Anthropozentrierte Wende

Iris Bäcker liest den Akt des Lesens neu

Von Christian MilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Milz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Abstand weitet den Blick. Iris Bäckers „methodisch betriebener Perspektivwechsel“ hin zur russischen Literatur und Kultur in der in Moskau entstandenen und im Fachbereich Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen eingereichten Dissertation hinterfragt das grundlegende Paradigma der ‚klassischen Rezeptionsästhetik‘, die Sprachgebundenheit des Verstehens, kritisch und setzt ihm das „Gefühl des Verstehens“, das Erleben und die „innere psychologische Gestik“ entgegen, mit weitreichenden Folgen: Die theoretische Loslösung des Konzepts des Verstehens literarischer Texte aus „der sprachlichen Verfasstheit in der Nachfolge linguistischer Modelle“ bewirkt gravierende und unmittelbar einleuchtende, sozusagen zurechtrückende theoretische Verlagerungen. Sah sich Wolfgang Iser durch seine Fokussierung auf moderne Texte Joyce’scher Provenienz genötigt, den Hiatus von Alltagssprache beziehungsweise Sachtexten und der Sprache avantgardistischer literarischer Texte axiomatisch, aber nicht unbedingt einleuchtend, vorauszusetzen, fällt diese Unterscheidung nun weg. Iris Bäcker versteht Sprache als Zeichen und Artefakt unter anderen, nichttextuellen Artefakten. Erstere sind einfach ausgerichtet, letztere zweifach und verweisen auf die ‚anderswo‘ lokalisierte Handlungsmöglichkeit, die „eigentlich erst Lesen genannt zu werden verdient“. Aus der Lokalisierung des im literarischen Text angelegten Artefakts ergibt sich ein „hinreichend allgemeines, aber auch hinreichend trennscharfes theoretisches Minimalkriterium für die Literarizität des literarischen Textes“, nämlich „seine Übersetzbarkeit in die innere Sprache der psychologischen Gestik“. Unter literarische Texte fallen auch, das sei hier seitens des Rezensenten ergänzt, die Märchen- sowie Kinder- und Jugendliteratur – ein glänzender Prüfstein für Iris Bäckers Kriterium von Literarizität, das die avantgardistischen Strömungen der modernen Literatur als Sonderfall unter den literarischen Texten einordnet. Die Autorin verweist ausdrücklich darauf, dass sie sich auf andere Parameter als die klassische Rezeptionstheorie bezieht, nämlich „die klassische, im weitesten Sinn realistische Prosa-Literatur“ und nur diesbezüglich Ansprüche auf Gültigkeit erhebt. Freilich darf sich die Literatur- beziehungsweise Kulturwissenschaft Gedanken darüber machen, ob Theoriefundierung am avantgardistischen Experiment nicht das Pferd vom Schwanz her aufzäumt.

Auch Wolfgang Isers Diktum des „Realitätsverlusts“ und der „Irrealisierung des Lesers“ hat bei Iris Bäcker keinen Bestand. Sie unterscheidet – quasi unter dem Paradigma von Mehrdimensionalität – außertextuelle Realität und Textrealität, wobei letztere als „system- und sinnstiftende Instanz ein Wirkungspotential bereithält, dem gegebenenfalls ein existentielles Ereignis eignet, an dem der Lesende aktiv beteiligt ist und das ihn im besten Fall zu sich selbst zurückführt“. Unsere ‚literarischen Denkmäler‘, deren Autoren nebenbei bemerkt zwangsläufig stets die ersten Leser ihrer selbst und somit gleichzeitig auch Rezipienten sind, mitunter auch der lebenden Kollegen (so etwa Goethe und Schiller), würden hier ohne Zögern beipflichten. Beispiele dürfen selbsttätig ergänzt werden, hier zwei des Rezensenten (auch Iris Bäcker fokussiert im zweiten Teil ihrer Arbeit auf Exemplarisches, nämlich Tschechows Drei Schwestern): Vergils traumatisierter Aeneas betrachtet nach der Flucht aus dem brennenden Troja in einem Hain bei Karthago ein Relief, das die gerade durchlebten Ereignisse wiedergibt. Der Held erkennt sich, staunt und verharrt reglos. Tatsächlich setzt Vergil die ‚Textrealität‘ einer zweiten Dimension magisch in einen unmittelbaren Kontext zur fiktiven außertextuellen Realität und beschreibt das Wirkungspotential von Kunst als Teil der Identitätsstiftung. Die fiktionale Überformung der außertextuellen Realität durch die Textrealität gestaltet Cervantes satirisch in seinem durch Ritterromane besessenen Don Quijote.

Im zweiten und dritten Teil ihrer Dissertation beschreibt Iris Bäcker am Beispiel der russischen „Literaturzentrierung“ und einer vorbildlichen Analyse von Tschechows Drei Schwestern, wie sich die Beziehung von außertextueller Realität und Textrealität fallweise einmal empirisch, das andere Mal literarisch gestaltet darstellt. Im letzten Teil der Arbeit untersucht sie anhand von Peter Bichsels Kurzgeschichte Vom Meer mit studentischen Probanden verschiedener kultureller Herkunft empirisch den Akt des Lesens.

In Iris Bäckers Dissertation dürfte sich sowohl der leidenschaftliche Leser als auch der unterrichtende Lehrer wiederfinden und wertvolle theoretische Unterstützung finden. Gleichfalls bietet sie Orientierung, wohin die Reise in der Rezeptionsforschung gehen könnte.

Titelbild

Iris Bäcker: Der Akt des Lesens - neu gelesen. Zur Bestimmung des Wirkungspotentials von Literatur.
Schriftenreihe des Instituts für russisch-deutsche Literaur- & Kulturbeziehungen an der RGGU Moskau 12.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
204 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770556847

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