Vom Mars nach München

Britta Lange analysiert einen deutschen Science-Fiction-Film von 1916 als Kriegspropaganda

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter passionierten Cineasten und Science-Fiction-Fans ist es kein Geheimnis, dass Genre und Medium wie für einander geschaffen scheinen. Schon als die ersten Filmschaffenden mit meist noch recht unbeholfenen und tapsige Schritte begannen, das weite Feld erzählender Stoffe zu betreten, fanden beide zusammen. Da war der Begriff Science Fiction noch nicht einmal aus der Taufe gehoben. Besondere Berühmtheit erreichte in dieser zwar schon kolorierten, aber noch stummen Vorzeit Georges Mélliès’ „Le Voyage dans la Lune“ aus dem Jahre 1902. Zu Recht. Denn dieses wunderbare Werk früher cineastischer Kunst bewegte sich keineswegs unbeholfen auf dem damals noch unerforschten Terrain. Erst vor wenigen Jahren wurde eine restaurierte Fassung des meisterhaften Werkes auf den DVD-Markt gebracht. Dass dies überhaupt möglich war, ist ein wahrer Glücksfall, denn sämtliche Kopien fast aller Filme aus den frühen Jahren des Mediums sind verschollen und die Werke müssen somit als verloren gelten.

So auch der 1916 entstandene Film „Die Entdeckung Deutschlands durch die Marsbewohner“. Dies hinderte eine findige Forscherin allerdings nicht daran, ein zwar schmales aber überaus informatives Büchlein über den Film zu verfassen, der nicht einmal „den einschlägigen Anthologien zu Science-Fiction-Filmen“ bekannt ist. Dabei wurde er dem Publikum zwischen 1916 und 1924 sogar in vier verschiedenen Versionen vorgeführt, wie man von Britta Lange erfährt. Dass der Streifen mitten im Ersten Weltkrieg entstand und 1916 in Berlin uraufgeführt wurde, ist alles andere als ein Zufall, handelt es sich bei ihm doch um „das erste offizielle Filmwerk, das ausdrücklich für die deutsche Inlandspropaganda im Ersten Weltkrieg bestimmt war“. Die ihm vom der Obersten Heeresleitung unterstehenden Bild- und Filmamt (BUFA) zugedachte Funktion bestand darin, „alliierten Meldungen, das deutsche Reich stehe kurz vor der Kapitulation“, entgegenzuwirken. Für die Aufführung in den deutschen Kinos wurde der ursprünglich mehr als zwei Stunden dauernde Film nach der Uraufführung allerdings sogleich gekürzt, um „einige Längen zu beseitigen“, wie die Autorin eine damalige Ausgabe der „B.Z. am Mittag“ zitiert. Mitte der 1920er-Jahre kam er in einer dritten Fassung erneut in die Kinos, in der, so vermutet die Autorin aus naheliegenden Gründen, „die allzu siegessicheren Teile“ gefehlt haben dürften. Neben diesen drei Versionen entstand eine vierte, holländische von gerade einmal fünfzehn Minuten Länge. Diese fragmentarische Fassung ist als einzige noch heute erhalten und diente Lange neben den ebenfalls überlieferten Zwischentiteln der Version von 1924 als Grundlage für ihre Analyse.

Da der Film „politische, juristische, künstlerische, belletristische und kinematographische Motive und Diskurse seiner Zeit berührt“, besteht ihre Absicht weniger darin, ihn zu „entwirren, als vielmehr seiner Reise durch das Propagandistische, das Filmische und das Fantasievolle [zu] folgen“.

Die Handlung setzt auf dem Mars ein. Denn die Kriegspropaganda der Alliierten dringt bis dorthin vor, stößt auf dem fernen Trabanten aber auf Unglauben. Da deutsche Nachrichten auf dem Roten Planeten jedoch nicht zu empfangen sind, begeben sich drei Mars-‚Menschen‘, zwei von ihnen männlichen, einer weiblichen Geschlechts, auf eine Reise durch das Sonnensystem und landen auf der Erde. Genauer gesagt in München. Sehen sie sich zunächst in der bayrischen Hauptstadt um, so beginnen zwei von ihnen – die beiden Männer, wie sich versteht – eine Rundreise. Unterwegs überzeugen sie sich von der Kraft und Herrlichkeit der deutschen Lande, namentlich ihrer blühenden Kultur, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Besonders herausgestellt wird aber die angeblich hervorragende Versorgungslage der Deutschen, während die Zuschauer im sogenannten Kohlrübenwinter 1916/17 tatsächlich Kohldampf schoben.

Marsilietta, die unerlaubterweise nachgereiste Tochter eines der beiden Marsianer, muss unterdessen in München bleiben und verliebt sich vorübergehend in einen stattlichen Deutschen, bis sie schließlich von dem zweiten Marsianer zum Altar geführt wird. Da sie „die eigentliche Handlung, die Entdeckungsreise durch Deutschland von Marsilius und Mavorin, weder motiviert, torpediert, noch vorantreibt, fungiert sie vor allem als romantisch-lustiges und illustratives Beiwerk“, konstatiert Lange. Größere Aufmerksamkeit schenkt die Autorin den Gender-Konstruktionen des Filmes allerdings nicht, sondern merkt in diesem Zusammenhang nur noch an: „In Marsilietta findet sich ein für die politische Aussage des Films überflüssiges Element, das jedoch der Unterhaltung dient und überdies anderen durch das BUFA verliehenen Langfilmen ähnelt, die Herz-Schmerz-Themen verarbeiten.“ Zumindest der erste Teil dieses Befundes, die Figur und ihre „Herz-Schmerz“-Geschichte sei für die politische Aussage überflüssig, ist zweifelhaft; weiß man doch spätestens seit der Zweiten Frauenbewegung, dass auch das Private politisch ist.

Dafür aber – und das ist kaum weniger interessant – analysiert die Autorin den Streifen nicht nur als Propagandafilm, sondern auch als Film über Propaganda. Zudem hat Lange einige Recherchearbeit nicht zuletzt zur Entstehung des Films, seinen Machern und seinem Werdegang geleistet. So leistet sie mit dem schmalen Bändchen sowohl einen Beitrag zur Erforschung des frühen Science-Fiction-Films wie auch zur deutschen Filmpropaganda während des Ersten Weltkrieges.

Titelbild

Britta Lange: Die Entdeckung Deutschlands. Science-Fiction als Propaganda.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
112 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320193

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