfolgreich war und in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt worden ist, wurde Schlink weltbekannt. Seitdem finden seine Publikationen größte Beachtung bei der Kritik und der Leserschaft. Verwunderlich ist allerdings, wie rigoros die Literaturkritik zumeist mit dem Erfolgsautor umgeht. Schon bei dem „Vorleser“ konnte man beobachten, dass der Roman, der zunächst unisono in den höchsten Tönen gelobt wurde, zunehmend auch negativ besprochen worden ist. Die Rezensionen der nachfolgenden Romane („Die Heimkehr“, „Das Wochenende“) und der Bücher mit Erzählungen („Liebesfluchten“, „Sommerlügen“) fielen kontrovers aus, wobei auffallend war, dass mehrere Kritiker recht derb mit dem Erfolgsautor ins Gericht gingen. Nun wird auch der Roman „Die Frau auf der Treppe“ von einigen Rezensenten regelrecht verrissen. Hat Schlink das verdient?

„Ein großes Bild, eine geheimnisvolle Frau und ein Wiedersehen am Ende der Welt“: Mit diesen Schlagworten wirbt der Diogenes-Verlag für das Buch. Nicht ganz so reißerisch erfasst der Klappentext den Inhalt des Romans: „Das Auftauchen eines verloren geglaubten berühmten Bilds einer Frau bringt sie wieder zusammen: den Maler, den Auftraggeber, den Dritten, der in den Streit zwischen beiden geriet, und die Frau. Die Männer haben sie damals geliebt, sich von ihr getäuscht und betrogen gefühlt und wollen endlich haben, was ihnen vermeintlich zusteht. Bis einer begreift, was wirklich geschehen ist, und der Frau neu begegnet – und sich selbst.“ Das Handlungsgeschehen soll Zugänge zu Grundsatzfragen der Lebensführung schaffen: „Ein Roman über Rechthaben und Mitleiden, Besitz und Verlust, echte und falsche Nähe.“ 

„Ich denke in Geschichten“, sagt Bernhard Schlink in einem Interview, das Armin Kratzert vom Bayerischen Rundfunk mit ihm am 29.9.2014 geführt hat. Wenn er mit einem Roman beginne, habe er keinen Plan, sondern eine Geschichte im Kopf. Auch die „Aussteiger-Geschichte“ um die Frau auf der Treppe soll eine Einsicht vermitteln. Schlink hat sie so formuliert: „Wir sind für unser Glück mit, aber nicht allein verantwortlich.“ In einer nachgestellten Anmerkung gibt er an, dass ihm Gerhard Richters Bild „Ema. Akt auf einer Treppe“ den Anstoß gegeben hat, diesen Roman zu schreiben. Aber er beteuert auch, dass Gerhard Richter und der in seinem Roman agierende Maler Karl Schwind „nichts miteinander gemein“ hätten.

Wie so oft bei dem Juristen Schlink gehört zu den Protagonisten in seinem Roman auch ein Rechtsanwalt, der das Geschehen aus der Ich-Perspektive erzählt. Im Mittelpunkt steht ein sittenwidriger Vertrag, der den Streit zwischen einem reichen Unternehmer und einem prominenten Maler lösen soll: Der Maler Schwind möchte sein Bild zurück bekommen, das er dem Kapitalisten Gundlach verkauft hat und auf dem dessen Frau Irene zu sehen ist. Gundlach soll im Gegenzug seine Frau zurück erhalten, die ihn wegen des Malers verlassen hat. Der Anwalt, der diesen Vertrag umsetzen soll, hat sich wiederum selbst in Irene verliebt und möchte mit ihr fliehen. Am Ende werden alle drei Männer von ihr gelinkt, und sie taucht mit dem Gemälde unter. Als das Bild vier Jahrzehnte später in der Art Gallery von Sydney wieder auftaucht, kommt es zu einem Treffen aller Beteiligten in einer abgelegenen Bucht in Australien, wohin sich Irene zurückgezogen hat. Die Begegnung führt den Rechtsanwalt zu der schmerzlichen Erkenntnis, dass er ein spießiges Leben wie in einem Gefängnis geführt hat, in dem Gefühle und Liebe keinen Platz hatten. Nach Schlink macht ihn dieses Erlebnis „frei für sein weiteres Leben“.

Es gelingt dem Autor vortrefflich, mit den anfangs geschilderten Szenen Spannung aufzubauen und den Leser in die Handlung hinein zu ziehen. Allerdings wirkt diese zunehmend konstruiert und in ihrem Fortgang leicht durchschaubar. Im dritten Teil des Romans begibt sich Schlink zunehmend auf eine Gratwanderung entlang der Grenze zum Kitsch: Er lässt die Meeresbrandung rauschen, die Vögel zwitschern, die Kiesel klirren und die Sonne theatralisch in der Bucht untergehen. Aber den Hang zum Kitschigen findet man ja ebenfalls bei anderen bedeutenden Autoren, beispielsweise bei Hermann Hesse. Und man kann es durchaus auch begrüßen, dass es Schriftsteller gibt, die Literatur in einer Zeit, in der die Gefühle zunehmend ausgeblendet werden, mit Romantik anreichern. Zudem verhindert Schlinks lakonischer Schreibstil, dass Liebesszenen allzu sehr ins Kitschige abgleiten. Schlink konstruiert keine überladenen Sätze, sondern erzählt schlicht und klar: Ein Schreibstil, für den ihm viele Leser dankbar sind.

Einen der übelsten Verrisse hat Alexander Kissler in der Zeitschrift „Cicero“ veröffentlicht. Er bezeichnet Schlinks Roman als „dumpfes Werk“, das der Schundliteratur zuzurechnen sei. Er moniert, dass Schlink „allerschlichteste Umgangssprache, banale Lexik, monotone Syntax, passgenau für Diktiergerät oder Tresenschwank“, jedenfalls „keine Romansätze“ verwende (was immer das sein mag), und er zieht daraus die Schlussfolgerung: „Ergo ist der Roman ‚Die Frau auf der Treppe’ kein Roman.“ Eine solche Kritik ist nicht nur unsachlich, sondern bösartig.

Nicht so maliziös ist die bei „literaturkritik.de“ veröffentlichte Kritik ausgefallen, aber der Rezensent Thorsten Schulte fasst Schlink auch nicht gerade mit Samthandschuhen an, was schon aus der Überschrift des Artikels hervorgeht: „Oberlehrerhaft vorgetragene Trivialitäten. Bernhard Schlinks neuer Roman ‚Die Frau auf der Treppe’ enttäuscht“. Diese negative Einschätzung ist ebenfalls fragwürdig. Die Verweise auf verschiedene „Wendungen“ bei Ansichten, „deren Plötzlichkeit überraschen“, und auf den Umstand, dass alles „vage und erzählerisch ungeschickt“ bleibt und „mit ruckartigen Umschwüngen versehen“ ist, rechtfertigen diese Klassifizierung nicht. Überzogen ist auch die Behauptung, „dass dem Roman trotz des immer wieder erkennbaren moralischen Anspruchs jegliche Tiefe“ fehle. Sicherlich werden die thematisierten Problemfelder im „Vorleser“ eingehender erfasst und erörtert, aber auch in der „Frau auf der Treppe“ findet man ansatzweise gesellschaftskritische Diskussionen. Allerdings wird nicht geklärt, weshalb Irene eine Zeitlang einer terroristischen Gruppierung angehörte, es bleibt bei allgemein gehaltenen Andeutungen. Es wäre sicherlich besser gewesen, wenn Schlink auf diesen historischen Kontext ganz verzichtet hätte. Die Geschichte hätte dadurch an Glaubwürdigkeit gewonnen.

Es gibt auch positive Kritiken. Für Burkhard Müller (Süddeutsche Zeitung vom 28.8.2014) ist der Roman „Die Frau auf der Treppe“ „eine flotte Komödie über das Ineinandergreifen von Kunst und Leben“. Eine Komödie? Schlink ein Komödiant? Da liegt Müller allerdings falsch. Kein Wunder, dass er die Belege für diese unzutreffende Einschätzung schuldig bleiben musste. Der vom Pietismus geprägte Schlink verfügt über viele Begabungen, aber ein witziger Schreibstil, aus dem die Darstellung humoristischer Szenen hervorgeht, gehört sicherlich nicht dazu. Vielmehr zeichnet seine Romane und Erzählungen Knappheit, Sachlichkeit und Präzision aus. Man kann Müller andererseits durchaus zustimmen, wenn er den Roman insgesamt als lohnende Lektüre apostrophiert. Allerdings schießt er übers Ziel hinaus, wenn er im Vergleich zu Schlinks „Vorleser“ „Die Frau auf der Treppe“ als „das bessere Buch“ bezeichnet. Das stimmt nicht. Denn zu Schlinks Vorzügen zählt, über Literatur Zugänge zur Geschichte zu schaffen. Er ist ein „Vergangenheitsbewältiger“, der mit seinen Geschichten in historische und gesellschaftliche Prozesse eindringt. Das ist ihm mit dem Roman „Der Vorleser“ am besten gelungen, in dem es um die Aufarbeitung der NS-Diktatur anhand der schuldhaften Verstrickung der Protagonistin Hanna  Schmitz ging. Auch in seinen spannend erzählten Kriminalromanen decken die Recherchen des Detektivs Selb oft Verbrechen aus der Zeit des „Dritten Reichs“ auf und veranschaulichen Historie. Mit der Geschichte der RAF, die Schlink zum Beispiel in seinem Roman „Das Wochenende“ aufgreift, kommt er nicht so gut zurecht. Dies zeigt sich auch in dem Roman „Die Frau auf der Treppe“.

Nochmals die Frage: Hat er deshalb die Verrisse verdient? Sicherlich nicht. Die Schreiber dieser Verrisse setzen sich dem Verdacht aus, dass sie Schlink seinen Erfolg nicht gönnen. Bernhard Schlink hat mit der „Frau auf der Treppe“ erneut bewiesen, dass er niveauvolle Romane schreiben kann. Die Stärken bei der Entwicklung origineller Geschichten überwiegen bei weitem die Schwächen, die der neue Roman in Bezug auf die Figurenzeichnung, die Handlungskonstruktion, die Darstellung kitschiger Szenen und die Aufarbeitung historischer Vorgänge aufweist. Ulrich Greiner rechnet den Roman zum „Genre der Inhaltsliteratur“, die gefällig zu unterhalten weiß. Der Leser nehme die implizite Aufforderung, „nicht zu verspießern“, gern zur Kenntnis. Und Tilman Krause verweist zu Recht auf den fruchtbaren Anstoß, den man aus dem Roman „Die Frau auf der Treppe“ erhält: „Am Ende fragt man sich, wie noch jedes Mal nach einer Schlink-Lektüre: ‚Was habe ich selbst eigentlich aus meinem Leben gemacht?‘“ Bernhard Schlink hat mit der „Frau auf der Treppe“ also einmal mehr unter Beweis gestellt, dass man ihn zu Recht zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart zählt.

Titelbild

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2014.
244 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783257069099

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