Die Macht über die Bilder

Dreizehn Jahre nach 9/11 ist Anne Beckers Studie über die Ikonografie des Terrors aktueller denn je – und wurde trotzdem längt von der Geschichte eingeholt

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zeiten, in denen die Medien voll sind von neuen Schreckensmeldungen aus dem Nahen Osten, und eine Debatte über die Macht des propagandistisch benutzten Bildes die Auseinandersetzung um den IS-Feldzug in Syrien und im Irak beherrscht, ist ein Buch über die Anschläge des 11. September 2001 als ‚Bildereignis‘ aktueller denn je. Oder ist es längst veraltet? War vor zwei Jahren die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit 9/11 an einem toten Punkt angelangt, so ist sie heute zumindest wieder in aller Munde; gerade, weil seit den Anschlägen eines der meistdiskutierten Themen die Manipulation der Medien durch Al-Qaida darstellt. Karlheinz Stockhausen sprach seinerzeit von dem Terrorakt als einem der größten Kunstwerke überhaupt und erntete in der Sache mit Sicherheit berechtigte, wenn auch teils etwas fehlgeleitete Kritik. Jean Baudrillard verwies auf den Konflikt zwischen Realität und Simulation – das scheinbar ästhetisch Enthobene des medialen Bildes, das gleichzeitig einen blutigen Einbruch in die Realität bedeutet. In einem wenig beachteten, kurzen Aufsatz bezeichnete Boris Groys die Penetration der Türme durch die Flugzeuge äußerst provokant als Liebesakt des radikalisierten Islamismus, der dem Westen eine Art fleischliches Erleben zurückgeben wollte und ihn aus der Baudrillarschen Welt der ewigen Simulation zu befreien gedachte.

All diese Theorien fußen weniger auf den Anschlägen als politischem Ereignis oder gar auf dem realen Erleben des ‚Schlachtfeldes 9/11‘ mit Tausenden von Leichen, sondern auf der suggestiven Macht der Bilder. Dass dies ein problematisches dialektisches Feld ist, erkennt auch Anne Becker in ihrer Studie. Tatsächlich sind es vor allem zwei bildliche Eindrücke, die jene Dialektik ausdrücken: Der Moment des Einschlags der Flugzeuge in die Türme und der so genannte ‚Falling Man‘, jener künstlerisch-inszeniert anmutende, sich gerade aus einem brennenden Turm in den sicheren Tod herausstürzende verzweifelte Mann. Diese Bilder zeigen einerseits die Ästhetik des Grauens, mit der sich die Terroristen ins westliche Bewusstsein drängen wollten; andererseits verweisen sie aufgrund ihrer Ästhetisierung wiederum auf jenes viel beschworene irreale Element der Anschläge, das sich dem Betrachter offenbart.

Becker spricht in ihrer Arbeit von einem öffentlichen Bilderkanon und bezieht sich hierbei auf Edmund Burkes Theorie des Erhabenen, so etwa, wenn Thomas E. Franklins „Raising the Flag at Ground Zero“ sich bewusst auf die berühmte Fotografie „The Raising of the Flag on Iwo Jima“ bezieht, jener wohl populärste Verweis auf die Ikonisierung des Ereignisses, das in Verbund mit dem „Pathetisch-rhabenen“ den Mittelpunkt der Analyse darstellt. Die Grundidee hierbei ist, dass ein Ereignis wie 9/11 narrative mediale Strukturen zunächst auflöst, ihnen entgegenarbeitet und so durch eine endlose Bildweieerholung im Bewusstsein des Zuschauers eingebrannt wird, bis man Lösungen gefunden hat, wie man wieder die Herrschaft über die narrative Struktur gewinnen kann und damit die mittlerweile verbreitete Angsterfahrung durch kontrollierte Bilder wie „Raising the Flag at Ground Zero“ sowie der Inszenierung der Feuerwehrleute etwa als Helden zu dämmen.

Tatsächlich lässt sich in Beckers rein medien- bzw. bildwissenschaftlichen Ansatz interessanterweise ein narratives Konzept hineinlesen, das man getrost auch auf die Ikonisierung in Film, Comic (auch wenn beides aufgrund dessen, dass es sich um Bildmedien handelt, naheliegend ist) oder Literatur übertragen kann: Der Held wird eine politische Leitfigur, dies führt zu solch seltsamen Ergebnissen, wie dem „FDNY Calendar of Heroes 2003“. Im steten Rekurs auf die antike Mythologie gelingt Becker hierbei eine ansehnliche Transferleistung, auch wenn ein Weiterdenken dieser Ikonografie in weitere Bereiche kultureller Artikulation sicherlich möglich gewesen wäre.

Interessant ist am Ende des Bandes noch einmal die Analyse der Diskussion um das zunächst verbotene Bild des ‚Falling Man‘, das ja nicht zuletzt auch den amerikanischen Schriftsteller Don DeLillo zu einer Auseinandersetzung mit den Anschlägen bewegt hat: Was ist zu zeigen, was zu verbergen in einer Zeit der medialen Kriegsführung, in welcher der terroristische Akt nicht ausschließlich aus dem Anschlag selbst, sondern vor allem in der medialen Inszenierung desselben besteht? Im Fazit spricht Becker recht allgemein von dem ‚Schrecken der Bilder‘, der beim Betrachter zu einem unmittelbaren, der primären Erfahrung nahezu vergleichbaren Erleben führen kann.

Im Grunde muss man diesen Ansatz des 2013 erschienenen Buches aus heutiger Perspektive noch radikaler weiterdenken als Anne Becker in ihrem Nachwort bereits vorschlägt (wobei die Autorin beim Verfassen der Arbeit selbstredend nicht über das heutige Wissen verfügen konnte): Die visuelle Inszenierung von Terrorismus steckte, beobachtet man den medialen Feldzug der IS-Terroristen, bei Al-Qaida noch in den Kinderschuhen, da sie sich als Bildinszenierung zweiter Hand verstanden hat. Die Bilder wurden zwar vom Terrorakt direkt evoziert, aber letztlich dennoch (medial gesehen) vom Westen produziert, der somit, folgt man der durchaus treffenden These Beckers, immer noch auf lange Sicht die Herrschaft über den Bilddiskurs behalten konnte. Beim IS-Terror hat sich dieses Verhältnis gewandelt: Die Bilder der Enthauptungen westlicher Geiseln sind technisch so perfekt inszeniert, dass Medienwissenschaftler bereits hinter vorgehaltener Hand ihre Echtheit in Zweifel gezogen haben. Vor allem aber liefert IS diese perfekt inszenierten Bilder via Internet der westlichen Welt, immer und immer wieder, in einer Endlosschleife des Terrors, und behält damit die Hoheit über den medialen Diskurs. Insofern ist Anne Beckers Buch bei aller Qualität leider von der Weltgeschichte schneller eingeholt worden, als sich das die Autorin (und nicht nur sie) beim Verfassen hätte träumen lassen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Anne Becker: 9/11 als Bildereignis. Zur visuellen Bewältigung des Anschlags.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
325 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783837624434

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch