Erinnerung im Wandel

Der Sammelband „Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ beleuchtet Narrative des Erinnerns der letzten zehn Jahre

Von Veronika SchuchterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Schuchter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Forschung der letzten zwei Jahrzehnte zu literarischen Verarbeitungen von Holocaust und Nationalsozialismus fokussierte stark auf die Aspekte Gedächtnis und Erinnerung, was aus der Flut von biografischen Familienromanen der zweiten und dritten Nachfolgegeneration und dem Einzug einer die Erinnerung selbst literarisch reflektierenden Literatur resultiert. Der Trend zum Erinnerungsroman in diesem reflexiven und rekonstruierenden Sinn ist ungebrochen. Für das letzte Jahrzehnt lassen sich allerdings noch andere Tendenzen feststellen, denen der von Torben Fischer, Philipp Hammermeister und Sven Kramer in der Reihe „Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik“ herausgegebene Sammelband nachgeht. Der Titel „Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ beugt schon der problematischen Vermischung dieser beiden Gegenstände vor, wie sie sehr häufig anzutreffen ist, wiewohl gerade „die Disparität von Täter- und Opfergedächtnis sowie -erinnerung“ selbst zum literarischen Sujet geworden ist.

Der Band wird von einem sehr differenzierten und pointierten, einführenden Beitrag der Herausgeber eröffnet, der einen schönen Überblick über die Entwicklungslinien der letzten zwölf Jahre bietet. Ein Blick auf alle Beiträge des Bandes zeigt, dass neue literarische Tendenzen im Bezug auf die Thematik nicht unbedingt nur aus dem generationellen Wechsel der Schriftsteller und damit der veränderten Perspektive geschuldet ist. Feststellen lässt sich außerdem eine „Ausdifferenzierung der Erinnerungsliteratur hin zu Formen metahistoriographischen und metafiktionalen, vielleicht sogar ‚meta-erinnerungskulturellen‛ Erzählens“.

Die Diversität von inhaltlichen, ästhetischen und narrativen Herangehensweisen spiegelt sich in der Zusammenstellung der Beiträge. Neben Beiträgen über vielrezipierte und öffentlichkeitswirksame Texte wie Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ überzeugen gerade solche über weniger bekannte Werke, etwa Kevin Vennemanns 2005 fast zeitgleich erschienener Roman „Nahe Jedenew“. Carola Hähnel-Mesnard analysiert, wie ein Autor der Nachfolgegeneration die Opferperspektive übernimmt und inszeniert, ohne in die von Ruth Klüger attestierte Falle der „Verkitschung“ zu tappen. Vennemann, so die von Hähnel-Mesnard überzeugend dargelegte These, stellt sich in den Kontext einer moralisch verpflichteten, engagierten Literatur, ohne diese aber mit dem sonst häufig für diese Zwecke eingesetzten Instrument des Realismus zu arbeiten. Stattdessen setzt er auf Abstraktion, verzichtet auf eine historische Verortung seiner Darstellung eines Pogroms und macht es damit langfristig aktualisierbar. Neu ist das ästhetische Konzept, das „Narrativität, Linearität und Kohärenz infrage stellt und es so vermeidet, geschichtliche Gewalt und Trauma-Erfahrung in eine konventionelle erzählerische Ordnung zu überführen“, natürlich nicht, man denke nur an Ilse Aichingers 1948 erschienenen Roman „Die größere Hoffnung“.

Einen völlig anderen Zugang wählt Thomas Meinecke in seinem Roman „Hellblau“, den Axel Dunker in seinem Beitrag „Auschwitz im Pop-Roman“ behandelt. Auch wenn Meinecke zweifellos ästhetische Techniken der Pop-Literatur anwendet und Pop als „eine Praxis“ bezeichnet, ist es dennoch fragwürdig, ob gerade dieser Autor, wie der Aufsatztitel suggeriert, repräsentativ für den Umgang der Pop-Literatur mit der Shoah gelesen werden kann – denn, wie Dunker selbst festhält, Meineckes Texte operieren auf einer diskursanalytischen Metaebene, die dem selbstreferenziellen Pop nicht inhärent ist. Präzise und kritisch analysiert Dunker, wie Meinecke dieses als ästhetisches Programm verstandene Konzept der „performative[n] Darstellung“ von Diskursregeln, die zugleich „auf eine Dekonstruktion dieser Regeln hinausläuft“, umsetzt.

Das Erinnern der Shoah aus jüdischer Perspektive umkreist Iris Hermanns Beitrag über drei Texte der Wiener Autoren Doron Rabinovici und Robert Schindel. Damit behandelt sie auch die Frage nach einer jüdischen Identität und ihrer Imagination in literarischen Texten. Schindels Roman „Gebürtig“ steht zudem im Kontext einer Österreichischen Literatur, die das Erinnern noch viel vehementer einfordern muss als die Bundesdeutsche. Nicht zufällig ist sein Text daher in der Waldheimära angesiedelt, in der der Mythos österreichischen Opfertums langsam zu bröckeln beginnt. Schindl lässt Juden und Nichtjuden, Nachfahren der Opfer- und der Tätergeneration aufeinandertreffen und thematisiert die Divergenz zwischen kollektiver und individueller Identität. Rabinovicis Figuren hingegen, so Hermanns Befund, erlauben es „jüdische Identität […] als flüssige Identitäten zu denken, die die alten kollektiven Identitäten als Skripte verwenden, um neue, kaleidoskopartige Identitätsentwürfe, die sich durch ihre generelle Flexibilität auszeichnen, zu entwerfen“.

Ein schöner Service der Herausgeber ist die im Anhang befindliche Auswahlbibliografie von zwischen 2000 und 2012 erschienenen deutschsprachigen Prosatexten, die sich mit dem Nationalsozialismus und der Shoah auseinandersetzen. Fast 80 literarische Werke sind darin verzeichnet. Sowohl die Quantität als auch der Kanonisierungsgrad der Autoren und Autorinnen verdeutlichen den immensen Stellenwert, der der Thematik in der deutschsprachigen Literatur auch im beginnenden 21. Jahrhundert zukommt. Kanonisierte AutorInnen wie Grass, Jelinek, Handke und Sebald sind genauso darunter zu finden wie literarische DebütantInnen. Auch alterstechnisch ist das Feld gemischt, von der Täter- und Opfergeneration bis zur zweiten und mittlerweile dritten Nachfolgegeneration.

Bis auf kleinere Schwächen einzelner Beiträge ist die Qualität durchwegs hoch, wobei hervorzuheben ist, dass nicht nur verschiedene Autoren und Texte behandelt werden, sondern beinahe immer auch eine erinnerungspolitische Verortung stattfindet. Obwohl es sich in den meisten Beiträgen um Einzeltextstudien handelt, kommt so auch die Einbettung in größere, literaturhistorische- und soziologische Zusammenhänge nicht zu kurz.

Titelbild

Torben Fischer / Philipp Hammermeister / Sven Kramer (Hg.): Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Band 84.
Rodopi Verlag, Amsterdam; New York 2014.
352 Seiten, 73,00 EUR.
ISBN-13: 9789042038509

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