Darf Kunst tödlich sein?

In seinem Roman „Fluchtversuch“ fragt Miguel Ángel Hernández nach der ethischen Dimension von Kunst

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wahnsinn? Aber … was ist denn die Kunst anderes? Kunst ist der reine Wahnsinn. Warum sonst macht jemand Kunst, wenn er nicht wahnsinnig ist? Und Mord? Vielleicht. Aber was, wenn man den Mord als eine Kunstform betrachtet?“ Auf eine solch brutale Auffassung von Kunst stößt der Leser des Debütromans von Miguel Ángel Hernández Navarro, der zeitgenössische Kunst an der Universität von Murcia lehrt. So konfrontiert die Kunstdozentin Helena im Roman ihre Studenten mit den fragwürdigen Werken des gesellschaftskritischen Künstlers Jacobo Montes. Durch Provokation das Bewusstsein der Menschen aufzurütteln und hierdurch die Ungerechtigkeit der Welt sichtbar zu machen – das ist es, was die fiktive Kunstfigur Montes als Zielsetzung ihrer Kunst definiert. Während eine solche Ästhetik für Studierende der Kunst meist reine Theorie bleibt, wird sie für den Protagonisten Marcos düstere Praxis und die Grenze zwischen Leben und Kunst wird für ihn zu einem Balanceakt, welcher das Leben des Flüchtlings Omar real bedroht. Konnte Omar aus der Holzkiste, in die ihn Montes gesperrt hatte, um die katastrophalen Bedingungen eines Lebens als Flüchtling kunstvoll sichtbar zu machen, entfliehen? Oder hatte der Künstler die Kiste von oben vernagelt, um eine Flucht unmöglich zu machen? Diese Frage bleibt auch am Ende des Romans offen und der Leser muss seine eigenen Schlüsse ziehen.

Wie weit darf Kunst gehen? Dürfen Ethik und Ästhetik getrennt voneinander existieren? Darf einem Kunstwerk eine für die Gesellschaft schädliche Handlung zugrunde liegen? Hat ein Künstler das Recht, das Leben eines Flüchtlings aufs Spiel zu setzen, um hierdurch auf Missstände in der Flüchtlingspolitik hinzuweisen? Diese Fragen stellt der Roman Fluchtversuch an den Protagonisten Marcos und an seine Leser, beantwortet sie jedoch nur zum Teil. Der Autor lässt den Protagonisten erkennen, dass sein Glaube, die Kunst von Montes könne die Welt verändern, ein Irrglaube war. Die Kunst des zeitgenössischen Künstlers wird somit durch Marcos als unterschiedslose Replik auf die gesellschaftlichen Missstände demaskiert, indem er aufzeigt, dass diese sich in einem tautologischen Widerspruch verliert.

Dass der Künstler sich von seinem Gegenstandsbereich lösen kann, um nicht nur auf Ausstellungen Bewusstsein für gesellschaftliche Missstände zu schaffen, sondern auf produktive Weise die Flüchtlingspolitik zu ändern, zeigt sich in der heutigen Realität bei Künstler Daniel Kerber, der in dem größten Flüchtlingscamp Saatari eine Innovations- und Planungsagentur gegründet hat, um aus dem Camp einen menschlicheren Ort zu machen. Der gesellschaftskritische Künstler Montes, den Hernández für seinen Roman erschuf, vollzieht diesen Übergang nicht, und so zeigt seine Kunst zwar Missstände auf, überwindet diese jedoch nicht.

Nicht zum ersten Mal wird das Verschwinden von Afrikanern literarisch wirksam, denn schon in zahlreichen Romanen wurde deren Verschleppung aus ihren Heimatländern thematisiert. 1976 zum Beispiel erzählt Alex Haley in seinem Roman Roots die Geschichte eines afrikanischen Mannes, der von vier Männern überfallen, in Ketten gelegt und auf ein für die amerikanischen Kolonien bestimmtes Sklavenschiff verschleppt wurde. Heutzutage hat die prekäre Geschichte von Afrikanern, die ihr Land verlassen müssen, jedoch ganz neue Dimensionen angenommen. So wird in Àngel Hernández’ Roman die Flüchtlingsproblematik zum literarischen Thema.

Mit klarer Sprache gelingt es dem Autor, die Handlung mit theoretischen Überlegungen über die Aufgaben und Grenzen der Kunst zu verbinden. Insbesondere dient ihm hierfür die Figur des Kunststudenten Marcos, da dieser seine Freizeit meist in einsamen Stunden mit theoretischer Lektüre verbringt. Hierdurch integrieren sich kunsttheoretische Fragestellungen gut in die Handlung des Romans und treiben diese sogar voran, anstatt als bloße Überlegungen des Autors neben der Handlung zu stehen.

Literarisch hochwertig ist der Roman von Miguel Ángel Hernández jedoch nicht. Zu etwas Besonderem wird Fluchtversuch weder aufgrund der Sprache noch wegen der Gestaltung der Handlung oder der psychologischen Tiefendimension der Charaktere, sondern aufgrund der Fragen, die der Roman an die Kunst und an die Leser stellt: Darf Kunst bis zum Wirklichsten, bis zum Tod vordringen?

Titelbild

Miguel Ángel Hernández: Fluchtversuch. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Jannike Marie Haar und Carsten Regling.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.
256 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132666

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