Pathologie als Habitus?

Carolin John-Wenndorfs Studie „Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern“ besticht durch ihre breite Anlage

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie lässt es sich deuten, dass Günter Grass sich als leidenschaftlicher Koch ausgibt und auf Fotos mit einer großen Kelle aus dem Suppentopf schöpfend posiert? Und warum setzt Elfriede Jelinek ein Schweinchen als Signatur unter ihre E-Mails und bekräftigt immer wieder ihren „intensiven Selbsthass“? Carolin John-Wenndorf macht in ihrer Studie „Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern“ den Vorschlag, sich den Selbstpräsentationen von Autoren mithilfe einer „feldbasierten mythologischen Diskursanalyse“ zu nähern. Autoren kreieren in diesem Sinne individuelle Mythen, mit denen sie sich der Diskursmuster individuell bedienen, um sich durch Konkurrenz und Distinktion von anderen eine eigene Position im literarischen Feld zu erkämpfen.

Ihrem Theoriefundament folgt eine umfangreiche Kulturgeschichte der Selbstdarstellung vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Die Notwendigkeit sich gegen Mitstreiter auch mithilfe der Selbstinszenierung durchzusetzen, ist demnach kein so neues Phänomen, sondern „so alt wie der Berufsstand selbst“. Es seien ausschließlich die Formen, Posen und Codes, die sich verändert hätten. Interessante Einzelbeobachtungen geben punktuelle Einblicke in den historischen Wandel: Der Bischof Konrad zu Konstanz (900-975) verbreitete etwa die autobiographische Anekdote von einer nächtlichen Vision, in der ihm nicht nur die Mutter Maria persönlich, sondern auch die heiligen Kirchenväter Ambrosius und Augustinus begegnet seien. John-Wenndorf beschreibt dies als Mittel der intellektuellen Selbstinszenierung im Mittelalter: „self-promotion qua Prominenz“. Im 17. Jahrhundert gibt es bereits eine Art „Autogrammkarte“, wie am Beispiel Gryphius gezeigt wird, der sich nicht nur mittels Rüschen und Lockenpracht in höfischer Aufmachung portraitieren lässt, sondern typischerweise auch von einer Vers-Inschrift gerahmt wird, die ihn zum Wissenschaftler und göttlichen Geist erhöht. Erst ab dem 18. Jahrhundert beginnen Künstler, vor allem aus ökonomischen Gründen, individuellere Formen der Selbstinszenierung zu entwickeln, wobei erstmals auch individuell-persönliche Aspekte betont werden.

In diesem ersten historischen Teil werden eher markante Momente der Entwicklung herausgegriffen als eine kohärente, umfassende Geschichte entwickelt, wodurch die Kulturgeschichte insgesamt grob und skizzenhaft verbleibt. Dennoch fundiert der Überblick den Rest der Arbeit, indem zentrale Fragen und Probleme schriftstellerischer Selbstinszenierung aufgeworfen und mögliche Funktionen aufgezeigt werden. Sich auf Foucault rückbeziehend weist John-Wenndorf darauf hin, dass Inszenieren immer auch Verhüllen bedeutet, dass eine Pose das Geheimnis des ‚Innen‘ immer ein Stück weit verdeckt. Zugleich gehört zur Selbstinszenierung augenscheinlich eine Orientierung am Publikum. Nicht nur ist eine gelungene Inszenierung von der Aufmerksamkeit und dem Interesse des Publikums abhängig, weshalb Identifikationsflächen ebenso wie Provokationen wirksame Mittel sein können, auch der Autor selbst gerät – bewusst oder unbewusst – in eine Abhängigkeit von den auf ihn zurückblickenden Betrachtern, weshalb Fremdtäuschung von der Selbsttäuschung nicht trennscharf abgrenzbar ist. Selbstinszenierungen geben also auch Einblick in die „Paradoxien künstlerischer Identitätsvergewisserung“.

Für die Gegenwart entwickelt John-Wenndorf dann einen Katalog zwölf verschiedener Praktiken der Selbstdarstellung, den sie mit aktuellen Beispielen untermauert. So bedient sich beispielsweise Günter Grass der „habituellen Authentizität“, indem er den Kochlöffel schwenkend einen milieuspezifischen Geschmack anspricht, der ihn als „wahrhaftigen Mann“ und „echten Bürger“ positioniert. Elfriede Jelinek taucht, wohl weil sie sich besonders kreativ verschiedener Strategien bedient, wiederholt als Beispiel auf. Mithilfe der „Simulation“ nähert sie sich beispielsweise diskursiv, piktoral und performativ ihren Figuren an, wobei ihre Inszenierung auch auf der Unsicherheit basiert, ob es sich bei ihrer Erscheinung „um Mimesis oder Parodie handelt“. Mit den Mitteln der Ironie und der Häresie spielt Jelinek durch ein Autorenfoto, auf dem sie mit Kasperlefigur abgebildet ist. Der Kasper verweist sowohl auf seine Rolle als Revolutionär in ihrem Roman „wir sind lockvögel, baby!“ („der kaspar scheißt dem riesen auf den Kopf“) als auch auf eine „ironische Distanz zum Akt der Repräsentation“.

Wie der erste Teil, so ist auch die Palette möglicher Praktiken der Selbstinszenierung vor allem aufgrund ihrer breiten Anlage wertvoll: Von der Autobiographie über die eigene Homepage bis zum öffentlichen Geständnis werden zahlreiche Wege aufgezeigt, mit denen Autoren den Weg an die Öffentlichkeit finden. Untereinander werden die Elemente jedoch nicht in Bezug gesetzt oder nähere Unterscheidungen zwischen Medien (Selbstzeugnisse publizieren) und Strategien (Täuschen, Peritextuell verführen) getroffen.

Schon in der Einleitung weist die Verfasserin darauf hin, dass die „Kleine Dichtertypologie“ am Ende „nicht ganz ernst gemeint“ sei. Tatsächlich ist sie eher ein Stück Literatur, mit dem die Strategien im Literaturbetrieb parodistisch entlarvt werden. Über die „obsessive Nihilistin“ heißt es beispielsweise, sie habe sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Jedoch: „Der Intensität ihrer Selbstzweifel begegnet die Nihilistin mit spontaner Distanzlosigkeit. Dann bittet sie die auf der grünen Wiese lauernden Journalisten hinein und plaudert ungeniert drauf los.“ Das ist amüsant – auch weil die Vorbilder hinter den Prototypen zum Teil leicht erkennbar sind – hat in einer wissenschaftlichen Arbeit aber wenig zu suchen.

Insgesamt verfolgt John-Wenndorf eine spannende These, die womöglich und hoffentlich weiter diskutiert werden wird: „Schriftsteller sublimieren nicht“. Vielmehr stellten sie ihre Pathologie und Sublimationsuntauglichkeit freizügig zur Schau, kreierten und tradierten somit nicht nur einen sozial gültigen Habitus, sondern verschafften sich auch Positionsvorteile im literarischen Feld.

Fraglich ist, ob Selbstinszenierung nicht selbst schon als kreativer Prozess, und damit Teil des Künstlerseins verstanden werden muss. Wäre insofern die Inszenierung nicht selbst schon ein Teil der Sublimation? Und ist die Behauptung, Künstler scheiterten dabei, nicht eine Missachtung der eigens aufgestellten These von der Alibi-Funktion der Selbstinszenierung, die den Ort des „privaten, nicht-öffentlichen Seins“ letztendlich verbirgt? Auch die Vorstellung, dass Autoren freiwillig und strategisch inszenieren, ist sicher nur eingeschränkt gültig. Daran schließt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von Fremd- und Selbstbildern an, die in John-Wenndorfs Studie zum Teil durcheinandergehen. Die offenen Fragen schmälern nicht die große Leistung der Verfasserin, das komplexe Thema einmal in all seinen Facetten ausgeleuchtet zu haben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Carolin John-Wenndorf: Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
500 Seiten, 44,99 EUR.
ISBN-13: 9783837627572

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