Das Andere der alten maeren

Susanne Schul vergleicht das Erzählen von (Un)Gleichheit in den Bearbeitungen des Nibelungenstoffs

Von Silke HoklasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Hoklas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Altgermanistin Susanne Schul liefert mit ihrer Dissertation HeldenGeschlechtNarrationen einen neuen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenlieds. Diese hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten zum eigenständigen Forschungsgebiet gemausert und wagt nun konsequenterweise zunehmend nicht mehr nur detaillierte Betrachtungen einzelner Bearbeitungen, sondern auch vergleichende Perspektiven auf die lange Rezeptionsgeschichte dieses Stoffs. Der Blick der Verfasserin richtet sich dabei speziell auf Gender und Intersektionalität, das heißt auf die Überschneidung von Differenzmarkierungen wie Geschlecht, Rasse oder Klasse mit anderen Formen sozialer Ungleichheit.

Das aus dem anglophonen Raum stammende Konzept der Intersectionality ist in Deutschland innerhalb weniger Jahre zu einem regelrechten Buzzword der Sozialwissenschaften avanciert. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, wie die Kategorie Geschlecht in ihrem Zusammenwirken mit anderen Kategorien der Ungleichheit erfasst werden kann. Gender soll nicht mehr als alleinige Dimension von Diskriminierung im Fokus stehen, sondern es geht darum, die komplexen Verflechtungen verschieden motivierter Diskriminierungsprozesse aufzuzeigen. Über räumliche Metaphern wie Verschränkung, Überschneidung oder Überkreuzung werden diese in einer wechselseitigen Beziehung zueinander visualisiert. Seit Kurzem hat auch die Mediävistik dieses Konzept für sich zu entdeckt. Ein knapp und übersichtlich gehaltener Forschungsabriss, der den ersten Teil von Schuls Studie ausmacht, bringt auch Leser, die mit dem Begriff und der aktuellen Forschung dazu nicht hinreichend vertraut sind, auf den aktuellen Stand.

Die disziplinäre Basis ihrer Untersuchung aber ist die Mediävistik und die Narratologie. Dass die Autorin Mittelalter- und Erzählforschung mit dem Ansatz der Intersektionalität zusammenbringt, liegt jedoch nicht nur an dessen aktuellem Boom. Vielmehr bieten bereits die mittelalterlichen Wieder- und Weitererzählungen des Nibelungenstoffs sehr „ambivalente Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfe“. Das „provoziere geschlechterorientierte Parteinahme“ und fordere regelrecht zu konstanten Umschreibungen und Umdeutungen heraus. Für ihren Ansatz findet Schul im Text so diverse Gründe. Bereits in der mittelhochdeutschen Nibelungenklage etwa liegt der Fokus des Erzählers eingangs nicht auf den heldenhaften Taten des kühnen Recken Siegfried, sondern auf der „normabweichenden weiblichen Handlungsfähigkeit“ Kriemhilds, die an diesem Epos als außergewöhnlich und berichtenswert herausgestellt wird. Dies ist jedoch nicht nur in den mittelalterlichen, sondern auch noch in den neuzeitlichen Bearbeitungen des Stoffs von besonderer Bedeutung.

Die Verfasserin betrachtet unter diesem Blickwinkel dann im zweiten Teil des Buches gleich vier verschiedene Bearbeitungen des Nibelungenstoffes, die vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert reichen. Das um 1200 entstandene mittelhochdeutsche Nibelungenlied und die dazugehörige Klage dienen ihr als Ausgangspunkt. Mit diesem vergleicht Schul anschließend, in chronologischer Reihenfolge, das Nibelungendrama Friedrich Hebbels aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, den Nibelungenfilm Fritz Langs aus dem frühen 20. Jahrhundert und das Drama Moritz Rinkes in der Inszenierung von Dieter Wedel bei den Wormser Nibelungenfestspiele von 2002. Notwendigerweise sind dadurch die Abschnitte zu den einzelnen Bearbeitungen recht knapp gehalten und lassen sich auch gut als kompakte, einführende Texte verstehen. Auf jeweils knapp 20 Seiten werden das anonyme Epos, Hebbels und Rinkes Dramen und Langs Film vor ihrem Entstehungshintergrund vorgestellt.

Die sehr unterschiedlichen Bearbeitungen aus der inzwischen acht Jahrhunderte umspannenden Nibelungenrezeption erhalten durch den gewählten Genderfokus eine verbindende Perspektive. Deren Potenzial liegt darin, dass sie „sowohl Kontinuitäten als auch Varianzen“ aufzuzeigen vermag. Zusammen mit einer erläuternd eingeflochtenen Analyse des historischen Umfelds geht die Autorin dreistufig vor: Sie zeigt zunächst Stellen im mittelhochdeutschen Ausgangstext auf, die ambivalentes geschlechtsspezifisches Verhalten zeigen. Im nächsten Schritt wird dann dessen Umschreibung oder dessen sich wandelnde Deutung aufgezeigt. Indem sie Szenen innerhalb der gewählten Bearbeitungen miteinander vergleicht, werden zeitspezifische Veränderungen sichtbar. Durch dieses Verfahren zeigt sich beispielhaft, wo mittelalterliche und neuzeitliche geschlechterspezifische Handlungsweisen voneinander abweichen und wie Ambivalenzen des Ausgangstextes zu immer neuen Bewertungen führen.

Bislang wurde vor allem das Eindringen der weiblichen Protagonisten in männliche Handlungsbereiche diskutiert. Kriemhilds und Brunhilds Grenzüberschreitungen werden zwar in nahezu allen Bearbeitungen sanktioniert, sie sind jedoch über die Jahrhunderte immer wieder anders bewertet worden. Hier hingegen stehen nun gleichermaßen auch die Konstruktionen männlicher Heldenhaftigkeit auf dem Prüfstand.

Schul gelingt es im dritten Teil gut durch diese ausgewogene Perspektive am Text nicht nur Frauen-, sondern Geschlechterbilder im Wandel zu belegen. Ihre knappen Argumentationen verlaufen sich nicht in endlosen Textanalysen, sondern bleiben fokussiert und ganz auf die Fragestellung konzentriert. Sie zeigt Texte als „Verhandlungsorte kulturhistorischer Diskurse“, die Diskurse aufgreifen und widerspiegeln. Nicht allein an strahlenden Vorbildern, sondern vielmehr an ambivalenten Grenzgängern, wie sie der Nibelungenstoff zuhauf bietet, lassen sich Normen, die sich mit der Zeit wandeln, deutlich machen. Indem die Autorin das Andere, sei es vorrangig das Geschlecht, aber auch die Herkunft oder körperliche Einschränkungen, aus den alten maeren zeigt und zugleich die beständige Neubewertung und Umschreibung dieser im Verlauf der Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffs, gelingt ihr eine faszinierende Geschichte des Erzählens von (Un)Gleichheit.

Trotz des intersektionellen Ansatzes stehen vor allem die Geschlechterbilder, die das Mittelalter im Vergleich zur Moderne entwirft, im Vordergrund. Die Autorin vergleicht die ambivalenten Entwürfe von Männlichkeit und Weiblichkeit, darunter vor allem genderspezifische Handlungsspielräume, aber auch explizit die Verbindung von Geschlecht und Gewalt. Dieser Vergleich wird aber erst dadurch wirklich reizvoll, dass die Autorin nicht allein den Wandel nachzeichnet, den die Geschlechtermotive vom Mittelalter zur Moderne durchlaufen, sondern dass sie auch aufzeigt, wie sich die modernen Deutungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts über das frühe 20. Jahrhundert bis hin zum 21. Jahrhundert weiterhin gleichermaßen stark wandeln. Denn auch in den vier kanonischen neuzeitlichen Bearbeitungen des Nibelungenstoffes erfahren die Helden und Heldinnen jeweils markante Veränderungen. Obwohl die Autorin diese abschließend nur kurz einander gegenüberstellt, schafft sie es durch den klaren Aufbau der Kapitel doch, diesen Wandel greifbar und abstrahierbar zu machen.

Nicht ganz so gut gelingt ihr allerdings durch diese Kürze der Ausführungen zu den einzelnen Text- und Filmstellen die medienkomparative Darstellung. Ihrem Anspruch, die eigenständigen narrativen Visualisierungsstrategien des Films in Abgrenzung zu den beiden Dramatisierungen und zum Epos aufzuzeigen, wird sie nicht durchgängig gerecht. So wird zwar ersichtlich, inwiefern die zeitgenössische geschlechtsspezifische Gesellschaftsordnung sich auf die jeweiligen Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit niederschlägt. Inwiefern deren Darstellung medien- und gattungsbedingt Schwankungen unterliegt, kommt aber bisweilen zu kurz. Wer eine Analyse historischer und medialer Gebundenheit von Geschlechterbildern am Beispiel des Nibelungenstoffs erwartet, wird dennoch nicht enttäuscht.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Susanne Schul: HeldenGeschlechtNarrationen. Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
568 Seiten, 94,95 EUR.
ISBN-13: 9783631628133

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