Vom Töten im Krieg

Benjamin Ziemann analysiert in seinem Buch „Gewalt im Ersten Weltkrieg“ anschaulich die Folgen der Gewalterfahrungen im Ersten Weltkrieg

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Krieg gehört das Töten. Spricht man also vom Krieg, so muss man auch von Tötungsgewalt sprechen. Sie ist Teil der Geschichte des Krieges. Das gilt nun in besonderem Maße für den Ersten Weltkrieg, den man schon bald das große Schlachten, eine Orgie der Gewalt, eine menschenfressende Knochenmaschine nannte. Derartige Pauschalkennzeichnungen sind Ausdruck der Erfahrung einer neuen Qualität des Tötens. Dieser Krieg tötete mit technisch-industrieller Konsequenz. Die Bedingungen des industrialisierten Krieges, in dem ständig neue Waffensysteme, also Tötungssysteme, ‚getestet‘ wurden, bestimmten die Dynamik der Gewalt. Der Historiker Benjamin Zieman nennt deshalb in seinem Buch über die „Gewalt im Ersten Weltkrieg“ diesen Krieg ein „Laboratorium der Gewalt“. Ein Laboratorium, um auszuprobieren und zu „experimentieren“, um zu erfahren, wie neue Waffen wirkten, wie man auf sie reagieren musste, oder ob neue Strategien wie die Stoßtrupps der Deutschen im Schützengrabenkrieg geeignet waren, den Gegner wirkungsvoll ‚auszuschalten‘.

Versucht man nun, die Effektivität der Tötungsgewalt zu analysieren, so sind freilich pauschale Kennzeichnungen des Schreckens hinderlich. Es sind stattdessen Differenzierungen in der Gewaltanalyse nötig: Wer tötete, wer starb in diesem Krieg? Wann? Wo? Wie? Ziemanns genaue, zuweilen irritierend nüchterne Betrachtung der Kriegsgewalt konzentriert sich auf drei Bedingungsfaktoren der Gewalt, die er im Untertitel seines Buchs benennt: Töten (das bedingt das Sterben), Überleben, Verweigern.

Den größten Zerstörungseffekt erzielte im Ersten Weltkrieg die Artillerie. Eine traumatisierende Erfahrung für die Soldaten, die sich auf ihre Kriegsbereitschaft, mithin also ihre Gewaltbereitschaft, auswirkte. Denn statt im idealisierten aktiven heldenhaften Kampf, wie ihn später der „Praktiker und Beobachter des Tötens“, der Stoßtruppführer Ernst Jünger, dem der Autor einen eigenen Abschnitt in seinem Buch widmet, modellierte, ihre „Kampfbereitschaft“ beweisen zu können, erlebten die Soldaten eine erstickende Passivität. Wenn überhaupt noch eine Handlungsmächtigkeit bestand, dann die zu Überleben. Und dieses Motiv überwog schließlich, löste die Formen rationalisierter Kriegsbereitschaft als Folge theoretischer Konstruktionen wie Nationalismus, Vaterlandsliebe, Ehre und dergleichen ab. Das Überleben, so der Autor, wurde zu einer entscheidenden Rahmenbedingung des soldatischen Gewalthandelns.

Die Gewaltverweigerung ist eine Möglichkeit zu Überleben. Sie fand im Verlauf des Krieges erstaunlich viele Varianten. Sie reichten vom Überlaufen zum Gegner, sonstigem Entfernen von der Truppe bis hin zu erstaunlich vielfältigen und dauerhaften Aufenthalten ‚in der Etappe‘, also hinter den Kampflinien, oder auch im Heimatgebiet der Soldaten. Fasst man alle Formen der Verweigerung unter dem Begriff der Fahnenflucht, so resümiert der Autor: „Fahnenflucht war […] die im deutschen Weltkriegsheer mit Abstand bedeutendste soldatische Verweigerungsform. Sie wuchs bereits vor dem Sommer 1918 zu einem Massenphänomen an.“ Ab Sommer 1918 kam es nach missglückten Offensivversuchen der Deutschen angesichts der nun offensichtlich werdenden Kriegslage immer öfter zu offenen Verweigerungen. Bis zu einer Million Soldaten verweigerten gegen Ende des Krieges die Befehle ihrer Vorgesetzten.

Es mutet erstaunlich an, dass angesichts dieser Gewaltverweigerung vergleichsweise wenig Todesurteile gegen Fahnenflüchtlinge ausgesprochen und vollstreckt wurden. In einem Bericht für den Untersuchungsausschuss des Deutschen Reichstages zu den „Ursachen des deutschen Zusammenbruchs“ von 1929 wurden insgesamt 150 Todesurteile aufgeführt, von denen indes nur 48 vollstreckt wurden. Nur 18 Todesurteile ergingen gegen Deserteure. Damit lag die Zahl der Hinrichtungen auch deutlich unter denen des britischen Expeditionskorps, das allein 269 Todesurteile gegen Deserteure vollstreckte. Auch wenn Ziemann die Reichswehrzahlen anzweifelt und eine höhere Anzahl Todesurteile annimmt, so bleiben sie doch nicht nur im Vergleich zu den Praktiken der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg erstaunlich niedrig.

Die Militärs bekamen das Phänomen der massenhaften Verweigerung, die ja eine massive Bedrohung des militärischen Selbstverständnisses darstellt, nicht in den Griff. Also diffamierten sie es als „Drückebergerei“. Die „Drückeberger“ gehörten zu denen, die dem „im Felde unbesiegten“ Heer den Dolch in den Rücken stießen. Indem die Drückeberger zum Teil der Dolchstoßlegende gemacht wurden, wurde das Phänomen zudem entpolitisiert. Denn tatsächlich war die Verweigerung eine Art „versteckter Militärstreik“, wie es der Freiburger Militärhistoriker Wilhelm Deist einmal benannt hatte. Der Autor hinterfragt diese Sichtweise, indem er die Motive der Soldaten zur Verweigerung im Jahr 1918 betrachtet. So habe es zwar auch eine politische Intention („Revolutionierung“) gegeben, wichtiger sei aber das „Motiv der unmittelbaren Lebenssicherung“ gewesen. Als Massenphänomen aber, so resümiert Ziemann, war die „Drückebergerei“ durchaus auch Ausdruck einer „aktiven, kollektiven Handlungsfähigkeit der Soldaten“ und trug damit am Ende tatsächlich Züge des versteckten Militärstreiks, wie Deist ihn beschrieben hatte. Versteckt war dieser Streik, weil von niemandem als solcher erkannt und recht bald auch endgültig verschwiegen. Schon deshalb, so möchte man dem Autor zustimmen, lohnt auch heute die Beschäftigung mit diesem Thema als ein Beispiel soldatischer Selbstbestimmung.

Die massenhafte Gewalterfahrung musste nach dem Krieg verarbeitet werden. Von der Idealisierung ins Heldenhafte à la Ernst Jünger war bereits die Rede. Inwieweit die Weimarer Republik in Folge des Krieges insgesamt eine „brutalisierte Gesellschaft“ war, deutet der Autor nur an. Intensiver widmet er sich der „Gewaltverarbeitung“, die in pazifistische Einstellungen mündete. Am Beispiel des ehemaligen Soldaten und späteren Polizisten Hermann Schützinger schildert Ziemann den Wandel vom Frontsoldaten zum Pazifisten und Repräsentanten der „Nie wieder Krieg“-Bewegung. Dieser Wandel war aber, so Ziemann, „keine direkte Konsequenz aus der Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges“. Erst als Schützinger im Gefolge des Kapp-Putsches gegen die Republik die destruktive Kraft der in Teilen des alten Offizierskorps nach wie vor vorhandenen und kultivierten Gewalt erkennt, zieht er die die politische Konsequenz und positioniert sich.

In dem Maße, wie die Gewaltverarbeitung nach 1918 politisch interpretiert wurde, wurde Aufklärung über die Kriegswahrheiten wichtig. Ziemann erinnert dankenswerterweise an zwei sehr erfolgreiche, heute aber völlig vergessene Veröffentlichungen über die Zustände in der deutsche Etappe in Belgien: „Charleville“, eine „Schrift“ von Wilhelm Appens (1877-1947) und „Etappe Gent“ von Heinrich Wandt (1890-1965).

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Benjamin Ziemann: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten - Überleben - Verweigern.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2013.
276 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783837508871

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