Utopie und Marxismus

Oskar Negt und Erich Hobsbawn erkunden in ihren Büchern „Nur noch Utopien sind realistisch“ und „Wie man die Welt verändert“ die emanzipatorischen Potentiale von Utopie und Marxismus

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Utopie als eine denkerische Herausforderung zur Gestaltung einer besseren Welt stand (und steht vielfach immer noch) im Marxismus nicht in hohem Ansehen. Im Gegenteil: Die sich im Einverständnis mit dem gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte wähnenden Marxisten fürchteten die Utopie. Sie lenkte ab von der Objektivität des revolutionären Prozesses, stellte durch das subjektive Moment individueller Träumereien, als welche die Utopien abgetan wurden, diese gar in Zweifel. Hinzu kam das bunt Schillernde, das faszinierend Exotische, das „lebendige Denken“, wie Oskar Negt sie an einer Stelle seines Buchs „Nur noch Utopien sind realistisch“ nennt, das alle Utopie auszeichnet.

Dem misstrauten, wie alle Dogmatiker, die Marxisten, die im inzwischen entstandenen Einheitsgrau des realen Sozialismus eine weitere Station im objektiven Fortgang der Geschichte erkennen wollten. Dergleichen vernebelt die Gehirne und lenkt ab von den revolutionären Erfordernissen. Tragisch für die Utopie, war doch so ausgerechnet ein ihr eigentlich natürlicher Verbündeter, der Sozialismus als eine Emanzipationsbewegung auf dem Weg in eine bessere und gerechtere Welt, verloren gegangen.

In dem Maße, wie aber nun der real existierende Sozialismus den Anspruch erhob, einstmals utopisch erscheinende Menschheitssehnsüchte bereits weitgehend erfüllt zu haben, wurde die Utopie überflüssig. Doch war das Ideenreich schon Wirklichkeit? Die Geschichte lehrte anderes. Die vermeintlich fortschrittlichen Volksdemokratien realsozialistischer Prägung erwiesen sich als schnöde autoritäre Regime. Als diese dann zusammenbrachen, war von Utopie erneut keine Rede mehr. Wer wollte noch davon hören, wenn doch gerade deren bedeutsamste untergegangen war? Und war der Sieger nicht auch eine ‚alte‛ Utopie: der Kapitalismus? Wehe, das nennt ihr Utopien? Das eine wie erst recht das andere hat mit Utopien nichts zu tun. Beides ist Ideologie. Aber es hängt der Utopie nach, dass sie in Verdacht geriet, sich zu sehr mit der einen, der linken Ideologie gemein gemacht zu haben.

Es ist auch deshalb ebenso sinnig wie aufklärend, wenn Oskar Negt, seit jeher ein unkonventioneller Denker, dabei seine marxistischen Grundlagen nie aus dem Blickfeld verlierend, einen Band mit dem Titel „Nur noch Utopien sind realistisch“ vorlegt. Utopien und Realismus? Der vermeintliche Widerspruch macht den Reiz der Negt’schen Gedanken aus. Negt versetzt die Utopie, oder besser jene Denkhaltung, die Utopie ermöglicht, unmittelbar in das Politische zurück. „Politische Interventionen“ nennt Negt dies im Untertitel seines Buches. Das „überschreitende Denken“, wie er es an anderer Stelle bezeichnet, ist in der Welt der neoliberalen Eindeutigkeiten, die in kühner Anmaßung eine neue Gesetzmäßigkeit behaupten – die sich freilich anders als jene vom Marxismus hergeleitete nie einer systematischen denkerischen Überprüfung ausgesetzt hat – zur Alternative geworden, die dem ursprünglichen Ziel nach einer besseren und gerechteren Welt, in der die Menschen ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen gemäß in freier Selbstbestimmung leben (und arbeiten) können, wieder Bedeutung verschafft.

Die Beiträge, die Negt in seinem Buch publiziert hat, sind von unterschiedlicher Länge und Intensität. Immer aber sind sie an konkrete Ausgangssituationen gebunden – so etwa, wenn er in dem Beitrag „Auf der Suche nach dem Formschönen“ an den in der ‚offiziellen‛ Geschichtsschreibung des Sozialismus weitgehend unbekannten „eigensinnigen Projektierer der Zukunft“ und „ästhetischen Sozialisten“, den englischen Künstler, Kunsthandwerker, Schriftsteller und Sozialreformer William Morris (1834-1896) erinnert.

Solche längeren Texten, die eine gewisse Lesekonzentration unbedingt brauchen, rahmen die im Mittelteil des Buches unter der Überschrift „Politische Moralia“ versammelten 28 Textminiaturen ein. Es handelt sich um kurze Texte, die Negt in den Jahren 1992 bis 2005 als Rundfunkbeiträge oder regelmäßige Beiträge in Zeitungen verfasst hat. Negt nennt sie in Anlehnung an den Charakter der mit Alexander Kluge verfassten Texte „Zeitverdichtungen“. Auch sie zielen auf Einwirkung und versuchen „Veränderungsbotschaften zu übermitteln, die mit moralischen Impulsen verbunden sind“. Lässt man sich auf Negts Texte ein, dann blitzt es zuweilen auf, was die Utopie in Zeiten wie diesen, die von Krisen all überall geprägt sind, leisten kann: „Utopie ist ein Antidepressivum.“

Utopien, schreibt Negt, sind „Kraftquellen jeder Emanzipationsbewegung“. Auch der Marxismus ist eine Emanzipationsbewegung. Seitdem aber alle ‚linke‛ Theorie unter dem Versagen der Praxis à la Sozialistischem Realismus zu leiden hat, ist die Frage nach der Veränderung der Welt nur noch bedingt mit dem Nachdenken über Marx und den Marxismus zu beantworten. Gehört Marx also auf den Müllhaufen der Geschichte? Nicht für den 2012 verstorbenen englischen Historiker und Philosophen Eric Hobsbawn. Im Vorwort seines Buches „Wie man die Welt verändert“ erinnert er daran, dass der Marxismus ein „Leitmotiv im intellektuellen Konzert der modernen Welt“ war und mit seiner Fähigkeit, „soziale Kräfte zu mobilisieren“, entscheidend die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägte.

In den Beiträgen des vorliegenden Bandes, der bislang nur schwer zugängliche Texte zur Entwicklung und Wirkung des Denkens von Marx und Engels aus seinem Gesamtwerk enthält, will Hobsbawn zeigen, dass der Marxismus auch heute noch und wieder Relevanz erhält. Auch Hobsbawn hebt den emanzipatorischen Impuls für praktische Politik hervor. So schreibt er in dem Beitrag „Zum Manifest der Kommunistischen Partei“, dass dieser Klassiker zwar als historischer Text seine konkret-politische Bedeutung verloren hat, weil die Umstände heute anders sind als zur Zeit seiner Entstehung. Aber indem das Manifest einen „historischen Wandel durch gesellschaftliche Praxis, durch kollektives Handeln“ und damit die „die Erkämpfung der Demokratie“ intendierte, betont es bis heute das Primat einer „Verpflichtung zur Politik“. Dieses Primat der Politik erkennt Hobsbawn auch bei Antonio Gramsci. Auf den „originellen marxistischen Denker“, der in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren als ein Vordenker des damals populären Eurokommunismus vergleichsweise viel gelesen wurde, bezieht sich Hobsbawn an vielen Stellen seines Buchs.

Gramscis Bedeutung, so führt Hobsbawn aus, liegt eben darin, „als einer der ersten eine marxistische Theorie der Politik vorgelegt zu haben.“ Politik, so die Folgerung, ist nicht nur Bestandteil der sozialistischen Strategie, sondern als eine Art „Philosophie der Praxis“ wie Gramsci schrieb, Kern des Sozialismus selbst. Es ist nicht schwer, diesen Praxisbezug mit der heutigen Vorstellung von Zivilgesellschaft zu verbinden. Und darauf zielt auch Hobsbawn: In diesem Verständnis sind die lebens- und berufsalltäglichen Erfahrungen der Menschen nicht Entfremdungserfahrungen (klassisch: entfremdete Arbeit), sondern jeweils eine „Schule des Sozialismus“. Bildung durch Erfahrung, man könnte auch sagen: politische Bildung – das sind Voraussetzungen zur Konzeption und Gestaltung einer besseren Gesellschaft.

Auf solche Veränderungen der Rahmenbedingungen hat der orthodoxe Marxismus kaum zu reagieren vermocht. In dem Beitrag „Marxismus auf dem Rückzug (1983-2000)“ erwähnt Hobsbawn, dass auch, oder gerade in den ehemals sozialistischen Ländern „gesellschaftliche Veränderungen aus dem Geist der Aufklärung“ durch „alternative Inspirationsquellen für sozialen Aktivismus“ entstanden. Zu solchen Inspirationsquellen zählt der Autor mit Bezug auf die iranische Revolution von 1979, der „letzten großen sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts“, auch die Religion. Ein Gedanke, der durch die Entwicklungen der letzten Jahre bestätigt wurde. Für Hobsbawns Buch über Marx und den Marxismus sollte man ein wenig vorgebildet sein. Dann kann man davon profitieren, dass hier ein großer Kenner des Marxismus über denselben abseits der strengen akademischen Wissenschaftlichkeit nachdenkt und schreibt.

Das macht Marco Iorios in seiner „Einführung in die Theorien von Karl Marx“ ganz anders. Der Philosoph ist ähnlich wie einige seit den 1980er-Jahren vor allem im englischsprachigen Raum aktive Theoretiker, sehr streng darum bemüht, den Marxismus von seinem ideologischen Ballast zu befreien und ihn auf seine philosophische Substanz hin zu befragen. Der vorliegende Studienband beruht dabei auf seinem 2003 erschienen Buch „Karl Marx – Geschichte, Gesellschaft, Politik“.

Wem aber am Ende doch die Experteninterpretation, aus welchen Gründen auch immer, nicht geheuer ist, der greife zu den Originalen. Zu den großen Publikationsprojekten des 20. Jahrhunderts zählt die Edition der Marx-Engels-Werke (MEW). Von 1956 bis 1990 wurden die berühmten blauen Bände vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED in Ostberlin herausgegeben. Seit 1989 kümmert sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung um die Herausgabe. Noch beeindruckender und umfangreicher ist das inzwischen internationale Projekt der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Damit begann man bereits in den 1920er-Jahren in Moskau. Leiter des Projekts war bis 1931, als er in die Maschinerie der Stalinschen ‚Säuberungspolitik‛ geriet, der er 1938 zum Opfer fiel, Dawid Borissowitsch Goldendach, ein international anerkannter Marxist. Erst Ende der 1960er-Jahre wurde das Projekt in Moskau und Ostberlin fortgesetzt. Seit 1990 verantwortet die eigens zu diesem Zweck gegründete Internationale Marx-Engels-Stiftung die Herausgabe der MEGA.

Vom Großen wieder zurück zum Kleinen: Unzählig sind die Übersetzungen des Kommunistischen Manifests in die verschiedenen Sprachen dieser Welt. Jetzt liegt eine neue Übersetzung vor: „Et kummunistische Manifeß op Kölsch vum Marxens Karl un däm Engels Frieder. Aachzehnhundertaachunveezich.“ Übertragen ins „Kölnisch-Ripoarische un met Bildcher versin“ hat das ganze Walter Hermann-Josef Stehling. Eine Volksausgabe. Darauf dann ein Bier – Verzeihung, ein Kölsch!

Titelbild

Marco Iorio: Einführung in die Theorien von Karl Marx.
De Gruyter, Berlin 2012.
340 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783110269697

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Titelbild

Oskar Negt: Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen.
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
320 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783869305158

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Titelbild

Eric Hobsbawm: Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
448 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783446240001

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Titelbild

Et kummenistische Manifeß op Kölsch. Vum Marxens Karl un däm Engels Frieder.
Kulturmaschinen Verlag, Ochsenfurt 2014.
100 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-13: 9783981671001

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