Von der Herrschertugend Loyalität

Andrea Camilleri erinnert an eine nahezu unbekannte Begebenheit aus der Vergangenheit Italiens

Von Katrin SchmeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Schmeißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neben den Montalbano-Krimis, die ihn berühmt gemacht haben, setzte sich Andrea Camilleri bisher auch in weniger beachteten historischen Romanen wie Die Sekte der Engel (2013), Der Hirtenjunge (2012) und den Erzählungen in Fliegenspiel (2010) mit der Geschichte seines Landes auseinander. Sie alle zeigen, welch’ differenziertes Spektrum an Genres, Themen und Registern er zu bedienen weiß. Gleichwohl sind in der Mehrzahl seiner Aufarbeitungen der Vergangenheit Männer die Protagonisten. Während die Frauen – egal, ob aufrechte, mittelmäßige oder zweifelhafte Charaktere, egal ob aktiv agierend oder eher passiv – in ihrem Schatten stehen. Schon der Titel des nun vorgelegten Romans Die Revolution des Mondes kündigt diesbezüglich ein Novum an, widmet er sich doch den Ereignissen um eine weibliche Herrscherfigur.

Diese entdeckt der Autor in einem bisher weitestgehend unbeachteten Zeitabschnitt der sizilianischen Vergangenheit. Genauer: der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als sich die Handelsrouten vom westlichen Mittelmeer in den Atlantik verschieben und die unter spanischer Herrschaft stehende Insel zu einer Randregion Europas wird. Zwischen 1669 und 1700 fungiert Karl II. aus der Ferne als Regent. Sein Stellvertreter Angelo Guzmán (Markgraf von Castelrodrigo) ist in Palermo ansässig. „Er galt als ein guter Vizekönig, er hatte sich von Anfang an als ein ehrlicher Mann erwiesen.“ Doch dann entgleitet ihm die Macht zusehends.

Als Guzmàn 1677 unerwartet stirbt, übergibt er sie testamentarisch an seine Gemahlin Eleonora de Moura. Sie zögert nicht, diese anzunehmen und reagiert schnell: Schon angesichts der ersten politischen Zusammenkünfte des Staatsrats, denen sie nun vorsteht, zeigen sich ihre Intelligenz, Aufrichtigkeit und Entscheidungsfreudigkeit. Während ihr die Mitglieder des Gremiums noch ablehnend und um Befugnisse bangend gegenüberstehen, zwingt sie diese schon zum loyalen Handeln. Sie überführt sie der Korruption, der Käuflichkeit und des Gesetzesbruchs, setzt neue ein und lässt ein Handelskonzil zusammentreten. Und damit nicht genug: Sie führt mit sofortiger Wirkung Regelungen zum Steuererlass für kinderreiche Familien ein, zur Senkung der Getreidesteuer, um vor Hungersnöten zu schützen sowie zur Unterstützung für neu gegründete Frauen-Konvente mit Waisen und Witwen.

Je mehr das zunächst abwartend beobachtende Volk sie zu schätzen und ihr Achtung entgegenzubringen beginnt, fürchtet der Klerus ihre Durchsetzungskraft und wachsende Beliebtheit. Hinterrücks verleugnet ein Bischof sie und wiegelt die Menschenmenge mit Vorwänden gegen sie auf: Eleonora de Moura soll wegen der aufgebrachten Massen den Palast verlassen. Stattdessen aber werden Missbrauchfälle des Ordinarius sowie ein zu seinen Lasten gehender Mord bekannt, die zu seiner Inhaftierung und Verurteilung zu lebenslanger Haft führen. Prompt erlässt sie ein auf umfassende Gerechtigkeit zielendes, gesetzgeberisches Werk, das die instabile öffentliche Ordnung stärkt. Da es nicht kritisiert werden kann, behält es Gültigkeit; doch auf Verlangen der erstarkenden römischen Kirche, die dann sogar Papst Innozenz XI. involviert, muss der spanische König sie absetzen.

Die beschriebenen 27 Tage – genau eine Mondphase – bieten die Möglichkeit zur Entfaltung eines Szenarios, das den Palast, die politische Bühne als großes, einzig machtbesessenes Theater des Niedergangs (im Sinne eines barocken teatrum mundi mit der vanitas der Welt) zeigt. Geradezu als moralischer Fixpunkt sticht die Königin heraus, als Idealentwurf und Chiffre für den konstruktiven Umgang mit Macht. Über sie reflektiert Camilleri die Möglichkeit einer handlungsfähigen, an sozialen Kriterien ausgerichteten Regierung. Weitaus mehr als Giuseppe T. di Lapedusa in Der Gattopardo insistiert er auf einer derartigen Notwendigkeit.

Dazu verfolgt er die Geschehnisse minuziös mit und treibt den Handlungsfortgang permanent voran; ohne grundlegend auf die psychologische Ausgestaltung der wesentlichen Figuren (nur im Ausnahmefall offenbart er präzise Äußerlichkeiten wie die abstoßenden Züge der unförmigen, hässlichen und monströsen Ratsmitglieder), das Fokussieren von Details am Hofe oder innerhalb der Stadt zu achten. Auch wesentliche innenpolitische Ereignisse werden nur fragmentarisch angerissen oder angedeutet. Ein unfertiger Text ohne Tiefenschärfe demzufolge? Mitnichten, denn dies macht seine Darlegung fast zu einer Farce – oder im weiteren Sinne zu einer schablonenhaft wirkenden, ja auch allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Parabel.

Spürbar wird bei der Lektüre des nahezu insgesamt im sizilianischen Dialekt verfassten Buches eine feinsinnig humorvolle, fast schon schelmische Lust des Autors am Schreiben (welche die Übersetzung noch betont). Mit altersweisem Augenzwinkern spielt er mit umgangssprachlichen Formulierungen und spitzt spöttisch zu. Über diese Nuancen der Akzentsetzung ist Camilleri eine unerwartete, eindringliche Gestaltung des nur partiell dokumentierten Vorkommnisses gelungen. Trotz seines persönlichen Stils bleibt er der bekannten historischen Realität der gesamten Epoche treu. Damit setzt er sich von der gängigen, Details präsentierenden und vornehmlich auf Spannung bauenden historischen Prosa deutlich ab. Weil er somit bestimmte etablierte Leseerwartungen und -gewohnheiten gerade nicht bedient, wird die Lektüre zu einem wahren Wissenszugewinn.

Daher verdient der Band nicht nur eine breite Leserschaft, sondern auch die Kenntnisnahme der Geschichtswissenschaft. Denn Standartwerke verweisen allenfalls oberflächlich darauf, im betreffenden Zeitraum sei es „zu keiner fundamentalen Reform“ gekommen, wie Moses Finley und seine Co-Autoren in ihrer „Geschichte Siziliens und der Sizilianer“ (2006) schreiben. Auch wenn es sich nur um den Ansatz einer solchen handelte: Noch ist diese Bruchstelle innerhalb der weitläufigen Winkelzüge der Zeit in kaum einem Fachbuch auch nur mit einer Anmerkung präsent.

Titelbild

Andrea Camilleri: Die Revolution des Mondes. Roman.
Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Krieger.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2014.
288 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312006021

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