Von Hamburg nach Altötting

Willi Winklers winterliche Wanderung durch das wiedervereinigte Deutschland

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer unterzieht sich schon den Mühen einer über 800 km langen Wanderung? Höchstens, man hat eine Wette verloren. Bei Willi Winkler (Jg. 1957), seines Zeichens langjähriger Redakteur beim „Spiegel“, bei der „Zeit“ und der „Süddeutschen Zeitung“, war es eher ein leichtfertiges Gelübde, das er schon vor zwanzig Jahren abgelegt hatte. Also machte sich der Autor auf eine Art „Fußwallfahrt“ quer durch das wiedervereinigte Deutschland – vom atheistischen Hamburg bis ins erzkatholische Altötting. Und das ausgerechnet im Winter – zum Glück war der Winter 2013/14 nicht so grimmig. Unwillkürlich denkt man an Heinrich Heine und sein „Wintermärchen“, als der Dichter vor 170 Jahren von Paris nach Hamburg unterwegs war.

Zunächst geht es durch die Lüneburger Heide, meist bei tiefhängenden Wolken und Nieselregen. Stationen sind hier etwa Lüneburg oder Eschede, wo 1998 das furchtbare Eisenbahnunglück geschah. Als der Harz näherkommt, zeigt sich auch schon  der erste Schnee. Mit Wolfenbüttel und der berühmten Herzog-August-Bibliothek ist ein Viertel der Strecke geschafft. Schließlich passiert der Wanderer die ehemalige innerdeutsche Grenze. Halberstadt, Eisleben, Naumburg oder Jena sind einige seiner mitteldeutschen Stationen, ehe er Thüringen, das grüne Herz Deutschlands, durchquert und hinter Hirschberg in Franken und damit im Freistaat Bayern landet. Über Hof, Grafenwöhr, Regensburg und Landshut erreicht er schließlich nach fünfdreißig Tagen sein Ziel Altötting. Mit etlichen Umwegen genau 855 Kilometer.

Auf seiner abenteuerlichen Pilgerreise durch das winterliche Deutschland geht es Winkler weniger um die persönliche Inspiration, es ist eher ein Durchwandern mit Beobachtungen und geschichtlichem Wissen. Neben den Sehenswürdigkeiten registriert er auch die Einfallslosigkeit der Bau- und Supermärkte und endlosen Autohäuser an den Rändern der Städte. Die tagespolitischen Nachrichten finden in seinen Aufzeichnungen keinen Niederschlag. Vielmehr berichtet der Wanderer von seinen Mühen der allabendlichen Unterkunftssuche oder von den Begegnungen mit den Menschen, obwohl ihm Deutschland zu dieser Jahreszeit ziemlich menschenleer vorkam. Die meisten, die er unterwegs trifft, erklären ihn für verrückt, doch in den Gesprächen kommen Einzelschicksale zur Sprache, die auch fünfundzwanzig Jahre nach der Wende von diesem Umbruch geprägt sind.

Auf seinem langen Weg von Niedersachsen nach Bayern macht Winkler jedoch eine erstaunliche Entdeckung: Deutschland ist immer noch geteilt – wer kennt in Hamburg schon die Schwarze Madonna von Altötting und wer kennt im tiefsten Bayern die Hamburger Alster. Die 172 Seiten sind eine heitere, aber auch nachdenkliche Lektüre. Aus zahllosen Beobachtungen und Begegnungen ist ein lebendiges, widersprüchliches Panorama der Nachwendezeit geworden.

Titelbild

Willi Winkler: Deutschland, eine Winterreise.
Rowohlt Verlag, Berlin 2014.
172 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347962

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