Der „Weihnachtsfriede“ im Krieg vor 100 Jahren

Und die Erzählung „Der Feind“ von Erich Maria Remarque

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem von Barbara Korte herausgegebenen Band über den Ersten Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur fasst Sylvia Paletschek die legendären Ereignisse an der Westfront in den Weihnachtstagen vor hundert Jahren so zusammen: „Am ersten Weihnachtstag 1914 kam es vor allem an Frontabschnitten in Flandern rund um Ypern zu massenweisen Verbrüderungen von deutschen mit englischen, französischen sowie belgischen Soldaten: es wurde vereinbart, nicht aufeinander zu schießen, gemeinsam wurden Weihnachtslieder gesungen, die Toten im Niemandsland beerdigt, Zigaretten, Lebensmittel und Militärandenken getauscht, Fotos vom Zusammentreffen mit dem Feind gemacht und es wurde sogar Fußball gespielt.“

Über diesen „Weihnachtsfrieden“ wurde damals in etlichen Zeitungsartikeln, vor allem in Großbritannien, aber auch in Deutschland, informiert. Doch Jahrzehnte später erst entdeckte ihn die populäre Geschichtsschreibung in großem Stil. „Die Geschichte“, so Sylvia Paletschek,  „hat ein hohes Emotionalisierungspotenzial, in der die Menschlichkeit der ‚kleinen Leute‘ triumphiere und die sich als Fabel für die Begegnung unterschiedlicher Nationen im Leid und als Baustein einer gemeinsamen europäischen Verständigungsgeschichte gut eignet.“ Eine populäre Darstellung der Ereignisse legte 2003 der Journalist Michael Jürgs vor (siehe literaturkritik.de 9/ 2004). Sie ist inzwischen auch als Taschenbuch erschienen. Höhepunkt in der Popularisierung des Weihnachtsfriedens war der Film „Merry Christmas“ (Deutschland, Großbritannien, Belgien, Norwegen, Regie: Christian Carion), der Weihnachten 2005 in die Kinos kam.

Wenig bekannt ist, dass Erich Maria Remarque nach seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ 1930 eine Erzählung schrieb, die unverkennbar auf diesen Weihnachtsfrieden 1914 zurückgreift. Sie erschien damals in einer amerikanische Zeitschrift, wurde erst in den 1990er-Jahren in deutscher Sprache veröffentlicht und ist jetzt auch im Rahmen einer Reihe von Taschenbüchern Remarques nachzulesen, die 2014 zur Erinnerung an den Krieg vor 100 Jahren neu aufgelegt wurden. Ihr Titel: „Der Feind“. Der Erzähler fragt seinen Schulkameraden Ludwig Breyer, „welches Kriegserlebnis ihm am lebhaftesten in Erinnerung wäre“. Er bekommt eine Geschichte zu hören, in der Feinde zu Freunden werden. In einem Gefangenenlager sind einige hundert Franzosen untergebracht:

Sie saßen oder lagen herum, rauchten, redeten und dösten. Das öffnete mir die Augen. Bis dahin hatte ich nur kurze, flüchtige Eindrücke – vereinzelt, schemenhaft – von den Männern gehabt, die die feindlichen Gräben hielten. Ein Helm vielleicht, der einen Augenblick über den Rand der Brustwehr ragte; einen Arm, der etwas warf und wieder verschwand; ein Stück graublauen Stoffs, eine Gestalt, die in die Luft sprang – fast abstrakte Dinge, die hinter Gewehrfeuer lauerten, hinter Handgranaten und Stacheldraht.

Hier sah ich zum ersten mal Gefangene, und zwar viele, sitzend, liegend, rauchend – Franzosen ohne Waffen.

Ein plötzlicher Schock traf mich – gleich darauf musste ich über mich selbst lachen. Mich hatte schockiert, daß sie Menschen waren wie wir selbst. Aber die Tatsache war – weiß Gott merkwürdig genug – , daß ich einfach noch nie darüber nachgedacht hatte. Franzosen? Das waren Feinde, die getötet werden mußten, weil sie Deutschland zerstören wollten. Aber an jenem Augustabend wurde mir jenes unheilvolle Geheimnis klar, die Magie der Waffen. Waffen verwandeln die Menschen. Und diese harmlosen Kameraden, diese Fabrikarbeiter, Hilfsarbeiter, Geschäftsleute, Schuljungen, die da so still und resigniert herumsaßen, würden, wenn sie nur Waffen hätten, augenblicklich wieder zu Feinden werden.

Ursprünglich waren sie keine Feinde; erst als sie Waffen bekamen.

Die Merkmale des „Feindes“ werden in diesem Text auf eine dominante Eigenschaft reduziert: die Absicht und die durch Waffen gegebene Fähigkeit zu töten. Nur das aktiviert affektive Reaktionen wie Angst, Wut oder Hass, aus denen wiederum Tötungsakte hervorgehen, Nur das bringt die, wie Franz Kafka sie nannte, „Totschlägerreihe“ hervor, der im Krieg und in der literarischen Kommunikation über ihn so schwer zu entkommen ist. Feinde werden nicht als Menschen wahrgenommen, suggeriert die Erzählung, und Menschen nicht als Feinde: „Und zum ersten mal begriff ich, daß ich gegen Menschen kämpfte; Menschen, die wie wir von starken Worten und Waffen verhext waren; Menschen, die Frauen und Kinder, Eltern und Beruf hatten“.

Und noch von einer zweiten Kriegsepisode erzählt der Freund. Sie ist es, die an die Geschichte vom Weihnachtsfrieden 1914 anknüpft. Hier kommt es zu einer plötzlichen Annäherung zwischen den verfeindeten Deutschen und Franzosen. Man tauscht Zigaretten und Nahrung, bis ein Major an der Front auftaucht, der davon nichts weiß und einen Franzosen erschießt. „Von da an wurden die Feindseligkeiten ordnungsgemäß fortgesetzt; Zigaretten gingen nicht mehr hin und her; und die Verlustzahlen nahmen zu. Viele Dinge sind mir seither passiert. Ich sah viele Männer sterben; ich selbst habe mehr als einen getötet; ich wurde hart und gefühllos. Die Jahre gingen vorüber. Aber die ganz lange Zeit habe ich nicht gewagt, an diesen dünnen Schrei [des erschossenen Franzosen] im Regen zu denken.“

Drei Jahre nach Remarques Erzählung, 1933, erschien Ernst Tollers Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland“. Sie erzählt von seiner Wandlung von der Kriegsbegeisterung zur Kriegsgegnerschaft und zum Pazifismus. Mit typisch expressionistischem Pathos beschreibt Toller rückblickend sein Wandlungserlebnis. Die Beschreibung folgt dem gleichen Muster jenes Perspektivenwechsels, den schon Remarque im Blick hatte: der Rückverwandlung eines reduktionistischen Feindbildes in ein komplexeres Menschenbild.

Ich stehe im Graben, mit dem Pickel schürfe ich die Erde. Die stählerne Spitze bleibt hängen, ich zerre und ziehe sie mit einem Ruck heraus. An ihr hängt ein schleimiger Knoten, und wie ich mich beuge, sehe ich, es ist menschliches Gedärm. Ein toter Mensch ist hier begraben.

Ein – toter – Mensch.

[…]

Und plötzlich, als teile sich die Finsternis vom Licht, das Wort vom Sinn, erfasse ich die einfache Wahrheit Mensch, die ich vergessen hatte, die vergraben und verschüttet lag, die Gemeinsamkeit, das Eine und Einende.

Ein toter Mensch.

Nicht: Ein toter Franzose.

Nicht: Ein toter Deutscher.

Ein toter Mensch.

Alle diese Toten sind Menschen, alle diese Toten haben geatmet wie ich, alle diese Toten hatten einen Vater, eine Mutter, Frauen, die sie liebten, ein Stück Land, in dem sie wurzelten, Gesichter, die von ihren Freuden und ihren Leiden sagten, Augen, die das Licht sahen und den Himmel. In dieser Stunde weiß ich, daß ich blind war, weil ich mich geblendet hatte, in dieser Stunde weiß ich endlich, daß alle diese Toten, Franzosen und Deutsche, Brüder waren, und daß ich ihr Bruder bin.

Eine Schlüsselszene in Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“, der die Emotionen der am Krieg beteiligten Soldaten immer wieder reflektiert, beschreibt einen Tötungsakt und die anschließende Reue. Der Protagonist befindet sich in einem Schützengraben. Ein Körper fällt zu ihm hinab, reflexartig sticht er auf ihn ein und verbringt dann Stunden mit dem sterbenden Mann zusammen. Er hilft ihm, verbindet ihn und führt mit ihm, auch noch als er tot ist, Gespräche.

Kamerad, ich wollte Dich nicht töten. Springst Du noch einmal hier hinein, ich täte es nicht, wenn auch Du vernünftig wärst. Aber Du warst mir vorher nur ein Gedanke, eine Kombination, die in meinem Gehirn lebte und einen Entschluss hervorrief – diese Kombination habe ich erstochen. Jetzt sehe ich erst, dass Du ein Mensch bist wie ich. Ich habe gedacht an Deine Handgranaten, an Dein Bajonett und Deine Waffen – jetzt sehe ich Deine Frau und Dein Gesicht und das Gemeinsame. Vergib mir, Kamerad! Wir sehen es immer zu spät. Warum sagt man uns nicht immer wieder, dass Ihr ebenso arme Hunde seid wie wir, dass Eure Mütter sich ebenso ängstigen wie unsere und dass wir die gleiche Furcht vor dem Tode haben und das gleiche Sterben und den gleichen Schmerz –. Vergib mir Kamerad, wie konntest Du mein Feind sein. Wenn wir diese Waffen und diese Uniform fortwerfen, könntest Du ebenso mein Bruder sein wie Kat und Albert.

Er findet die Brieftasche des Mannes, Bilder von Frau und Kind und entdeckt den Namen des Mannes und erkennt: „ich habe den Buchdrucker Gerard Duval getötet.“ Und dann spricht er den Toten noch einmal an: „Heute Du, morgen ich. Aber wenn ich davonkomme, Kamerad, will ich kämpfen gegen dieses, das uns beide zerschlug: Dir das Leben – und mir – ? Auch das Leben. Ich verspreche es Dir, Kamerad, es darf nie wieder geschehen.“

Remarque und Toller reflektieren hier im Zusammenhang mit Kriegsszenarien Mechanismen, wie sie später auch von der Feindbildforschung beobachtet und analysiert wurden und die für die literatur- und filmwissenschaftliche Figuren- und Emotionsforschung generell von erheblicher Bedeutung sind. Feindbilder und die mit ihnen verbundenen Emotionen werden durch mehrere mit einander verbundene Formen der Informationsvergabe hervorgebracht: Über Repräsentanten bestimmter Personen- bzw. Figurengruppen wird in der Regel nur sehr reduziert informiert. Insbesondere Informationen über Merkmale, die denen vieler anderen Menschen ähnlich sind, werden weitgehend vorenthalten. Feind-Figuren erscheinen deshalb als fremd und dehumanisiert. Die wenigen Merkmale, die diesen Personen bzw. Figuren zugeschrieben werden, entsprechen nicht den (vor allem ethischen) Maßstäben, mit den Personen bzw. Figuren positiv bewertet werden. Das dominante Merkmal der Personen bzw. Figuren ist ihre Gefährlichkeit.

Feinde sind also keine Menschen, ethisch minderwertig und gefährlich. Ihr Erscheinen ist gekoppelt an Bedrohungsszenarien. Diese erzeugen Angst bei den Freund-Figuren und bei den mit ihnen sympathisierenden Rezipienten und mobilisieren Wut mit dem entsprechend aggressiven Wunsch, dass der Feind getötet und damit unschädlich gemacht und bestraft wird. Der Tod des Feindes evoziert Genugtuung, Erleichterung oder Freude.

Da der tote Feind aber nicht mehr gefährlich ist, ist er potentiell kein Objekt feindschaftlicher Emotionen mehr. Der Tod des Feindes eröffnet die Möglichkeit zu unterschiedlichen emotionalen Reaktionen. Nicht zufällig sind die von Remarque und Toller literarisch dargestellten Reflexionen und Auflösungen von Feindbildern an Szenarien gebunden, in denen ehemalige Feinde waffenlos, in einer Ausnahmesituation (Weihnachtsfriede) gerade nicht gefährlich oder tot sind. Es sind Situationen, die bei den beteiligten Figuren und bei den Lesern Raum zur Rührung und ethisch hochgeschätzten Emotionen wie Mitleid und Reue über eigene Fehleinschätzungen zulassen.

In Remarques Roman geht die Auflösung eines alten Feindbildes allerdings, vage angedeutet, mit der Etablierung eines neuen einher: „Aber wenn ich davonkomme, Kamerad, will ich kämpfen gegen dieses, das uns beide zerschlug: Dir das Leben – und mir – ? Auch das Leben. Ich verspreche es Dir, Kamerad, es darf nie wieder geschehen.“ Auch pazifistische Bewegungen, die in ihre Gemeinschaft ehemalige Feinde integrieren, kommen ohne Gegner kaum aus. Dass es Feindbilder gibt, die unter Umständen ihre Berechtigung haben, macht die Reflexion über sie nicht eben einfach.

Der Beitrag übernimmt einen Teil aus Thomas Anz: Freunde und Feinde. Kulturtechniken der Sympathielenkung und ihre emotionalen Effekte in literarischen Kriegsdarstellungen. In: Søren R. Fauth / Kasper Green Krejberg / Jan Süselbeck (Hg.): Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuelle Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2012. S. 335-354. Eine Fassung dieses Aufsatzes mit Zitatbelegen und Hinweisen in den Fußnoten ist für Onlineabonnenten von literaturkritik.de hier zugänglich.

Weiterführende Informationen und Hinweise zum Weihnachtsfrieden 1914 enthält ein Artikel dazu bei Wikipedia.

Eine Filmdokumentation zu dem Weihnachtsfrieden in mehreren Folgen ist bei YouTube unter diesen Adressen zugänglich:

https://www.youtube.com/watch?v=8Ay1CXq2oYc

https://www.youtube.com/watch?v=7qJTrk5e1Qw

https://www.youtube.com/watch?v=x4UGbUB46pc

https://www.youtube.com/watch?v=SHPGK9NlEko

Kein Bild

Barbara Korte (Hg.): Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2008.
222 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783898617277

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Erich Maria Remarque: Der Feind. Sämtliche Erzählungen zum Ersten Weltkrieg.
Herausgegeben von Thomas Schneider.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
128 Seiten, 4,00 EUR.
ISBN-13: 9783462046298

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Titelbild

Michael Jürgs: Der kleine Frieden im großen Krieg. Westfront 1914.
Pantheon Verlag, München 2014.
351 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783570552377

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Titelbild

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Roman.
Herausgegeben von Thomas Schneider.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
336 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783462046335

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