Lebensweisheit im Wimmelbild
Der Zeichner Jean-Jacques Sempé gibt in seinem Album „Sturmböen und Windstille“ ein Panorama des modernen Lebens
Von Willi Huntemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie humoristische Zeichnung kennt grundsätzlich zwei Ausformungen: mit oder ohne Bildtext. Der klassische Cartoon kommt ohne ihn aus, und wo es ihn gibt, kann er in vielfältiger Gestalt und Beziehung zum Bild stehen: als Erzählerstimme in gereimten Versen wie in den Bildergeschichten Wilhelm Buschs, als kommentierender Untertext, der in komischem Kontrast zum Bildinhalt steht wie etwa in den Cartoons von Loriot – oder als Sprechtext von Figuren, der als Sprechblase nach Art der Comics der Zeichnung eingeschrieben ist beziehungsweise darunter steht, wie in den unzähligen Bild-Strips der Tageszeitungen und Magazine.
Den französischen Zeichner Jean-Jacques Sempé, seit nunmehr über vierzig Jahren dank des Diogenes Verlags auf dem deutschen Buchmarkt präsent, zeichnet unter anderem nicht nur aus, dass er diese beiden Ausformungen mustergültig repräsentiert, sondern auch noch eine dritte: die Illustration von literarischen Werken. In dieser Eigenschaft ist er einem breiten Publikum bekannt geworden, seitdem er zusammen mit dem „Asterix“-Autor René Goscinny in den 1960er-Jahren Geschichtenbände um den „Kleinen Nick“ herausbrachte. Weniger bekannt sind die Illustrationen für das Buch „Die Geschichte von Herrn Sommer“ (1991) des deutschen Autors Patrick Süskind, der mit Sempé befreundet ist und auch die Texte des vorliegenden Albums, wie bereits auch frühere, ins Deutsche übersetzt hat, oder auch seine Bilder für einen Band des jetzigen Nobelpreisträgers Patrick Modiano („Catherine, die kleine Tänzerin“, 1988).
Nach thematischen Alben zu seiner Heimatstadt Paris oder zu New York, zu Radfahrern, Konsumenten und Katzen versammelt der vorliegende Albumband, aufwändig wie ein Kunstbuch in Leinen ausgestattet, ein weit gespanntes Panorama des modernen Lebens. Alltagsmenschen wie ältere Ehepaare oder junge Liebende, Menschen aus der Büro- und Geschäftswelt, liebenswerte Kleinbürger, die ihre Idylle sowie Bildungsbürger, die ihre Bildungsallüren oder Neurosen pflegen, bevölkern dieses Panorama. Ihre fragile zeichnerische Physiognomie scheint die Anforderungen zu spiegeln, die Beruf, Beziehungsalltag und moderne Zivilisation an sie stellen. Wie ein Nachklang aus älteren Alben des Künstlers („Sempés Musiker“, 1980; „Sempés Konsumgesellschaft“, 1973) erscheinen Musiker-Zeichnungen oder auch gezeichnete Zeitglossen zum aktuellen Öko- und Bio-Trend oder zum Homo/Hetero-Diskurs. Ein Beispiel: eine allzu detaillierte Verbraucherinfo über den Herkunftsnachweis von Fleisch weckt bei den Kundinnen eher Mitleid als Kauflust. Oder: „– Ich würde Sie so gerne davon überzeugen, dass meine Gefühle ganz und gar bio sind, Marie-Adeline“, sagt ein jung-dynamischer Radfahrer auf einem Bio-Gemüsemarkt zu seiner Angebeteten. Erfrischend ist die Umkehrung, wenn Sempé im Stil einer „Gay Pride“-Parade einmal Normalbürger auf Umzugswagen ihr Spießerleben zur Schau stellen lässt: „Ordinary People Pride“. Aber auch die Kunst – von Sonntagsmalern bis hin zum verstörten Leonardo da Vinci, der in einem Traum den späteren Marketingkitsch mit seiner Mona Lisa vorausahnt – und die Literatur, soweit sie das gesellige Leben der Pariser Bürger prägen, kommen nicht zu kurz.
Neben einigen wenigen Bilderfolgen überwiegen Einzelbilder: es sind Tableaus, die den Menschen samt seiner Sorgen und Nöte als klein und zerbrechlich inmitten eines weiten Raumes zeigen: gefüllt ist er entweder mit Menschenansammlungen in Restaurants, auf Partys, am Badestrand oder bei Demonstrationen. Oder es sind die unverkennbar Pariser Häuserfassaden oder Interieurs von üppig möblierten Pariser Altstadtwohnungen mit Stuck, Stilmöbeln und deckenhohen Bücherregalen beziehungsweise natürliche Außenräume wie Parklandschaften. (Das farbige Umschlagbild, impressionistisch in allen Herbstfarben leuchtend, ist ein schönes Beispiel dafür.)
Schon dieser beim flüchtigen Hinschauen charakteristische Bildaufbau ist gleichsam Sempés optisch-atmosphärisches Markenzeichen; er ist alles andere als eine schablonisierte Einkleidung, die wie in gängigen Bilderwitzen gerade soweit reichen würde, dem Witz, der sich im Sprechtext einer oder zweier Figuren entfaltet, ein Setting zu verleihen. Diese Räume, mit lockerem Federstrich virtuos ausgestaltet, in denen die im Fokus stehenden, zeichnerisch hervorgehobenen Figuren immer ein wenig verloren wirken, verleihen den Sempé’schen Tableaus soviel an künstlerischem Eigenwert, dass man sich zunächst in sie versenken kann, ganz ohne den Bildtext zu lesen. Was ist da alles zu entdecken auf diesen Party- und Restaurantbildern! Obwohl eigentlich nur „Hintergrund“, wimmelt es darin nur so von liebevoll angedeuteten Details wie Charakteren, Gesten, Mini-Interaktionen wie in einem Wimmelbuch für Kinder. Der Bildaufbau mit der Disproportion zwischen übermächtigem Raum und kleiner Figur, welcher der Sprechtext zugeordnet ist, trägt die Aussage oder, wenn man so will, die Sempé’sche Weltsicht, wesentlich mit. Es sind opulente Schau-Bilder, die sich in Denk-Bilder verwandeln, wenn man den Sprechtext auf das Bild bezieht und sich damit der „Witz“ entfaltet. Witz, das darf hier freilich nicht als banale Pointe verstanden werden, die man mit dem Cartoon-Genre gemeinhin assoziiert – dafür ist Sempés Humor zu vielschichtig und mitunter geradezu melancholisch oder tiefsinnig.
Die Bildtexte – manche sind ungewöhnlicherweise zehn oder noch mehr Zeilen lang – haben ihrerseits einen Eigenwert, der sie mitunter vom Bild unabhängig macht. Eine Restaurantbesucherin sagt zu ihrer Freundin: „ – Jean-Charles und ich, wir waren nicht zwei, wir waren eins. Wirklich eins. Das Problem entstand dann dadurch, dass jeder von uns dieses Eine sein wollte“. In solchen Bildern – und erst recht in jenen mit längerem Figurentext – erzählt uns der Autor Geschichten in nuce, ohne Bildsequenzen zeichnen zu müssen. Es sind in sich abgeschlossene Momentbilder, in denen gleichwohl die Essenz einer ausgesparten Erzählung verdichtet erscheint. Vor allem darin liegt die Meisterschaft und Eigenart des vorliegenden Albums. Durch die Aufwertung des Textes gegenüber dem Bild nähert sich das Tableau in der Sinnkomplexität gleichsam dem Medium Literatur an. So ist die Erwähnung des Übersetzers auf dem Innentitel – wo passiert das in diesem Genre schon? – nicht nur der Prominenz von Patrick Süskind geschuldet.
Für Süskind – so heißt es einmal in einem schönen Essay über seinen Freund – gibt es „keine bessere kulturelle, soziologische und ästhetische Landeskunde Frankreichs als das Œuvre von Sempé“ („Das Geheimnis der Porreestange“, Süddeutsche Zeitung vom 17. Mai 2010). Die Bilderwelt des Zeichners ist tief in seinem Heimatland und dessen Sozialmilieus verwurzelt, und doch kann sich auch jeder in den typenhaften Figürchen mit ihren allzumenschlichen Gefühlen und Problemen wiedererkennen, der noch nie dort war.
Sempé, der einmal in einem Interview bekannte: „In meinen Zeichnungen kommt der Tod nicht vor. Weil ich Angst vor ihm habe“, präsentiert mit seinem zeichnerischen Werk den Gegenentwurf zu demjenigen des um ein Jahr älteren elsässischen Kollegen Tomi Ungerer, der ebenfalls Illustrator und Kinderbuchautor ist. Diesem fließen bekanntlich ein boshafter, tintenschwarzer Humor mit stupender Leichtigkeit aus Feder und Zeichenstift. Wer von Ungerers Welt- und Menschensicht eine Überdosis genossen hat oder von den Sturmböen des Lebens gebeutelt wurde, dem sei besonders dieses Album von Sempé, dem sein positives Bild der Welt und der Menschen mit all ihren Schwächen mit ebensolcher Leichtigkeit aus Feder und Pinsel fließt, als heilsames Antidot nachdrücklich ans Herz gelegt.
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