Was Bourdieu und Chicago gemeinsam haben

Ernst Mohrs interdisziplinäre „Ökonomie mit Geschmack“

Von Verena ThinnesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Thinnes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, wohl aber über dessen Stellenwert als wirtschaftliche Größe. Der St. Gallener Ökonom Ernst Mohr positioniert sich mit seinem Buch Ökonomie mit Geschmack deutlich: Geschmack ist alles andere als ein in der Summe vernachlässigbares Randphänomen. Den so genannten repräsentativen Konsumenten anzunehmen, macht in unserer heterogenen Welt so viel Sinn „wie eine Konstruktion des durchschnittlichen Tieres aus Brehms Tierleben“. Geschmack – genauer die Vielfalt der Geschmäcke, und eigentlich deren Ausdifferenzierungspotenzial, das eine offene Gesellschaft bereithält – ist vielmehr eine unversiegbare Ressource im Wertschöpfungsprozess. Offenheit und Diversität der westlichen Gesellschaften bieten als Nährboden für Geschmacksinnovationen einen bislang weit unterschätzten Vorteil im internationalen Wettbewerb, den es wahrzunehmen und auszubauen gilt. Um die daraus abgeleitete, besonders für Geisteswissenschaftler verführerische Politik-Empfehlung gleich vorwegzunehmen: Die Bildungsförderung, die unseren natürlichen komparativen Vorteil einer offenen Gesellschaft unterstützt, richtet sich erklärtermaßen auf Kultur- und Sozial- und nicht auf die Ingenieurswissenschaften.

Auf rund 500 Seiten wird die Erforschung des Geschmacks, die bislang nur als „Teppichflicken von Design bis Werbung, von Ästhetik bis Volkswirtschaft, von Mainstream bis Neostämme“ vorliegt, in einer Gesamtschau präsentiert, so der Autor auf seiner Website. Das Buch mit dem Untertitel „Die postmoderne Macht des Konsums“ ist dabei alles andere als eine schlichte Bricolage, sondern ein mithilfe von Theorieimporten aus Semiotik, Ästhetik, Soziologie und Kulturanthropologie interdisziplinär angelegter Entwurf zur ökonomischen Bedeutung des Geschmacks.

Aus der Soziologie kommt die Ausgangsannahme: Geschmack als Teil der Kultur ordnet Dingwelt und Verhaltensweisen und vermittelt Beziehungen – und zwar umso stärker, je mehr sich eine Gesellschaft öffnet, das heißt, je mehr unterschiedliche Lebensstile sie integriert. Der über Objekte zum Ausdruck gebrachte Geschmack ist Distinktions-, aber laut Mohr vor allem horizontales Differenzierungsmittel, sodass die feinen Unterschiede im Konsum soziale Beziehungen vertikal wie horizontal organisieren. Da Geschmacksurteile nicht objektivierbar sind, kann jeder Gründe finden, warum der eigene Geschmack gut und der anderer schlecht ist. Als ökonomische Institution haben Geschmacksentscheidungen die Eigenschaft, dass sich niemand als am Ende der sozialen Hierarchie stehend sehen muss, so Mohr. Eine solchermaßen horizontal ausdifferenzierte Gesellschaft habe den Vorteil, weniger Verlierer zu produzieren.

Ein Import aus der Zeichentheorie bringt Dynamik in die Ordnung der Objektwelt und soll eine Lücke in der Konsumtheorie der einflussreichen Chicagoer Schule schließen. Die Sicht dieser Ökonomen ist auf die rein dingliche Dimension beschränkt und blendet die Zeichenhaftigkeit aller materiellen und immateriellen Objekte aus. Der weit größte Anteil an Gütern wird jedoch nicht aufgrund ihres Nutzens konsumiert, sondern wegen der sozialen Bedeutung, die aus ihnen immer wieder neu und anders generiert werden kann. Der prinzipiell arbiträre, über kulturell bedingte Codes gestiftete Signifikat-Signifikant-Zusammenhang ermöglicht Umcodierungen und provoziert wiederholte Decodierungsarbeit des Konsumenten (zum Beispiel „wenn ein Rolex-Interessent zum ersten Mal das Wort ‚Nuttex‛ hört“). In diesen Codes, in der Anzahl logisch unbegrenzt, sieht Mohr die unerschöpfliche kulturelle und damit volkswirtschaftliche Ressource.

Seine Untersuchung zielt klar auf die Ursachen und Möglichkeiten wirtschaftlichen Erfolges; Mohr präsentiert sich damit sicher nicht als Kapitalismus- oder Wachstumskritiker. Ausgangspunkt aber ist die Diversität von Lebensstilen, die eine sich öffnende Gesellschaft zulässt. Man kann nun darüber streiten, ob diese sich notwendig ökonomisieren müssen, genau so wie darüber, ob es tatsächlich die Zeichen sind, die jeden selig und unsere Volkswirtschaft wettbewerbsfähig machen. Ob der Geschmack die grenzenlose Ressource für Wachstum und nachhaltigen Wohlstand ist, ist genauso diskutierbar wie die dem Modell zugrunde liegende Annahme, dass Geschmack innerhalb einer postmodernen Gesellschaft stärker als horizontales Differenzierungs- denn als vertikales Distinktionsmittel wirkt.

Und genau darin liegt die Qualität des Buches: Man kann darüber streiten. Es ist lesbar und instruktiv, bleibt frei von Überformalisierungen und Quantifizierungsreflexen (unter den elf Abbildungen ist lediglich ein Funktionszusammenhang dargestellt), wobei der komplexe Argumentationsgang sorgfältig geführt und untermauert wird. Mohrs von Disziplingrenzen unbeschränktes Erkenntnisinteresse beschert überdies freudvolle Leseerlebnisse, besonders dann, wenn der Autor Konzepte von einem Fach ins andere konvertiert oder wenn Parallelen über mehrere Fächer hinweg gezogen werden. Mohr baut ‘Brücken’ – meist, aber nicht nur, für die Kernzielgruppe der Wirtschaftswissenschafler. Das liest sich dann zum Beispiel so: „Das Ringen um vertikale Distinktion ist die soziologische Variante dessen, was in der Ökonomik als Nullsummenspiel bezeichnet wird. Im Nullsummenspiel wird um die Verteilung des Bärenfells konstanter Größe gestritten. Je nach Ausgang des Zerrens ist das eine Mitglied besser- und das andere schlechtergestellt in der sozialen Hierarchie.“

Reizvoll ist auch die Parallelisierung von statischen und dynamischen Gleichgewichtskonzepten aus der Ökonomie mit der Zeichentheorie Saussure’scher beziehungsweise Peirce’scher Prägung. Im einen Fall wird auf das Ergebnis der Bedeutungsentstehung in Form eines „gleichgewichtigen“ Signifikat-Code-Signifikant-Zusammenhangs fokussiert, im anderen die Genese von Bedeutung als Konvergenzprozess zum Saussure’schen semiotischen „Gleichgewicht“ beschrieben. In einem weiteren Schritt werden diese beiden Ausprägungen zudem mit soziologischen Modellen einer statischen Gesellschaft der Moderne beziehungsweise einer dynamischen, postmodernen Gesellschaft korreliert.

In dieser Landschaft verortet der Autor Pierre Bourdieus Theorie als ein in sich geschlossenes Modell eines stabilen allgemeinen Gleichgewichts des Geschmacks. Die beschriebene Gesellschaftsstruktur ist eine statische – trotz aller Kämpfe um Sozialprestige und möglicher biografischer Flugbahnen – und Geschmack wird darin als unveränderlich und klassenbedingt vorgegeben angenommen. Und hier liegen für Mohr die Gemeinsamkeiten zwischen Bourdieus Gesellschaftskonzept und den Annahmen der Chicagoer Schule: Wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, so bleiben doch in beiden Sichtweisen die Geschmäcke der Menschen konstant und beide nehmen an, dass alle Konsumenten denselben hätten, wenn sie über dieselbe Ressourcenausstattung verfügten. Die Buntheit der Welt aber könnten weder Chicago noch Bourdieu erklären.

Mohrs Ökonomie mit Geschmack erklärt viel und hält das etwas vollmundige Versprechen des Klappentextes einer „interdisziplinären Erkenntnisreise“ tatsächlich ein. Dass zunächst jedoch die Angebotsseite recht geräuschvoll auftritt und der Verlag in werbend-verbfreier Sprache „Ein Muss für Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler, Designer, Medienmenschen, Philosophen, Politologen, Ethnologen, Historiker und intellektuelle Entdecker in diesem Land“ vorschreibt, ist – nun ja, der Ausdruck drängt sich mächtig auf, Geschmackssache. Die beeindruckende Tour durch die Gebirgszüge der modernen Geisteswissenschaften hätte diesen Lärm vielleicht gar nicht gebraucht.

Titelbild

Ernst Mohr: Ökonomie mit Geschmack. Die postmoderne Macht des Konsums.
Murmann Verlag, Hamburg 2014.
536 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783867743402

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