Expedition Menschheit

Der von Stefan Hermes und Sebastian Kaufmann herausgegebene Sammelband „Der ganze Mensch – die ganze Menschheit“ bildet den Auftakt zu einer völkerkundlich ausgerichteten Forschung zur literarischen Anthropologie um 1800

Von Carina MiddelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Middel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 18. Jahrhundert war eine einzige große Expedition. Ihr Ziel: der Mensch, sein Wesenskern und seine kulturelle Vielfalt. Nicht nur die Wissenschaften, auch die Literatur machte sich auf den Weg, das Terrain des Menschen von Grund auf neu zu vermessen. Die Forschung hat das längst erkannt: Seit den 1990er-Jahren, in denen Wolfgang Riedel, Hans-Jürgen Schings und andere bis heute maßgebliche Arbeiten zur literarischen Anthropologie vorlegten, erkundet sie die Interdependenz von Anthropologie und Literatur zur Zeit der Aufklärung. Ihr Hauptinteresse gilt der Frage, wie anthropologisches Wissen in die Literatur integriert, von ihr popularisiert, revidiert und generiert wurde. Im Zentrum stand bislang vor allem ein philosophisches, physiologisch wie psychologisch orientiertes Anthropologieverständnis: Es ging um den Menschen, seine universelle Wesensnatur, um die Wechselwirkung von Körper und Geist, Leib und Seele.

Diesem auf das Allgemein-Menschliche reduzierten Forschungsinteresse wollen Stefan Hermes und Sebastian Kaufmann mit dem Sammelband Der ganze Mensch – die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800 explizit ein Korrektiv entgegenstellen. In jener Zeit der Forschungs- und Handelsreisen und des innereuropäischen Nationalismus-Diskurses manifestierte sich in Deutschland, wie die Herausgeber deutlich machen, nämlich ein kaum zu überschätzendes Interesse an fremden Völkern und Kulturen. Nicht nur der Mensch, sondern auch die Menschen und ihre kulturellen Eigenarten und Differenzen standen im Fokus der Wissenschaftler und Literaten. Die Perspektiverweiterung der Forschung zur literarischen Anthropologie, die sich nun erstmals ausführlich der Frage nach ethnologisch-anthropologischem Wissen in Literatur und Ästhetik der Aufklärung und des Sturm und Drang, der Weimarer Klassik und der Romantik öffnet, erfüllt somit ein längst überfälliges Desiderat der Anthropologieforschung. Dass sich der völkerkundliche Diskurs äußerst facettenreich gestaltete und Rückgriffe auf andere Kulturen in literarischen und ästhetischen Texten diverse Funktionen erfüllten, davon legt die Vielfalt der Beiträge Zeugnis ab.

Nicht selten nahm man auf das Fremde Bezug, um die eigene Identität zu festigen, oder aber, um deren Grenzen und Werte in Frage zu stellen: So spielten, wie die Aufsätze von Sebastian Treyz und Stefan Hermes zeigen, innereuropäische (hier deutsch-französische) Differenzen eine Rolle für die Ausbildung eines deutschen Nationalcharakters. Während Luise Gottsched in ihrer Komödie Die Hausfranzösinn, oder die Mammsell (1744) gezielt franzosenfeindliche Klischees einsetze, um über einen Prozess der Abgrenzung einen identitätsstiftenden Beitrag zur Nationalerziehung zu leisten, lasse sich an Jakob Michael Reinhold Lenz‘ poetologischer Farce Pandämonium Germanikum (1775 entstanden, 1819 veröffentlicht) nicht nur die Integration nationaler Stereotype, die zum Ausbau einer deutschen Kultur beitragen sollten, sondern zugleich auch die Aufweichung klarer Mentalitätsgrenzen im Zeichen kultureller Hybridität nachweisen.

Auch außereuropäische Völkerstämme, bekannt aus den zahlreichen Reiseberichten jener Zeit, dienten zur Kontrastierung mit der eigenen Kultur. Carsten Zelle und Alexander Košenina legen dar, wie Kenntnisse über fremde Völker in kulturrelativistischer und selbst-, in diesen Fällen also eurokritischer Absicht Eingang in die Literatur fanden: So habe Johann Gottlob Krüger in seinen Träumen (1754) ethnologisches Wissen der Frühaufklärung aufgegriffen, um es relativierend gegen die eigene Kultur zu wenden. Und in dem populären Geschichtsdrama Columbus (1808) von August Klingemann werde die erste Begegnung zwischen europäischen Entdeckern und amerikanischen Ureinwohnern kolonialismuskritisch in Szene gesetzt.

In anderen Fällen diente der Rückgriff auf völkerkundlich-anthropologisches Wissen dazu, europäische Ideen und aufklärerisches Gedankengut in ein fremdes Gewand zu kleiden: Christopher Meid stellt heraus, wie Gottlieb Konrad Pfeffel in seiner Lyrik Stereotype des damaligen China-Diskurses instrumentalisiert, um eine universelle Tugendlehre zu vermitteln. Und Olav Krämer demonstriert, wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim in seinem Gedichtzyklus Halladat oder Das rothe Buch (1774) zeitgenössische theologische, philosophische und dichtungstheoretische Debatten durch die Integration von Kenntnissen über Religion und Kultur des Islam vor eine orientalische Kulisse versetzt.

Auch ging man im 18. Jahrhundert der Frage nach, wie und ob überhaupt der Zugang zum Fremden gelingen kann: Johann Gottfried Herder etwa, das ergibt sich aus Jutta Heinz’ Untersuchung, fand in der Literatur einen Weg, das Wesen fremder Kulturen zu fassen, indem er das Volkslied als ursprüngliche und organisch gewachsene Ausdrucksform eines Volkes betrachtete. Heinrich von Kleist hingegen, so zeigt Dieter Heimböckel, greift das Fremde in seinen Novellen Das Erdbeben in Chili (1807) und Die Verlobung in St. Domingo (1811) auf, um ausgehend von einem radikalen Kulturrelativismus gerade die Unmöglichkeit, es verstehen zu können, zu demonstrieren.

Völkerkundlich-anthropologisches Wissen ist in der Zeit der Aufklärung also in ganz unterschiedlichen Absichten zum Bestandteil von Literatur und Ästhetik geworden, das zeigen auch die anderen Beiträge des Bandes, die die astronomischen und klimatheoretischen Hintergründe der Menschheitsgeschichte bei Hölderlin (Alexander Honold), den ‚kulturellen Synkretismus‘ in den Sizilien-Dramen Voltaires, Goethes und Schillers (Robert Krause), Wielands ethnopsychologische Reflexionen in seinen Beyträgen (1770 und 1795) (Michaela Holdenried), anthropologische Gesichtspunkte in der Debatte um den orientalischen Despotismus in Schillers Geisterseher-Fragment (1787–89) (Ralph Häfner) sowie den Aufgriff und die Untergrabung negativer ‚Zigeuner‘-Stereotype in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Das öde Haus (1817) (Maximilian Bergengruen) zum Thema haben.

Bei aller Vielfalt aber schwingt ein Konflikt – mal stärker, mal schwächer – stets mit: Es ist das spannungsvolle Nebeneinander von universalistischen und relativistischen Positionen im ethnologisch-anthropologischen Diskurs der Aufklärungszeit mitsamt den damit verbundenen Fragen: ob die bunte, über den Globus verteilte Völkerschar überhaupt eine ganze Menschheit oder ob sie ein heterogenes Aggregat voll kultureller Vielfalt bilde; ob und unter welchen Werten, Normen und Konstanten sich eine Totalität denken lasse – oder ob, wie Herder es formulierte, nicht „jede Nation ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich“ habe.

Auch die Begegnung mit fremden Kulturen führte also zur Reflexion über die Möglichkeit und die Gestalt eines Allgemein-Menschlichen. An dieser Stelle berühren sich philosophische und völkerkundliche Anthropologie und es tun sich weitere Fragen auf: Welche Auswirkungen haben die Debatten um fremde, auch außereuropäische Völker auf die Diskussionen zum ganzen Menschen in literarischen und ästhetischen Texten der Aufklärung? Musste angesichts der Begegnung mit anderen Kulturen das deutsche – das europäische Menschenbild modifiziert werden? Und auf welche Weise prägen die in der Aufklärung vorherrschenden anthropologischen Modelle wie die Ideen vom vernunftbegabten oder psychophysisch ganzen Menschen, in denen sich auch nationale und europäische Selbstbilder und Diskurstraditionen spiegeln, die Betrachtungsweise fremder Völker?

Vereinzelte Hinweise gibt der Sammelband auf einen Zusammenhang zwischen den Konzepten des ganzen Menschen und der ganzen Menschheit – etwa in Sebastian Kaufmanns Beitrag, der zeigt, wie zum Ausbau einer Ästhetik des Schönen und Erhabenen in Kants Kritik der Urteilskraft (1790) und Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) die Diskurse um allgemeine Bedingungen des Menschseins, um den Status des Wilden und um die menschliche Befähigung zu ästhetischer Rezeption ineinandergreifen. Eine systematische Analyse aber, wie philosophische, physische, psychologische und völkerkundliche Anthropologie in der Literatur um 1800 zusammenhängen, bleibt aus – wiewohl sie mit Blick auf den Titel des Bandes wünschenswert gewesen wäre. So bildet die Publikation zwar einen gelungenen Auftakt zu einer völkerkundlich ausgerichteten Erforschung der literarischen Anthropologie – deren Schlusswort aber kann mit ihr noch nicht gesprochen sein. Zumal auch eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes über die Literatur des deutschen Sprachraums hinaus sowie ein komparatistischer Ansatz der Debatte in Zukunft gut ständen.

Titelbild

Stefan Hermes / Sebastian Kaufmann (Hg.): Der ganze Mensch - die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800.
De Gruyter, Berlin 2014.
318 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110307665

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