Leben – ein außer Kontrolle geratenes Experiment

Über Richard Powers’ großartige Orpheus-Erzählung

Von Holger WackerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Wacker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marcel Camus hat 1959 mit „Orfeu Negro“ den Mythos von Orpheus und Eurydike in den brasilianischen Karneval übertragen – mit Komplikationen der Liebe im Beziehungsnetz, einem Musiker, dessen Spiel eine Naturkraft ist und einem Tod, der durchgehend präsent ist. Die Liebenden sind am Ende tot und vereint, ein neues Paar erzeugt Zyklizität. Die narrative Trajektorie ist hier beschrieben durch die Parameter Liebe, Gewalt und Musik.

Richard Powers ist einer der Schriftsteller, die in ihren Romanen versuchen, eine jeweils eigene Form zu finden, in der die Geschichte der Hauptfiguren am sinnvollsten zu erzählen ist. Seit seinem Debüt „Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“ integriert er in seine Erzählungen Kommentare mit essayistischem Charakter, ohne das fiktionale Moment zu beschädigen. Auf diese Weise verfährt er auch in „Orfeo“. Sein Orpheus trägt den Namen Peter Els und ist ein siebzigjähriger Komponist im Ruhestand, der einmal die Woche in einem Seniorenheim Menschen an seine Vorstellung von guter Musik heranführen will und privat an einem gefährlichen, reizvollen Projekt arbeitet. Reizvoll, weil er, der auch Chemie studierte, versucht, musikalischen Code in die DNS des Bakteriums Serratia marcescens einzubauen, gefährlich, weil er dadurch unter Terrorverdacht gerät.

Als Els’ geliebte Hündin Fidelio stirbt, ruft er in seiner Verzweiflung den Notruf 911 an. Später stehen zwei Polizisten vor seiner Tür, die Auffälligkeiten bemerken. Am Morgen nach Fidelios Begräbnis im Garten suchen ihn zwei Mitarbeiter der Joint Security Task Force auf. Damit ist er als möglicher Terrorist markiert.

Im Jahr 2004 verhaftete das FBI unter Hinweis auf den Patriot Act den Künstler Steve Kurtz als des Bioterrorismus verdächtig. Kurtz rief 911 an, als seine Frau an Herzversagen starb, die Polizei fand bei ihm die Technologien, die er für seine BioArt-Installationen verwendete. Obwohl sich der Verdacht als falsch erwies, bedurfte es vier anstrengender Jahre, bis Kurtz in der Öffentlichkeit wieder einen sauberen Namen hatte. Dieses Ereignis lieferte vermutlich die Prämisse für den Roman von Richard Powers.

Els’ Haus wird von Menschen in Schutzanzügen leergeräumt, als er selbst nicht anwesend ist. Els hält seine letzte Veranstaltung im Seniorenheim ab, bekommt Unterstützung von seiner Exfrau und von seiner langjährigen Mitarbeiterin, die damit ein hohes Risiko eingeht, und begibt sich mit seinem Wagen auf eine lange Autofahrt. Er versteckt sich, gerät in den Brennpunkt des medialen Interesses und ist plötzlich der „Bioterrorist Bach“. Während seiner Fluchtfahrt erinnert er sich an ihm wichtige Stationen seines Lebens. Von seiner Tochter erhofft er sich Hilfe. Els versucht, die größte Katastrophe seines Lebens in ein Kunstwerk zu transformieren. Powers erzeugt in „Orfeo“ ein bizarres Ende.

Powers arbeitet mit zwei Erzählsträngen, die sich abwechseln, zumeist übergangslos. Der erste Erzählstrang handelt von Els auf der Flucht, der zweite davon, wie er zu dem Menschen und Komponisten wurde, der in das Fadenkreuz der Joint Security Task Force geraten ist. Mit Querstrichen hervorgehoben durchsetzen den Text kurze Epigramme, viele sind Zitate von John Cage. Diese Epigramme muten zu Beginn kryptisch an, erschließen sich aber im Verlauf der Lektüre dem Verständnis: „Ich wollte mir weismachen, dass Musik der Ausweg aus aller Politik ist. In Wirklichkeit ist sie nur ein anderer Zugang dazu.“

Powers schreibt in lyrischen Passagen über Musik und mit einem Hauch von erotischer Faszination über Wissenschaften. Besonders die Beschreibung von Olivier Messiaens Komposition und Aufführung des Quartetts für das Ende der Zeit in einem Lager während der Herrschaft des Nationalsozialismus sowie das Finale, in dem Powers Els’ Abstieg in die amerikanische Unterwelt schildert, sind zwei Stücke bemerkenswerter Literatur, in denen kunstvolles Schreiben und emotionales Erzählen auf höchstem Niveau vereint sind.

In Anlehnung an Thomas Mann vertritt Powers die Ansicht, Kunst sei ein Kampf, in Anlehnung an Picasso und Ellington, sie müsse gefährlich sein. Was „Orfeo“ zur Herausforderung werden lässt, ist vor allem diese Perspektive auf die Kunst in Verbindung mit der Sphäre des Politischen und der Botschaft, wahrer Kunst beziehungsweise der Musik wohne eine subversive Kraft inne.

Titelbild

Richard Powers: ORFEO. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Manfred Alliè.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
496 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783100590251

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