Zwischen historischem Roman, Geschichtserzählung und zynischem Märchen

Passend zur 25-Jahrfeier des Mauerfalls: Ken Folletts „Kinder der Freiheit“

Von Angela Lorenz-RidderbecksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Angela Lorenz-Ridderbecks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neueste Roman von Bestsellerautor Ken Follett heißt vollständig Kinder der Freiheit. Die Jahrhundert-Saga, im englischen Original Edge of Eternity, und ist am 16. September 2014  erschienen. Der Veröffentlichungstermin in Deutschland und der Romaninhalt fügen sich erfreulich nahtlos ein in die 25-Jahr-Feiern des Mauerfalls in Berlin. Man erwartet großes Theater, wenn man den umfangreichen Roman in die Hand nimmt. Das bekommt man auch, nur ganz anders.

Auf mehr als 1200 Seiten befasst sich der Roman mit der Entwicklung der schon bekannten Familien aus den USA, Russland, Deutschland und Großbritannien in den Jahren 1961 bis 1989. Auch wenn man die beiden Vorläufer der Familien-Saga Sturz der Titanen und Winter der Welt nicht gelesen hat, kann man diesem fulminanten Nachfolge-Werk ohne Weiteres folgen. Die Eltern, Kinder und Enkel-Kinder der Peshkow, Fitzherbert, Williams, von Ullrich, Dewar und Rothmann gehören nun zu den Privilegierten oder werden zu Privilegierten der Nachkriegsjahre. Sie sitzen als Baronin im Londoner Oberhaus (Ethel Williams), machen Karriere  in der Politik ihrer jeweiligen Staaten (Rebecca, George, Dimka), als Popstars und Schauspieler (Dave, Walli, Evie) oder als Journalisten (Tanja, Jasper). Sie müssen alle unterschiedliche Krisen durchleben, sie leiden fast alle unter Willkür und Ungerechtigkeiten, aber sie passen sich auch Zwängen an, verbiegen sich teilweise wider besseres Wissen. Dennoch erleben alle eine bessere Zukunft, sie überleben gestärkt und sind reicher – nicht nur an Erfahrung. Keiner stirbt durch Willkür, Mord oder Drogenmissbrauch und der Sex ist immer umwerfend. Am Ende reiht sich ein vorhersehbares Happy End an das andere. Eine Spur von häufig wiederkehrenden Handlungsmustern wird offensichtlich (Partnertausch, Krise, Krisenlösung, Verfolgung, Flucht, Aufstieg). Das wirkt zunächst aufregend und verleitet zum Weiterlesen, später fühlt sich das allerdings abgedroschen an.

Das Titelthema der Freiheit wird wie nebenbei aufgerollt, ist aber ständig präsenter Mittelpunkt des Romans. Das Schlüsselwort ist jedoch nicht „Freiheit“, sondern „Traum“ und findet sich in einer Schlüsselszene, der Rede Martin Luther Kings über seinen „Traum“ von einer freien Welt und einem freien Amerika. Follett wird dies später wieder aufgreifen.

Schwerpunkte der Handlung bilden die historischen Ereignisse der Nachkriegsjahre, beginnend mit dem Mauerbau 1961 in Ost-Berlin. Die Kuba-Krise, die Verfolgung der Bürgerrechtler, der Vietnam-Krieg oder die Führungs-Stile der US-Präsidenten im Westen werden den Führungsstilen der Apparatschik-Bürokraten wie Chrustschow, Breschnew oder Gorbatschow, der Entwicklung der UdSSR und ihren sozialistischen Bruderstaaten gegenüber gestellt. Nicht nur die Welt im Osten wirkt dabei undemokratisch und unfrei, Kritik wird auch an der Verlogenheit und dem grausamen Zynismus westlicher Präsidenten und Bürokraten offenbar. Die Verfolgung in sibirischen Gulags durch den KGB, die Unterdrückung durch die Stasi in der DDR oder die Niederwerfung oppositioneller Bewegungen wie im Prager Frühling 1968 oder der Solidarnosc 1981 in Polen sind deshalb genauso Themen in diesem Buch wie die Verfolgung und Ermordung schwarzer Bürgerrechtler, die Unterdrückung und Ausbeutung der farbigen US-Bevölkerung und die gezielte Ermordung von Hisbollah-Kämpfern oder Unschuldigen in Beiruts Straßen durch die CIA. Der Epilog präzisiert dann im Nachgang die Follett’sche Definition von Freiheit in Demokratie, deren Verwirklichung niemals in einer sozialistischen, sondern nur in einer kapitalistischen, amerikanisierten Welt möglich scheint.

In zehn Teilen, 63 Kapiteln und einem Epilog beschreibt ein auktorialer Erzähler vor allem historische Ereignisse und Personen der 28 Jahre zwischen Mauerbau und Mauerfall. Die Familiengeschichten nehmen sich daneben jedoch wie nebensächlich und etwas arrangiert aus. Mehrsträngig angelegt, verzweigen sich die Wege der Figuren vor und hinter dem „Eisernen Vorhang“ immer wieder. Dann aber, wenn markante Taten „die Welt erschüttern“, werden die Handlungsstränge zusammengeführt. So zum Beispiel bei der Ermordung von John F. und Bobby Kennedy oder dem Mord an Martin Luther King. In dem opulenten Showdown am Schluss des Romans, dem Fall der Mauer 1989, wird die Trennung der Familien und gleichzeitig der ganzen Welt wieder aufgehoben.

Kein kunstvoller Sprachstil fesselt den Leser, sondern die Erzählung eines beteiligten Beobachters, der in seinen Figuren bei den beschriebenen Ereignissen dabei ist und mit ihnen fühlt. Einfache, verständliche Sprache zeichnet den Roman aus, sie ist so von Follett bewusst eingesetzt. Einige Beschreibungen hätten jedoch manchmal mehr Ausschmückung und Tiefe verdient. Dafür hätte der Autor ruhig auf ein paar Plattitüden verzichten dürfen, insbesondere die bildliche Sprache lässt viele Wünsche offen. Am Beispiel der „Traum“-Rede von M. Luther King ist das gut nachzuvollziehen,  wenn es relativ phantasielos heißt: „Er hatte einen Rhythmus gefunden, und zweihunderttausend Menschen spürten, wie er ihre Seelen aufrüttelte. Es war mehr als nur eine Rede: Es war ein Gedicht, ein Lobgesang und ein Gebet so tief wie das Grab. Die herzzerreißende Wendung ‚Ich habe einen Traum’ kam wie ein Amen am Ende jedes schallenden Satzes und sollte Geschichte schreiben.“ Hier wirken Vergleiche („so tief wie das Grab“; „wie ein Amen“) oder Adjektive („herzzerreißende“; „schallenden“) einfach völlig überzogen oder fehl am Platz. Weniger wäre hier mehr.

Interessant an dieser Stelle ist wiederum der Erzählerkommentar („sollte Geschichte schreiben“), der auktorial auch den realen Ereignissen dieses Datums vorgreift. Hier wird erfahrbar, was an vielen anderen Stellen als Frage aufscheint: was will Ken Follett sein? Ein Literat oder kritischer Historiker? Er hat sich nicht wirklich entschieden und darunter leidet das Werk. Multitasking kann er hier jedenfalls nicht gut. Das wird auch an der Figurendarstellung deutlich, die er sehr widersprüchlich anlegt. Da treffen dann erstmals in der Familientrilogie aufregend reale historische Persönlichkeiten wie beispielsweise John F. Kennedy auf fiktive, aber leider farblos wirkende und immens viele Figuren, die als ihre Berater, Unterstützer, Interviewer oder Liebhaber auftreten.  Man verliert als Leser schnell den Überblick, trotz der Auflistung zu Beginn und der Familienstammbäume vorne und hinten im Deckel. Behalten kann man gerade noch die Namen von Rebecca, Dimka und Tanja, George, Cam, Evie, Dave, Walli und Jasper. Man lernt mit diesem Arrangement bekannte Persönlichkeiten tiefgreifend nah kennen, und das ist sehr erfreulich, aber die Kinder der Peschkow oder Williams beispielsweise werden recht oberflächlich dargestellt. Sie wirken wie unscheinbare Abziehbildchen neben den realen Pendants. Ihr Leben spult sich fast vorhersehbar und abhängig von diesen Realfiguren ab. Sexuelle Vorlieben wie moralische oder politische Einstellungen werden gezeigt – aber können sich auch wieder ändern, je nach politischer oder persönlicher Wetterlage. Kaum eine Figur bleibt sich wirklich treu, kaum eine Charakteristik scheint möglich. Und das ist in einem fiktiven Roman, speziell im dritten Teil einer richtig spannenden Trilogie, äußerst prekär. Man lebt nicht wirklich mit denen mit, denen man folgen will. Der Leser beobachtet, aber bleibt außen vor. Nur manchmal hat man den Eindruck, Emotionen zu empfinden, zum Bespiel Zorn darüber, dass die fiktiv angelegten Figuren sich häufig so neutral und sachlich verhalten. Ihr Handeln wirkt teilweise nicht plausibel, weil der Roman keinen Ansatz bietet, es nachzuempfinden.

Großartig und umfassend recherchiert ist dagegen der historische Kontext. Ken Follett hat sicherlich etliche seiner 20 Mitarbeiter damit beschäftigt, denn alleine kann man diese Fülle an Informationen nicht zusammentragen. Der Leser lernt deshalb eine ganze Menge über die Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkriegs, zum Beispiel darüber, wie J. F. K.s ständige sexuelle Ausschweifungen vertuscht wurden. Da es jedoch immer noch ein (fiktiver) Roman ist, darf sich der Autor den Schnitzer einer falsch verlaufenden Mauer erlauben, was er im welt.de-Interview vom 15.9.2014 jedoch sehr bedauert. Die eigentlich erwartete Story des Romans, die Fortführung der Familien-Saga, kommt recht durchschaubar und blass daher. History geht hier eindeutig vor Story. Das ist zwar schade und nimmt der Familien-Trilogie den gleichwertig schönen Abschluss, dennoch kann man das Buch nicht weglegen, wenn man mal damit begonnen hat. Es reißt schon mit, wenn man nahe „dabei sein“ kann bei Personen und Ereignissen, die man selber nie erleben konnte. Das kann Follett! Man mag nicht aufhören zu lesen, auch wenn der Autor weniger als Literat denn als Historiker daherkommt und bei aller erhellenden Gesellschaftskritik, die anklingt, auch manche Banalitäten ausstreut.

Und im Epilog kommt dann wieder ein Bruch. Warum hört die Geschichtserzählung  mit der Rede des frisch gewählten Barack Obama am 4. November 2008 auf? Gäbe es seit dem 4.11.2008 nicht auch noch etwas zu Obamas Politik zu sagen? Wirkt er nicht im Zusammenhang beispielsweise der NSA-Affäre genauso verlogen und zynisch wie vorher Nixon, Reagan und die Bush‘s? Die kritisiert Follett, nicht aber Obama. Am Ende des Werkes scheint auch noch die Textgattung Geschichtserzählung bzw. historischer Roman mit der Märchenform vertauscht worden zu sein. Anders kann man sich nicht erklären, wieso Follett mit Obamas „Traumrede“ endet. Oder ist hier ein „runder“ Abschluss und die Antwort des Textes auf die Rede von M. Luther King arrangiert worden? Das will aber aus oben genannten Gründen so gar nicht passen und kommt unglaublich naiv, wenn nicht sogar zynisch daher! Motto: Und wenn sie nicht gestorben sind…

Vielleicht hätte man Follett mehr Zeit oder auch bessere Übersetzer wünschen können? Mehr Zeit, um Handlung und Figuren ausführlicher zu gestalten. Bessere Übersetzer, um die Plattitüden wegzulassen. Aber da saß wohl der Termin der Buchmesse im Nacken? Dennoch: ein lesenswertes Buch, zwar nicht so mitreißend vergnüglich wie die beiden Vorgänger, aber mit viel spannender Historie.

Titelbild

Ken Follett: Kinder der Freiheit. Roman.
Mit Illustrationen von Tina Dreher.
Übersetzt aus dem Englischen von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher.
Bastei Lübbe, Köln 2014.
1216 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783785725108

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