Studienbeginn in einer zerbombten Stadt

Marcel Atze wirft einen Blick auf W. G. Sebalds Freiburger Zeit

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit haben vornehmlich Themen wie Erinnerung, Trauma, deutsche Vergangenheit, Emigration und Intermedialität die Forschung zum Werk W. G. Sebalds interessiert. Entsprechend wurden sie bis zum Überdruss abgehandelt. Umso begrüßenswerter ist es, wenn jüngere Forschungsbeiträge andere bei Sebald reizvolle Aspekte erschließen und nicht etwa den bereits zahlreichen Arbeiten zur Bedeutung der Photographie bei Sebald oder zu Sebalds Geschichtsarchiven eine weitere hinzufügen.

Eine besondere Abteilung innerhalb der Sekundärliteratur zu W. G. Sebald bilden jene Beiträge, die dezidiert zur Biographik des 1944 im Allgäu geborenen und 2001 in England tödlich verunglückten Autors beitragen und bisher unerschlossene Facetten seines Lebens beleuchten. Die im institutionellen Zusammenhang des Deutschen Literaturarchivs in Marbach und der dortigen Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg von Thomas Schmidt herausgegebenen SPUREN-Hefte widmen sich in ihrer 102. Nummer, verfasst vom Leiter der Handschriftensammlung der Wienbibliothek, Marcel Atze, W. G. Sebalds Freiburger Zeit. Bereits der Paratext des sechzehn Seiten umfassenden Heftes – der Außenumschlag mit dem aufgedruckten Stempel des Studentenwohnheims in der Freiburger Maximilianstraße 15 – weist darauf hin, dass uns der mit zahlreichen Bildern und Dokumenten versehene kurze Text des Heftes Sebalds Freiburger Studienjahre zwischen 1963 und 1965 nahebringen möchte. Das unter dem halbtransparenten Schutzumschlag hervorscheinende Photo hingegen zeigt das im Zweiten Weltkrieg zerbombte Freiburg und nimmt so das Thema auf, welches für Sebald in seinen berühmten Poetik-Vorlesungen Luftkrieg und Literatur zentral werden sollte.

Marcel Atzes Text ist auf der Suche nach den Spuren und Relikten, die Sebald in Freiburg hinterlassen haben könnte, und nach möglichen Antworten hinsichtlich der Frage, was Sebald in dieser Zeit bewegt haben mag. Befriedigende Antworten darauf, warum Sebald Freiburg direkt nach seinem Abitur in Oberstdorf als ersten Studienort wählte und warum er es 1965 plötzlich wieder verließ, um ins schweizerische Fribourg zu gehen, werden zwar nicht gefunden. Aber dies ist auch nicht das Ziel. Stattdessen kann Atzes Essay mit zahlreichen hochinteressanten Funden und Fakten aufwarten. Er liest aus Sebalds noch unveröffentlichtem Roman dieser Jahre Koinzidenzen zu Sebalds eigenem Leben heraus und zeigt überdies, wie gegenwärtig die nationalsozialistische Geschichte im Freiburg der 1960er-Jahre noch war, sodass Sebald wohl nicht zuletzt durch eine Ablehnung namentlich Martin Heideggers geprägt wurde.

Dem Autor gelingt es auch, dem Leser das intellektuell anregende Milieu zu schildern, in das Sebald sich hineinbegab, die für ihn prägende Mitarbeit bei der „Freiburger Studentenzeitung“ und die Zugehörigkeit zu einem Triumvirat um den heutigen Psychoanalytiker Albrecht Rasche und den späteren Anglistikprofessor und Schriftsteller Dietrich Schwanitz. Sogar die Abbildung eines dem Studenten Sebald ausgestellten Scheins wird gezeigt, den dieser nach dem Besuch eines E.-T.-A.-Hoffmann-Seminars erhielt, auf welches Sebald sich mutmaßlich in einem Text des Nachlassbandes Campo Santo wie folgt bezog: „Die Germanistik ist ja in jenen Jahren eine mit beinahe vorsätzlicher Blindheit geschlagene Wissenschaft gewesen und ritt, wie Hebel gesagt haben würde, auf einem fahlen Pferd. Ein ganzes Wintersemester lang rührten wir in einem Proseminar im Goldenen Topf“.

Ob Sebalds Ablehnung seines akademischen Lehrers tatsächlich von dessen Nähe zu Heidegger herrührte, muss allerdings dahingestellt bleiben, und tatsächlich vermögen auch die etwas bemüht von Atze angeführten Verstrickungen um Heidegger und den Freiburger Germanisten Erich Ruprecht diesen Zusammenhang nicht überzeugend zu erhellen und nicht offenkundig zu zeigen, wie die damaligen Intentionen der Beteiligten tatsächlich gewesen sind. Dies belegt freilich wiederum, in welchem Maße jedes Leben posthum zu einer Erzählung werden kann, zu einem Text, der sich trotz aller Faktengründlichkeit der Spekulationen nicht erwehren kann. Solange jedoch eine umfassende Sebald-Biographie nicht auf den Markt gekommen ist, liefert dieses SPUREN-Heft einen soliden und unverzichtbaren Einblick zum Thema „Sebald in Freiburg“. Zu Beginn des Textes wird bemerkt, bezogen auf die Reliquien aus dem Leben eines später berühmten Autors, dass die im Jahr 1966 veranstaltete Auktion mit Möbelstücken des Studentenwohnheims „heutzutage vermutlich ein Renner wäre, weil an einem der Schreibtische und in einem der Betten kein anderer als der nachmalige Autor von Weltrang W. G. Sebald (1944-2001) während seiner Freiburger Studienzeit geschrieben und geschlafen hat.“

In die Freiburger Zeit dieses Autors fällt jedoch auch ein in diesen Jahren verfasstes und in der erwähnten Studentenzeitschrift erschienenes Gedicht unter dem Titel Schattwald im Tirol (1965), in dem Sebald abschließend schreibt: „Richte dich ein / zwischen Tür und Angel“. So vorübergehend unser Aufenthalt ist, so vergänglich ist auch jede unserer Spuren.

Titelbild

Marcel Atze: Sebald in Freiburg.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2014.
16 Seiten, 4,50 EUR.
ISBN-13: 9783937384924

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