Zu dieser Ausgabe

Wer war eigentlich Karl der Große, der 814 starb und als Kaiser weite Teile unseres Subkontinents beherrschte? Sichere Informationen sind über Menschen, die vor so langer Zeit gelebt haben, in der Regel Mangelware. Deshalb sind gegenwärtige Darstellungen historischer Gestalten bis zu einem bestimmten Grad als Fiktionen zu betrachten. Auch Klio dichtet bekanntlich, und so werden Herrscher wie Karl der Große ex post besonders gerne zur Veranschaulichung von Sachverhalten neu konstruiert, die vor allem in der Zeit definitionsbedürftig sind, in der an derartige Persönlichkeiten erinnert werden soll: „Dass er Vater Europas genannt wurde, ist auch aus heutiger Sicht noch legitim“, behauptete etwa Bundespräsident Joachim Gauck in diesem Sommer, obwohl man zu Karls Zeiten nicht die geringste Vorstellung von dem überaus fragilen Gebilde aus 28 Mitgliedstaaten hatte, das man heute unter diesem Namen beschwört.

Neben der Ausstellung in Aachen, bei der Gauck diese Einschätzung verkündete, können auch andere populäre Porträts Karls des Großen von analytischem Interesse sein. So wusste der „Focus“ in einer kurzen Annäherung mit dem bemerkenswerten Titel „Fünf Frauen, 18 Kinder und ein Riesenreich“ zu berichten: „Als großen stattlichen Mann mit einem runden Gesicht, kurzem Halsansatz, einem Doppelkinn und Schnauzbart, dazu eine erstaunlich hohe Stirn – so beschrieb der damalige fränkische Biograf Einhard den großen Karl. Also anders als die berühmte Darstellung der Karlsbüste in der Aachener Schatzkammer Glauben macht.“ 

Um die Verwirrung perfekt zu machen, ist auch die November-Ausgabe von literaturkritik.de dem 1.200. Jahrestag des Todes dieses sagenumwobenen Mannes gewidmet, genauer: einigen der besagten Projektionen, die anlässlich des Jubiläums in Buchform erschienen sind. Auch sie berichten teils über so kolportageartig anmutende Dinge wie die Zahl von Karls Freundinnen oder auch die Essgewohnheiten zur Zeit des Kaisers: Wie dieses Leben heute genau erzählt wird, ist Thema der Rezensionen, die unsere Marburger Mediävistik-Redaktion für Sie bereitgestellt hat. Die Mythen und Metaphorisierungen Karls des Großen werden fortgeschrieben, und als solche sagen sie nicht nur etwas über die Zeit von 747 (oder 748) bis 814 aus.

Auch die Autorschaft heutiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller wird konstruiert. Unsere redaktionelle Dépendance in Duisburg-Essen hat Artikel zu der Frage zusammengestellt, auf welche Weise Literaturpreise an dieser Entwicklung teilhaben: Inwiefern, kann man sich in der Tat fragen, ist etwa der Lyriker Lutz Seiler nach der Prämierung seines ersten Romans im öffentlichen Ansehen ,ein Anderer’ geworden? Was bedeutete der Literaturnobelpreis für Herta Müller, ganz unabhängig von der Angabe der Autorin, die Auszeichnung sei bei ihr „innerlich nie angekommen“, und es seien ihre Bücher, die den Preis gewonnen hätten, nicht aber sie selbst?

Die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen aus Duisburg-Essen handeln nicht nur von Auszeichnungen wie dem Ingeborg-Bachmann-Preis, die im deutschsprachigen Raum verliehen werden, sondern auch von internationalen Beispielen wie dem Booker-Preis.

Mit herzlichem Dank an die Redaktions-Kolleginnen und Kollegen aus ‚dem dunklen Mittelalter‘ und aus dem lebensfrohen Ruhrpott
grüßt Sie herzlich
Ihr
Jan Süselbeck