Ein langer Weg der Befreiung von der Vergangenheit

Der Roman „Der Himmel auf Ihren Schultern“ von Sergej Lebedew

Von Ksenia DyakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ksenia Dyakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sergej Lebedew (geb. 1981), ein Vertreter der jungen Generation russischer Schriftsteller, thematisiert in seinem bis heute einzigen Roman Der Himmel auf ihren Schultern die Gulags und die Verbrechen der stalinistischen Führung gegen das eigene Volk. Der Autor rollt dieses in der russischen Literatur seit Solschenizyn klassisch gewordene Thema aus einem neuen Blickwinkel auf – aus der Perspektive des Generationengedächtnisses, das die kurze Spanne eines einzelnen Menschenlebens bei weitem übersteigt. Vor grausame historische Tatsachen stellt Lebedew einen Menschen, der weder Teilnehmer noch Augenzeuge dieser bereits vergangenen Ereignisse sein kann. Dieser Protagonisten, der zugleich der Erzähler ist, wird nun mit der Verpflichtung konfrontiert, dieses kulturell-historische, allgemeine Gedächtnis zu erwerben und es als sein persönliches anzunehmen, ja es durch sich selbst wie das eigene Blut fließen zu lassen. Dabei geht es um das Gedächtnis in seiner Gesamtheit – der Opfer wie die Täter. Just die Einheit des Blutes bestimmt diese historische und nationale Teilhaftigkeit an den vergangenen Ereignissen:

„Es war mein Blut – ich, der es immer wie eine Flüssigkeit behandelt hatte, bedeckte die Wunde flüchtig mit einem Wegerichblatt und leckte mir mechanisch die aufgesprungenen Lippen. Ich fühlte seine Raserei, seine Wut, seinen Zorn, als rebelliere mein Blut, das älter war als ich, in diesem Moment gegen den tauben Koloss des Waldes“.

Im Roman tritt alles in der maximalen Verallgemeinerung auf, hinter jeder Einzelheit versteckt sich ein Symbol. Da die Gegenstandswelt metaphorisiert ist, sind Zeit- und Ortsverweise im Romantext eine Seltenheit – und selbst diese entbehren jeglicher Konkretheit. Durch die Erwähnung einzelner Details kann man vermuten, dass das Beschriebene in der Periode von den 1980er bis zum Anfang der 2000er Jahre – von dem Zusammenbruch der Sowjetunion bis zum Entstehen des neuen Russlands – situiert ist. Der Roman kann auch als road novel interpretiert werden: Er erzählt von einer Reise auf der Suche nach Erinnerungen, vom Weg zum eigenen Gedächtnis – wie paradox das auch immer klingen mag. Und dieser Weg führt den Protagonisten von Moskau bis zur äußersten Grenze Europas, in den russischen Norden.

Der Weg der Hauptfigur ist gleichzeitig real und symbolisch: Er bewegt sich von den unklaren Vermutungen gerade zum dunklen Kern der Vergangenheit, zum schweren Erbe des Bluts, zu den schrecklichen Gestalten des Kollektivgedächtnisses, um diese Vergangenheit gleichsam zu berühren, sich für eine gewisse Zeit mit ihr zu vereinigen und dadurch paradoxerweise just die finale Freiheit von ihr zu erlangen. Nur auf diese Art und Weise kann das neue Leben beginnen.

Vor den Augen des Lesers entsteht die Geographie der Geschichte, die jedoch nicht als ganzheitliches Bild, sondern als Sammlung einzelner Skizzen reproduziert wird: aus Erinnerungen und Erkenntnissen – die Geschichte des russischen Volks, an der Landkarte gezeichnet. Das Gedächtnis, die Erinnerung werden im Roman in unterschiedlichen Aspekten analysiert: als das einheitliche Kollektivgedächtnis und als Zeitenbruch, als der Wunsch, etwas im Erinnerung zu behalten, und umgekehrt als das Streben, etwas aus dem Bewusstsein zu verdrängen, für immer zu vergessen. Der Verlust des nationalen Kollektivgedächtnisses wird den Zeitgenossen schon am Anfang des Romans vorgeworfen:

„Mein selektives Gedächtnis wurde zum Mordwerkzeug. Zu viel von mir selbst lag darin, und das vollblütige, starke Leben hat gleichsam insistiert, es gäbe keine Trauer, keinen Verlust für das Sein – das Leben bezwinge und tilge alles“.

In diesem Sinne wird genau das Wiedererlangen dieses Gedächtnisses zum Ziel, seine Verkörperung in der Sprache, die ein wichtiges Bindeglied für jede Nationalgemeinschaft ist:

„Das Erbe des Bluts, das Erbe der Erinnerungen, das Erbe fremden Lebens – alles lechzt nach Worten, sucht nach Sprache, will sich erfüllen bis zum Schluss, will sich vollenden, erkannt und beweint werden.

Ich sehe und erinnere mich. Und dieser Text ist wie ein Denkmal, wie eine Klagemauer, wenn die Toten und Trauernden sich nirgendwo treffen können als an der Mauer der Worte, die Tote und Lebende vereint“.

Die Romanhandlung äußert sich als das Rätsel der dunklen Vergangenheit des sogenannten zweiten Großvaters. Dieser alte Mann rettet dem Protagonisten zwei Mal das Leben und bleibt für ihn dennoch eine erschreckende und abstoßende Person. Die Bewegung auf die Vergangenheit zu, die Suche nach den Kollektiverinnerungen des eigenen Volkes beginnt als eine Familiengeschichte, als ein Versuch, die Lücke in der Biographie des zweiten Großvaters – eines mit dem Protagonisten nicht verwandten alten Mannes – zu schließen. Diese Suche trägt nicht so sehr die Züge eines Krimis oder Thrillers, sondern hat vielmehr etwas Mystisches: In den Alltagsgegenständen schlummern stets die Zeichen des Vergangenen, in den Träumen erkennt man die Prophezeiung von neuentdeckten Erinnerungen: „Ein Hellseher des Gedächtnisses – das wurde ich im Traum“. Die geographische Fortbewegung spiegelt die innere Bewegung des Protagonisten zum Zentrum des Verständnisses wider: Vergangenheit muss angenommen und beseitigt werden.

Ein symbolisches Merkmal, die Besonderheit am zweiten Großvater ist seine Blindheit. Die Sehunfähigkeit erscheint im Roman wie eine Sackgasse der Zeit: Die sichtbare Gegenwart ist stehengeblieben, und seitdem ist der von der Blindheit Befallene dazu verurteilt, nur mit den visuellen Gestalten seines Gedächtnisses zu leben. Die Blindheit ist das Fangeisen, die Falle, in der das Vergangene auf den Menschen lauert: „In seinem Inneren, wo er zur Finsternis verurteilt war, wurde er von den Ausgeburten seiner eigenen Erinnerungen zerfleischt“. Die Blindheit wird zur Hauptmerkmal des zweiten Großvaters. So wird im Roman die Problematik der Sperre in der Vergangenheit, die Unmöglichkeit einer Befreiung eingeführt:

„In seinem Bewusstsein hielt die Kluft zwischen den Zeiten an und vergrößerte sich sogar. Seine gänzlich ins Dunkle eingeschlossene Vergangenheit konnte nicht auf die Gegenwart treffen, und wenn sie es versuchte, dann verband sich das nichtsehende Bewusstsein mit dem, was ihm Geruchssinn, Tastgefühl, Gehör und einige heil gebliebene Bilder, in die es sich verbissen hatte, zutrugen. Doch konnten die verschiedenen Zeiten dadurch nicht zusammenkommen. Die blinde Vergangenheit beherrschte lediglich die blinde Gegenwart mit Hilfe einer verborgenen Angst“.

Symbolisch ist auch, dass der zweite Großvater genau am Epochenbruch aus dem Leben scheidet, wenn sich die sowjetische Realität zur neuen Wirklichkeit wandelt. Dabei vererbt er sein Blut dem Protagonisten als seinem nicht leiblichen Enkel, schenkt diesem ein zweites Leben und damit zugleich das eigene Gedächtnis – ein ungeheures Erbe:

„Nun aber zerfiel das Land, die Ämter stellten ihre Tätigkeit ein, frühere Dienststellungen und Titel hatten keine Bedeutung mehr, Schulterklappen, Unterscheidungsmerkmale, Dokumentenvordrucke, Aushänge verloren jeglichen Sinn. Der zweite Großvater war in diesem Chaos spurlos verschwunden, als habe er seinen Abgang von langer Hand vorbereitet“.

Man muss auf den Unterschied zwischen dem russischen Originaltitel und dessen Abwandlung in der  deutschen Übersetzung hinweisen. Wörtlich heißt das Buch auf Russisch „Die Grenze des Vergessens“ (Predel zabvenija), was das Thema der Erinnerungen, die die neue Generation im Gedächtnis behalten muss, ins Zentrum des Romans stellt. Der deutsche Titel „Der Himmel auf ihren Schultern“ (ein Zitat aus dem Romantext) legt dagegen den Akzent auf die Opfer selbst, auf die Menschen, die diese Tragödie zu ertragen hatten.

Die Aufdeckung der Verbrechen der Vergangenheit ist umso ehrlicher, da es in dieser Tragödie nichts ostentativ Künstlerisches, kein explizit poetisches Potential gibt. Die zahlreichen Opfer wurden nicht kanonisiert oder zu Helden erhoben. Sie waren keine im Vaterländischen Krieg Gefallenen, keine Märtyrer ihres Glaubens oder dieser oder jener revolutionär-reformatorischen Idee im Namen der kommenden Generationen. Sie waren schlichtweg Menschen, denen die Entscheidung über das eigene Schicksal entzogen worden ist. Das Thema der absurden Sinnlosigkeit dieser Opfer bildet im Roman den zweiten großen Schwerpunkt neben dem Thema der Erinnerungen.

Just das Schamgefühl angesichts dieser Opfer bewirkt, dass die Erben eines solchen historischen Gedächtnisses so schnell wie möglich die Augen vor ihm verschließen, die Erinnerung in die geheimsten Bewusstseinswinkel für immer von sich weisen möchten – nicht erinnern, nicht beerben. Zu unbequem, zu unangenehm ist dieses Gedächtnis: „Mir schien, dass jeder der Erwachsenen in unserem Haus in seinem tiefsten Inneren Erleichterung empfand, dass der zweite Großvater so verschlossen war und damit seine Vergangenheit unaufgedeckt blieb“.

Die wichtigsten künstlerischen Verfahren, auf denen der Romantext beruht, sind der Vergleich und die Metapher. Und solange das Erzählen um das Kollektivgedächtnis kreist, findet Lebedew schöne literarische Formen zur Erklärung von dessen Mechanismen:

„Die Zeit, über die der zweite Großvater hätte sprechen können, versuchten die Erwachsenen, wenn nicht zu vergessen, so doch einem persönlichen Erinnern anzupassen. Sie zerstückelten diese Zeit in winzige Empfindungen und private Erlebnisse – wie vereist der Hügel an der Schlucht gewesen war, die heute zugeschüttet ist; was für Nüsse man eines Tages auf dem Markt für das Marmeladekochen gekauft hatte […]. Eine solche Vergangenheit war wie Schlüssel, Portemonnaie und Papiere – man konnte sie sich bequem in die Taschen stecken, wenn man das Haus verließ. Sie war klein und mundgerecht, und jeder hütete sein winziges Areal persönlicher Erinnerungen – keiner pflegte ein gemeinschaftliches Gedächtnis“.

Hinter solcher Manipulation mit dem persönlichen Gedächtnis steckt die Angst vor etwas Größerem, vor der einen zentralen Erinnerung; und es handelt sich bei Beschreibungen dieser Art um einen subtilen Vorwurf, um die Aufforderung, im Umgang mit dem eigenen Gedächtnis ehrlich zu sein.

Für die Schreibweise des Autors ist typisch, dass die nacheinander in das Blickfeld und damit in den Bewusstseinsfokus geratenen Gegenstände in der Vielfältigkeit ihrer Bedeutungen dargestellt werden, die sie in sich potenziell einschließen. Sie erscheinen in der ganzen Vielschichtigkeit ihrer Symbolik. Fast jedes künstlerische Detail wird so auch in seiner übertragenen Bedeutung wahrgenommen: „Ich bemerkte, dass der Pfad in der Dämmerung auf einmal die Kennzeichen eines konkreten, erkennbaren Ortes verlor, dass er Wirklichkeit und Abbild miteinander vereinte“ – dieser Auszug ist exemplarisch für die Technik des Autors im Umgang mit den Erscheinungen des Alltags. 

Genauso ist jede Figur im Buch eine verallgemeinerte Gestalt, die keine konkreten Züge trägt, sondern in deren Erscheinung die Züge der vorherigen Generationen zum Vorschein kommen. Kein Gesicht ist deutlich, kein Name ist genannt. Der Protagonist, der Erzähler, wird niemals im Roman beim Namen genannt; sein mit ihm nicht verwandter Großvater ist bloß ein zweiter Großvater. Etwas Namenähnliches hat nur ein Panzersoldat – „Onkel Wanja-Eisenhals“, aber es ist dabei klar, dass ein Name wie Onkel Wanja, auch von Tschechow abgesehen, universal (russischer Iwan) ist wie ein Name von jedem und niemandem.

Lebedew schreibt auf eine meditative Weise: Von einer Assoziation zu einer Erinnerung enthüllen sich die Bedeutungen von Bildern; der ihnen zugrunde liegende Sinn wird erläutert, ihre Symbolik wird erklärt. Die Folge davon ist das im Ganzen ziemlich langsame Erzähltempo. Eine solche Schreibweise ist poetisch und atmosphärisch zugleich, jedoch ist diese Meditation in keinem Augenblick positiv, ganz im Gegenteil – es scheint, dass kein anderes Wort auf den Seiten des Buches so oft vorkommt wie der Tod. Die Menge der Beschreibungen und Assoziationen ist absichtlich ‚anatomisch‘, und genau das ist die Anatomie des Todes – die Verwesung, der Modergeruch, der Prozess der langsamen, qualvollen Zersetzung. Es scheint, als wäre der den Leser ständig erfüllende Wunsch, sich von der Omnipräsenz des Todes zu distanzieren, auch ein Teil der Autorintention: Auf diese Weise soll die emotionale Schwierigkeit beim Durchschreiten des gewählten Weges demonstriert werden, auf dem ein Mensch gleichsam zum Augenzeugen von Verbrechen der Vergangenheit wird.

Die Schreibweise Lebedews ist der ständige Bewusstseinsstrom, während seine verbalen Bilder der abstrakten Malerei am nächsten sind.

Unter den zeitgenössischen Schriftstellern verweist dieser Erzählstil beharrlich auf Peter Handke. Typisch für beide ist das ‚geologische‘ Verfahren, sich den Raum durch den Prozess der Beschreibung anzueignen. In diesem Sinne wird der geeignete Raum mit den Gefühlen und Assoziationen des Erzählers zusammengeführt, so dass die Außenwelt der persönlichen Ansicht und den individuellen Kontexten unterworfen wird.

Gleichzeitig muss man eine gewisse überschüssige Konzentration an metaphorischen Bildern, ihre übermäßige, manchmal ermüdende Dichte feststellen. Durch den Überfluss der Assoziationen, die wie Strahlen von jeder alltäglichen Kleinigkeit ausgehen, wird es ab und zu schwierig, den roten Faden des Erzählens nicht zu verlieren. Der überflüssigen Analyse wird jedes Unterhaltungsmoment geopfert. Probleme der proportionalen Unausgeglichenheit dieser beiden Funktionen im Romantext (so zum Beispiel das Fehlen jeglicher Dialoge) sind nicht von der Hand zu weisen. Dem Werk fehlt tatsächlich eine Handlung, da die Ereignisse so gut wie ausnahmslos durch die Überlegungen und Reflexionen des Protagonisten ersetzt werden. 

Obwohl der Erzählton sehr düster ist, gewährt das Ende des Buches eine neue Hoffnung. Der Roman endet mit der Versöhnung der Generationen, mit dem Erleben des Leidens bis zu seiner Absolutheit, bis zur Grenze, und mit der Befreiung von diesem Leiden. So erfolgt die Überwindung der Vergangenheit, ohne diese auszulöschen – eine Befreiung, die den Weg für das zukünftige Leben weist.

Das, worüber man nicht reden darf, muss doch gesagt, ausgesprochen werden. Man darf nicht vergessen, aber zugleich darf man nicht das neue Leben mit dem ständigen Wiedererleben des Vergangenen vergiften, es unter Schuldgefühlen begraben. Um sich von der Vergangenheit zu lösen, darf man nicht von ihr weglaufen, sondern muss selbst den ganzen qualvollen Weg ihr entgegen gehen. In diesem Sinne bildet der Roman die weitere Entwicklung von der Lagerthematik, die ihren Anknüpfungspunkt nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Zukunft hat.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sergej Lebedew: Der Himmel auf ihren Schultern. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Franziska Zwerg.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
332 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100425102

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