Ein Hamburger Jedermann

In seinem neuen Roman „Vaterjahre“ erzählt Michael Kleeberg die Geschichte Karlmann Renns weiter

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2007 hat uns Michael Kleeberg in seinem Roman „Karlmann“ mit in das Leben eines jungen Mannes genommen, in dem sich ein bisschen auch das des Autors spiegelte und das paradigmatisch war für die Zeit, über die Kleeberg so unterhaltsam wie stilistisch brillant schrieb. Karlmann – kurz: Charly – Renn war auch damals schon kein aus der Masse herausgehobener Held, sondern ein Jedermann im besten Sinne des Wortes. Einer, der mitschwamm im Schwarm, Peinliches durchlitt – wovon der Roman durchaus nicht schwieg – und erhabene Momente erlebte, die sich hauptsächlich der Zeit verdankten. Das Buch setzt ein im Juli 1985 mit dem Wimbledon-Finale zwischen Boris Becker und Kevin Curren, einer Szene, die – auch was die Breite der Darstellung betrifft – ein wenig an Don de Lillos zehn Jahre früher erschienenen Roman „Unterwelt“ und die Funktion des darin ausführlich beschriebenen, legendären Baseball-Finalspiels zwischen den Brooklyn Dodgers und den New York Giants im Oktober 1951 erinnert.

Nun, sieben Jahre später, hat sich im Leben des Aufsteigers Charly Renn einiges geändert. „Vaterjahre“ nimmt uns sozusagen mit auf die nächste Stufe der Karriereleiter eines Durchschnittlichen. Zum zweiten Mal verheiratet ist er inzwischen, hat zwei kleine Kinder, ein nettes Häuschen vor den Toren der Hansestadt Hamburg, aber nicht mehr ganz so viel Glück wie der Jungspund, den es im Boris-Becker-Stil einst nach oben geschwemmt hatte, ohne dass er selbst viel dazu konnte. Rauher sind die Zeiten geworden – wir schreiben in „Vaterjahre“ hauptsächlich die 1990er-Jahre –, erste Selbstzweifel schleichen sich in Charlys Psyche und wenn am Ende des Romans der 11.09.2001 die Welt komplett in eine andere verwandelt, erlebt auch Karlmann Renn mitsamt Firma und Familie einen nächsten Wendepunkt in seinem Leben.

Los geht es übrigens – wie in Teil 1 der Saga – mit Anklängen an einen großen amerikanischen Romancier. Diesmal gibt nicht de Lillo den Rhythmus vor, sondern der Stil von Vladimir Nabokovs Skandalroman „Lolita“ bemächtigt sich der Kleebergschen Feder: „Scheiße, wo hast du all die Schönheit hergenommen, du Lutschbonbon – du Liebesapfel! Lichterlohe! Lulu! – Lukullische Louie im Fuchs- und Luchspelz! – Du gurrende, turtelnde Blue-Note – du süßeste Sure meines Qur’ans – du lütte Huri, schlummernd auf meinem Lustlager als Soulfood im Elysium, du – du – […]“ Kleeberg hat John Dos Passos, Marcel Proust und neben etlichen anderen neuerdings auch Paul Bowles übersetzt – da muss sich niemand wundern, wenn einiges hängengeblieben ist und jetzt ganz legitim in den Dienst der eigenen Schreibe genommen wird.

Und damit man mich nicht falsch versteht, hier gleich – vorweggenommen – mein Fazit: „Vaterjahre“ in all seiner schillernden Stilpracht, seinem Anspielungsreichtum, dem Witz und der Eleganz, mit der der Roman seine Themen entwickelt, seiner Liebe fürs Detail, den vielen verspielt-genialen Formulierungen und seinem grandiosen Schlusskapitel ist ein ganz großartiges Stück Literatur und wäre selbstverständlich auch ein würdiger Deutscher-Buchpreis-Kandidat 2014 gewesen – wenn, ja, wenn er überhaupt erst einmal auf der Longlist gelandet wäre. Wo man ihn freilich vergeblich suchte, was letzten Endes wohl weniger gegen Kleeberg und seine Kunst als gegen die verantwortliche Jury und ihr Urteilsvermögen spricht.

Doch zurück in weniger aufgeregte Gefilde. Die oben zitierte, sprachverspielte Eloge gilt Charly Renns Töchterchen Luisa und von der schweifen die Gedanken von Kleebergs 40-jährigem Helden zurück in die eigene Kindheit, zu jenem behüteten Stadium des Lebens, in das er selber leider nicht zurückkehren kann. Auch wenn er es gern würde – denn die Gegenwart überfordert ihn gelegentlich, so fest er in den Augen anderer auch mit ihr verbandelt ist. Nachdem er mitten auf der Hamburger Köhlbrandbrücke einen panikhaften Zusammenbruch erleidet, muss er sich sogar in die Hände der Psychiaterin Petra Wedekind begeben und mit ihr gemeinsam den Abstieg „in die Spiralen der eigenen Hölle“ antreten.

Ein Arbeitsplatzwechsel bringt schließlich den Wandel. Als kaufmännischer Leiter der traditionsreichen Hamburger Firma Sieveking & Jessen residiert Charly im Chile-Haus und schafft es durch seine Geistesgegenwärtigkeit sogar, seinem Arbeitgeber im auf die New Yorker Anschläge vom 11. September folgenden Börsencrash das Vermögen zu retten. Ende gut, alles gut? Zumindest schläft Charly auf der letzten Seite des Romans den Schlaf aller Gerechten. Tief und fest und bewacht von einer Tochter, der er vorher noch behutsam zu erklären hatte, was es mit dem Tod im Leben auf sich hat. Denn um der Hündin Bella Schmerz und Leiden zu ersparen, musste ein Tierarzt kommen und sie einschläfern. Und so fällt am Schluss eines Tages, an dem der Tod tausendfache Ernte in New York einfährt, auch ein Stück dieser unbegreiflichen Tragik des Sterbens auf das kleine Haus der Familie Renn in Hamburg-Beimoorsee.

„Privatleben“, „Arbeit“ und „Umfeld“ hat Michael Kleeberg die einzelnen Kapitel des Romans überschrieben. Es sind die Lebenseckpfeiler, zwischen denen sich seine Hauptfigur bewegt wie die meisten von uns anderen auch. Nichts Außergewöhnliches also. Und er bietet auch keine Helden auf in dem Sinne, dass die handelnden Figuren uns Übermenschliches, Ungewöhnliches, Vorbildhaftes vor Augen führen würden. Nein, es ist alles banal und alltäglich, was Karlmann Renn erlebt. Und er selbst ist nicht mehr als ein Durchschnittstyp, der ab und an mal ein kleines bisschen Glück hat. Einer, der von Sport mehr als von Kunst versteht, der Golf spielt und teure Uhren am Handgelenk trägt, mehr Oberfläche als Substanz besitzt.

Wenn wir den Roman bis zu seiner allerletzten Seite trotzdem nicht aus der Hand zu legen vermögen, dann ist es mehr das Wie als das Was des Erzählens, das uns in den Bann zieht. Da lässt der Autor einen Samstag in der Vorstadt onomatopoetisch auf den Leser nur so niederprasseln, dass er selber fast Lust zum Rasenmähen und Laubsaugen, Grill anwerfen und „Prösterchen!“ in die Abendluft rufen bekommt: „Ja, wenn es tondert und tronkt, knirrt und schiepst, wenn es kröllt und brohrt, särrend und pfuirrend schraddert und peitzt, und wenn dann Stille einkehrt wie es sie in der Stadt nie geben kann, wenn der Rauch aus Dutzenden Holzkohlegrills über der Walstatt aufsteigt […] – dann, ja dann haben wir den Sound of Suburbia erlebt, den Klang, der von den neubürgerlichen Ringwällen des jüngsten Subatlantikums erschallt, die die Stadt Hamburg umgeben.“

Ständiger Wechsel der Erzählperspektiven, ein Erzähler, der nicht nur alles, sondern gelegentlich sogar mehr als das weiß, in den Text eingearbeitete Dialogpassagen, Tagebuchabschnitte und ein „Familienplaner“, um dem Ablauf ereignislos aufeinanderfolgender Tage stilistisch gerecht zu werden – Michael Kleebergs Erzählen beherrscht die ganze Klaviatur klassischer, moderner und postmoderner Tricks, lässt sich – gelegentlich nicht ohne Eitelkeit – gebannt auf die Finger schauen, wie sie huschen und Töne erzeugen, die selbst, wenn sie einmal schrill klingen, gewollt sind. Und zum Schluss, als sofortiges Handeln gefragt ist, um den Konkurs zu verhindern, während auf dem Fernsehschirm die Zwillingstürme stürzen, braucht es gar Wagners „Götterdämmerung“, um der Fallhöhe des Geschehens gerecht zu werden: „Nun kommt der dunkle Drachen geflogen/– und nieder senkt er sich!/Denn der Götter Ende dämmert nun auf./So – werf ich den Brand/ in Walhalls prangende Burg.“

„Vaterjahre“ ist ein Meisterwerk. Hier kann man einen Autor tatsächlich auf der Höhe seiner Kunst erleben und bewundern. Alle Register ziehend, Ober- wie Untertöne beherrschend, höllisch ernst und himmlisch heiter. So fesselnd über uns und unsere Zeit erzählend, dass ich mir niemanden vorstellen kann, der nach dem tiefen Schlaf, in den Kleebergs Held am Ende der fast 500 Buchseiten fällt, nicht auch wieder mit ihm aufwachen möchte. In einem weiteren Jahrzehnt und in des Lebens Mitte ankommend.

Titelbild

Michael Kleeberg: Vaterjahre. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014.
504 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783421043559

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