Schamlabor Literatur

Von der Scham- und Peinlichkeitskultur: Ulrich Greiner untersucht den Wandel der Gefühle

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was als „normal“, was als „anstößig“ gilt, ändert sich laufend, lässt sich aber nur schwer beobachten. Hilfreich ist da zeitliche Distanz. In Virginia Woolfs Roman „Mrs Dalloway“ kehrt jemand nach fünfjährigem Kolonialdienst nach London zurück – und staunt über Frauen, die sich an diesem Junitag 1923 in aller Öffentlichkeit ungeniert die Nase pudern. Wer heute, sagen wir, von einer Marsreise zurückkehrt, würde sich dagegen wundern, beim Flanieren durch eine europäische Metropole „von Prostituierten umgeben zu sein“, vermutet Ulrich Greiner.

Ein Irrtum freilich, handelt es sich doch „in Wahrheit um harmlose junge Frauen […], die keineswegs zu solchen Diensten bereit“ sind, auch wenn sie bauchfreie Tops tragen oder mittels Hüfthosen ihre Stringtangas hervorblitzen lassen. Die Zeiten ändern sich eben, und mit ihnen das Schamempfinden. Greiners „Schamverlust“ ist nach Till Brieglebs „Die diskrete Scham“ (2009) das zweite Buch eines Journalisten, das sich, irritiert durch den sich medial entfaltenden Exhibitionsfuror der Gegenwart, mit einer der wohl intimsten Empfindungen überhaupt beschäftigt.

Einig sind sich beide Autoren in der immensen kulturellen Bedeutung der Scham, doch widmet sich Greiner stärker ihrer Abgrenzung von verwandten Empfindungen wie Schuld oder Peinlichkeit, der Vielgestaltigkeit der Scham sowie dem „Wandel der Gefühlskultur“ in der Gegenwart. Dazu diskutiert der Literaturkritiker in seiner durchweg gedankenreichen, elegant geschriebenen Studie nicht nur die einschlägigen Theorien von Norbert Elias, Richard Sennett, Ruth Benedict oder Sighard Neckel, sondern bedient sich naheliegenderweise auch der Literatur. Könne diese doch gerade in gesellschaftlichen Umbruchphasen „den Charakter eines Schamlabors annehmen“, so Greiner, in dem „emotionale Extremlagen getestet werden“.

Wie nah verwandt etwa Schamangst und -lust sind, zeigt Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“: Das demütigende Ansinnen, sich vor dem künftigen Gläubiger ihres Vaters zu entblößen, kehrt Else um, indem sie sich allen nackt zeigt, also „den Akt der Schamlosigkeit zu ihrer eigenen Sache macht und somit Handlungshoheit gewinnt“. Ein von heute aus gesehen modern anmutender Akt, gilt Schamhaftigkeit doch längst nicht mehr als weibliche Tugend, sondern im Zeitalter von Lady Gaga gerade die Schamlosigkeit als „Ausdruck weiblicher Vitalität“, so Greiner.

Im Unterschied zum schwächeren Gefühl der Peinlichkeit benötige das Schamempfinden keinen Zeugen, dafür jedoch Reflexivität. In Thomas Manns Erzählung „Luischen“ fällt der korpulente Protagonist, der aus Liebe zu seiner sadistischen Frau bei einem Fest als Tanzbär im „rotseidenen Babykleide“ auftritt, genau in dem Moment vor Scham tot um, als ihm erstmals bewusst wird, wie lächerlich er sich eigentlich macht. „Im Augenblick der Scham sehe ich mich selber als jemanden, der gefehlt hat“, betont Greiner, „und das Bild, das sich mir plötzlich zeigt, verletzt das Bild, das ich von mir habe oder gerne von mir hätte“. Deshalb sei die Fähigkeit, Scham empfinden zu können, keine anerzogene bürgerliche Unart, die man sich abgewöhnen müsse, wie die 68er glaubten, sondern eine wesentliche Bedingung für Moral und Ästhetik.

Sollte das stimmen, lässt das für die Gegenwart nichts Gutes vermuten, denn für diese konstatiert der Autor einen fundamentalen Wandel weg von ein Schamkultur, hin zu einer „Kultur der Peinlichkeit“. Letztere beruhe statt auf Selbstbewertung in erster Linie auf (tatsächlicher oder unterstellter) Fremdbewertung, sei aber für den Einzelnen nicht minder heikel, habe sich doch inzwischen „das Feld der Zwänge und Peinlichkeitsrisiken ins vollkommen Unübersichtliche ausgedehnt“. Die Scham gebe es stattdessen nur noch in Schwundformen wie den öffentlichen Beichten sich zerknirscht gebender Politiker, wo sie als „inneres Regulativ“ zur bloßen „Schamgeste“ verkommt.

Mit dieser Diagnose distanziert sich Ulrich Greiner von der Standardthese der Kulturkritik, die je eigene Epoche sei der Höhepunkt der Schamlosigkeit: Wäre dem so, wäre die Geschichte ein Prozess fortlaufender Enthemmung. Doch wo alte Regeln nicht mehr gelten, werden immer auch neue gebildet, betont Greiner. Weshalb es heute, mit Niklas Luhmann gesprochen, „zugleich besser und schlechter“ ist: Während etwa frühere Generationen vom Einzelnen erwarteten, Schicksalsschläge mit der heroischen „Contenance“ eines Thomas Buddenbrook hinzunehmen, ungeachtet der psychischen Kosten, findet der außengeleitete Typus der Gegenwart nichts dabei, in der emotionalen Wärmestube Facebook seinen Seelenkummer der Welt zu verkünden, um dafür umgehend mit virtuellem Zuspruch versorgt zu werden.

Doch wehe der Schülerin, so Greiner, „die noch Lufthosen trägt, während die anderen schon Empire-Hemdchen mit Leggins tragen“. Die Angst, peinlich zu sein, führe heute, zumal in der jüngeren Generation, zu einer permanenten Verhaltensunsicherheit. Symptomatisch dafür der Protagonist in Leif Randts Roman „Schimmernder Dunst über CobyCounty“ (2011), der jede Geste, jede Regung mit den Vorbildern aus der Werbung abgleicht.

Die Angst vor Peinlichkeit betrifft gerade den neuen Exhibitionismus: Ein Lehrer, der im Muskelshirt unterrichtet, sollte dies nur mit dem entsprechend trainierten Körper tun, will er nicht zum Gespött seiner Schüler werden. Überzeugend führt Greiner die boomende Schönheitschirurgie, die längst auch den Genitalbereich erreicht hat, auf die neue Peinlichkeitskultur zurück. Dass aber die Peinlichkeit, anders als die Scham, keine „in Existenzielle zielende Energie“ besitze, wie Greiner behauptet, scheint fraglich, denkt man an in den Suizid getriebene Mobbingopfer.

Titelbild

Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014.
349 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498025243

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