Geschichte von unten

René Freund reflektiert die Kriegerlebnisse seines Vaters Gerhard Freund

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

René Freund arbeitet als Dramaturg, Autor von Essays und Romanen und ist der Sohn eines prominenten Vaters: Gerhard Freund war österreichischer Fernsehdirektor und später Filmproduzent. Er starb 1979, als sein Sohn 12 Jahre alt war. Jetzt denkt dieser in einem essayistischen Buch über seinen Vater nach.

Das Buch reiht sich ein in eine Reihe ähnlicher Erinnerungsbücher, in denen sich Nachgeborene mit Vätern, älteren Brüdern und deren Verhalten unter der nationalsozialistischen Herrschaft beschäftigen. Als Beispiele könnte man Bücher von Uwe Timm („Am Beispiel meines Bruders“), Thomas Medicus („Heimat“) und Wibke Bruns („Meines Vaters Land“) nennen. Freund bekennt nicht ohne Koketterie, dass er skeptisch gefragt wurde, warum er „schon wieder ein Buch zu diesem Thema“ entstehen lassen will. Aber er beantwortet die Frage ernsthaft: Sein Buchprojekt ist nicht nur persönliches Anliegen, er will es auch als politische Schrift verstanden wissen:„Die Frage: ‚Wie hätte ich mich damals verhalten?‘ führt direkt zu der für uns viel wichtigeren Frage: ‚Wie verhalte ich mich heute?’“

Dieses Aspekt hat den Aufbau des Buches mitbestimmt. Das tragende Grundgerüst des Textes (und vermutlich auch den Schreibanlass) bildet das Kriegstagebuch des Vaters, ein Typoskript, entstanden wohl noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Es dokumentiert die kurze Zeit Gerhard Freunds als Soldat. Er wurde unmittelbar nach seiner Einberufung als Achtzehnjähriger 1944 ins besetzte Paris geschickt, wo es ihm gelang, gemeinsam mit einem Kameraden zu desertieren. Die meisten Kapitel des Buches bestehen aus ausführlichen Zitaten aus diesem Text, unterbrochen von Kommentaren und historischen oder persönlichen Erläuterungen des Sohnes. Manchmal werden ganze Kapitel eingeschoben: Einige davon beschreiben, wie René Freund mit seiner Familie durch Frankreich reist – auf den Spuren des Vaters. Andere widmen sich wichtigen historischen Ereignissen, die in Bezug zu den Geschehnissen des Kriegstagebuches stehen, etwa der Landung der Alliierten in der Normandie oder deren Strategie zur Befreiung der französischen Hauptstadt oder aber der Schlacht von Verdun im vorherigen Weltkrieg. Daneben schildern einige Kapitel die Familiengeschichte Gerhard Freunds sowie die seiner späteren Frau.

Besonders diese familiengeschichtlichen Ergänzungen geben dem Buch eine besondere Note, sie machen die geschichtlichen Ereignisse anschaulich. Wenn etwa das Gedicht wiedergegeben wird, das die Mutter ihrem 18-jährigen Sohn zur Einberufung in den Kriegsdienst mitgab, erlebt man hautnah, was es heißt, in den Krieg zu ziehen. Und wenn dargestellt wird, wie der Vater seine Berufstätigkeit als Lehrer verlor, nur weil er seine arische Herkunft nicht sicher nachweisen konnte, begreift man, was Nationalsozialismus war.

Sehr gut tut dem Buch auch der Erzählstrang um Gertraud Müller, die spätere Frau Gerhard Freunds und Mutter des Autors, obwohl sie im engeren Sinne nichts mit dem Hauptthema, dem Kriegstagebuch, zu tun hat: Gerhard Freund und Gertraud Müller lernten sich erst nach dem Krieg kennen. Aber die Ausführungen über die Familie Müller ergänzen die Geschichte der kleinbürgerlichen Familie Freund um entsprechende Erlebnisse von Oberschichtlern – Gertraud Müllers Vater Leo gehörte zu den führenden österreichischen Faschisten um Engelbert Dollfuß. Nach der Annexion Österreichs durch Hitler verlor auch er – wie Gerhard Freunds Vater – seine Arbeit: Zwar konnte er den Ariernachweis erbringen, aber um missliebige Konkurrenten zu entfernen, brauchten die Nazis keine Begründung. Immerhin wurde er als Saatgutexperte „UK“ gestellt, blieb also von der Einberufung verschont und konnte mit seiner Familie auf einem Gutshof („fast schon feudal“, wie der Enkel vermerkt) den Krieg überdauern – wo er übrigens Flüchtlinge versteckte, vermutlich osteuropäische Juden.

René Freunds Buch über seinen Vater gelingt das Einfache, das schwer zu machen ist. Es nähert sich seinem Stoff, dem Vater und dem Krieg, persönlich, doch unvoreingenommen, indem es einfach erzählt – wobei der Autor seine Vorbehalte und seine subjektive Sichtweise weder leugnet noch sich diese verbietet. Sie wird offen benannt und verliert so jede destruktive Kraft. Dabei scheut der Autor nicht davor zurück, unangenehme Dinge zu sagen, etwa über die faschistischen Überzeugungen seiner Großeltern oder über die Protektion, mit der er selbst dem Wehrdienst entkam. Die Bedeutung der Familie Müller für die Karriere Gerhard Freunds deutet der Autor diskret an, indem er ein entsprechendes Familienfoto einrückt.

Diese Vorgehensweise ist nicht nur elegant, sie ermöglicht auch die große Wahrhaftigkeit dieses Buches: Der Autor lässt die Dinge selbst sprechen. Es wird nicht pauschal über den Krieg, über den Nationalsozialismus oder gar über den Vater geurteilt, sondern es wird ein Beispiel vorgestellt, die Geschichte des jungen Gerhard Freund. Die Kommentare des Sohnes zu den vorgestellten Fakten sind sachlich, sehr gut recherchiert und verraten ein hohes Reflexionsniveau.

Und deshalb kann es sich René Freund am Ende auch erlauben, ganz subjektiv „ich“ zu sagen. „Mein Vater, der Deserteur“ ist nämlich ein Buch der persönlichen Trauer, Trauer über die verletzte Seele des Vaters. Es zeigt, dass diese Trauer uns alle angeht: Was Gerhard Freund erleben musste, hat eine ganze europäische Generation erlebt, ja, es erlebt jeder, der mit Krieg und Diktatur konfrontiert ist. Gerhard Freunds Beispiel steht exemplarisch für viele. So funktioniert Geschichte von unten.

Titelbild

René Freund: Mein Vater, der Deserteur. Eine Familiengeschichte.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014.
208 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783552062566

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