Neue Medien in der Mediävistik

Die App ‚Frankfurt im Mittelalter. Auf den Spuren des Passionsspiels von 1492‘ – eine Projektvorstellung

Von Stephanie DreyfürstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephanie Dreyfürst und Regina ToepferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Toepfer

Im späten Mittelalter war Frankfurt nicht nur eine bedeutende Messestadt, sondern auch ein Schauplatz für Passionsaufführungen. Nach den Spuren dieser Spieltradition in der modernen Stadt zu suchen, eine wichtige Facette des literarischen Lebens zu erforschen und einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, war das Ziel eines Lehrprojekts, das von Dr. Stephanie Dreyfürst und PD Dr. Regina Toepfer von April 2012 bis April 2014 an der Goethe-Universität Frankfurt durchgeführt wurde. Gemeinsam mit Studierenden der Literatur- und Geschichtswissenschaft entwickelten die Projektleiterinnen einen historischen Stadtrundgang zum Herunterladen. Die App ‚Frankfurt im Mittelalter‘ führt zu Kunstdenkmälern und historischen Stätten, die noch heute von der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit zeugen. In zwölf Stationen wird von Gewalt, Verrat und Hinrichtung, aber auch von Tanz, Prozessionen und Wundertaten im ‚Frankfurter Passionsspiel‘ und im Leben der Frankfurter Bürger erzählt. Die App kann in allen gängigen App Stores kostenlos heruntergeladen werden (Stichworte: Frankfurt; Mittelalter; Passionsspiel). Eingeladen werden die Nutzer_innen zu einer mittelalterlichen Spurensuche zwischen den modernen Glasbauten, ins Frankfurt des Jahres 1492.  

1) Passionsspiele in Frankfurt

Heute ist Frankfurt vor allem durch seine Bankentürme, den Römer und die Buchmesse bekannt. Beim Anblick der Skyline erinnert wenig an die lange Geschichte der Stadt, die bis ins 8. Jahrhundert zurückreicht. Als Ort der Königswahl und freie Reichsstadt mit eigener Finanzhoheit und Gerichtsbarkeit spielte Frankfurt lange eine bedeutende politische Rolle. Im späten Mittelalter gab es aber auch Attraktionen ganz anderer Art, die in gewisser Hinsicht mit dem regen kulturellen Leben in der Gegenwart vergleichbar erscheinen: Regelmäßig fanden Aufführungen von Passionsspielen statt, wie sie heute noch aus Oberammergau bekannt sind. Solche Aufführungen waren im Mittelalter weit verbreitet, doch in Frankfurt wurde diese Tradition besonders lange und intensiv gepflegt. Eine ausgezeichnete Quellensituation ermöglicht es, den Inhalt und den kulturellen Kontext der Spiele zu rekonstruieren. Schon außergewöhnlich früh ist ein Zeugnis eines Passionsspiels überliefert: Die sogenannte Frankfurter Dirigierrolle stammt aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts und gilt als das älteste überlieferte Regieexemplar in deutscher Sprache überhaupt.

Im 15. Jahrhundert wurden die Passionsspiele vermutlich vom Dom zum Römerberg verlegt und teils in einem Turnus von sieben Jahren aufgeführt. Statt dem Klerus von St. Bartholomäus kümmerte sich eine Spielbruderschaft, in der Kleriker, Patrizier und Handwerker mitwirkten, um die Aufführungen. Die Bürgermeister- und Stadtrechenbücher belegen, dass der Frankfurter Rat die Aufführungen genehmigen und sich um die Sicherheit kümmern musste. Er unterstützte die Aufführungen finanziell wie materiell, stellte Holzbretter für die Bühne zur Verfügung und spendierte den Darstellern nach der Aufführung Wein. Was für einen großen Anklang die Spiele fanden, zeigt sich an der wachsenden Zahl der Beteiligten. 1492 traten auf der Bühne 200 Darsteller auf, und 1498 waren sogar 250-280 Darsteller beteiligt. Gespielt wurde im späten Mittelalter auf einer Simultanbühne, auf der alle Personen bestimmte Plätze einnahmen. Sie hielten sich während des gesamten Spiels auf der Bühne auf und konnten auch parallel agieren. Aus dem Jahr 1493 ist sogar der Text eines Passionsspiels überliefert, das die Grundlage für die multimediale Stadtführung durch das mittelalterliche Frankfurt bildet. Aufgezeichnet wurde der Spieltext von dem Frankfurter Gerichtsschreiber Johannes Kremer, der die Aufführung des Passionsspiels ein Jahr zuvor auf dem Römerberg geleitet hatte und den Text möglicherweise für künftige Aufführungen sichern wollte. Heute wird dieses Textbuch im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte aufbewahrt.

Das ‚Frankfurter Passionsspiel‘ erstreckt sich über zwei Spieltage. Eröffnet wird das Spiel mit einem Gespräch zwischen dem Kirchenvater Augustinus und den alttestamentlichen Propheten, die die Ankunft Christi ankündigen. Augustinus moderiert das Geschehen und kommentiert wichtige Ereignisse. Die Handlung des ersten Spieltags beginnt mit der Berufung der Jünger und endet mit der Gefangennahme Jesu nach dem Letzten Abendmahl. Bestimmte Elemente wie die Heilungen von Kranken wiederholen und steigern sich. Das letzte Wunder Jesu, die Auferweckung des Lazarus, stellt in den Augen seiner Gegner eine ungeheure Provokation dar. Eine wichtige Rolle spielt im Passionsspiel auch Maria Magdalena, die in Frankfurt als Stadtheilige besonders verehrt wird. Sie wird zunächst als tanzlustige und kokette Verführerin dargestellt, bekehrt sich jedoch später. Ein noch wichtigeres Leitmotiv des ‚Frankfurter Passionsspiels‘ ist die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden. Immer wieder kommt es zu Konfrontationen, in denen das Fehlverhalten der Gegner Christi offengelegt werden soll. Das ‚Frankfurter Passionsspiel‘ dient der antijudaistischen Propaganda. Bloßgestellt werden sollen weniger die historischen Feinde Jesu, sondern die zeitgenössischen Frankfurter Juden.

Der zweite Spieltag widmet sich ganz der Passion Jesu. Die Handlung verlangsamt sich, und die Peinigungen werden ausführlich dargestellt. Der zweite Spieltag setzt mit dem Verhör Jesu durch Annas und Kayphas ein, dann folgen Geißelung, Verurteilung und Kreuzigung. Unter den großen Klagen seiner Angehörigen wird Jesus ins Grab gelegt. Ausgerechnet die für den christlichen Glauben zentrale Auferstehung hingegen fehlt; der Schluss des Passionsspiels ist in Kremers Aufzeichnung nicht enthalten. Auch am zweiten Spieltag wiederholen sich einige Elemente: Jesus wird wiederholt Mächtigen vorgeführt, dreimal von Petrus verleugnet, mehrfach misshandelt und immer wieder beklagt. Vor allem Maria, aber auch Johannes und Maria Magdalena klagen um den Gekreuzigten und fordern alle Anwesenden zur inneren Anteilnahme und zum Mitleiden auf.  

2) Interpretationen des mittelalterlichen Massenspektakels

Natürlich kann man sich fragen, warum das Passionsspiel in Frankfurt so großen Anklang fand, weshalb sich so viele Darsteller daran beteiligten und immer wieder Aufführungen mit hohem finanziellem Aufwand veranstaltet wurden. Die Forschung hat lange vor allem das moralisch-katechetische Interesse der Akteure betont. Das Passionsspiel vermittelt wichtige christliche Glaubenslehren, bringt biblische Ereignisse auf die Bühne und weist viele Übereinstimmungen mit einer liturgischen Feier auf, da die Zuschauer einbezogen und zum gemeinsamen Gebet aufgefordert werden. Auch die gemeinschaftlichen Prozessionen belegen, dass eine Passionsaufführung nicht nur Theaterspiel ist, sondern gottesdienstlichen Charakter hat. Darsteller und Zuschauer pilgerten im Anschluss gemeinsam vor die Stadt, stellten die Kreuze des Passionsspiels an wichtigen Verkehrsstraßen auf und erinnerten so an das Leiden Christi. Mit ihrem frommen Verhalten hofften alle Beteiligten, zur eigenen religiösen Erlösung beizutragen. Wie von anderen Städten bekannt ist, konnte man für die Teilnahme an einem Spiel sogar einen Ablass erhalten.

Die Passionsspiele dienten aber auch der städtischen Repräsentation, worauf schon der besondere Ort hindeutet: Nicht im sakralen Raum einer Kirche, sondern auf dem öffentlichen Platz vor dem Römer wurden die Spiele aufgeführt. Die Ratsherren förderten die Spiele, nahmen bei den Aufführungen die besten Plätze ein und verfolgten das Geschehen auf der Tribüne. Das Gemeinschaftsgefühl der Bürger wurde gestärkt, indem Fremde und Andersgläubige systematisch ausgegrenzt wurden. Juden mussten während der Passionsaufführungen in ihrem Ghetto am Wollgraben bleiben. Dass die Spiele sowohl für den Glauben als auch für das Sozialleben förderlich sind, davon waren die Mitglieder der Spielbruderschaft überzeugt. In einer Bittschrift an den Frankfurter Rat vom 1. Mai 1470 erklärten sie, mit einer erneuten Aufführung Gott ehren und zugleich alle Christen zur moralischen Besserung anleiten zu wollen. Der Frankfurter Rat freilich ließ sich nicht überzeugen und lehnte das Gesuch der Spielbruderschaft ab. Über die Gründe lässt sich heute nur spekulieren – vielleicht befürchtete der Rat Ausschreitungen gegen die ansässigen Juden.

Erst in den letzten Jahrzehnten haben die geistlichen Spiele des späten Mittelalters in der Mediävistik die verdiente Beachtung gefunden. Eine vielfältige Spielforschung beschäftigt sich sowohl mit philologischen als auch mit kulturwissenschaftlichen Themen. Aspekte der Textualität und Performativität, von Schrift und Aufführung werden berücksichtigt, und die Bedeutung des Rituals und der Emotionen, die Gründe für die Eskalation von Gewalt und das Verhältnis von Repräsentanz und Präsenz untersucht. Die Alterität des mittelalterlichen Theaters lässt sich im Vergleich zur Moderne besonders gut beschreiben.  

3) Konzeption der App ‚Frankfurt im Mittelalter‘

Die App ‚Frankfurt im Mittelalter. Auf den Spuren des Passionsspiels von 1492‘ orientiert sich an den aktuellen Forschungserkenntnissen der Mediävistik und entfaltet diese am Beispiel der Stadt Frankfurt. Auf der Textgrundlage des ‚Frankfurter Passionsspiels‘ und weiterer historischer Quellen werden übergreifende kulturwissenschaftliche Ansätze aufgegriffen, um lokale Besonderheiten zu erklären. Erarbeitet wurde die App in einem ‚Schreibforschungsseminar‘, das die Schreibdidaktikerin Dr. Stephanie Dreyfürst vom Schreibzentrum und die Mediävistin PD Dr. Regina Toepfer vom Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt entwickelten. Ihre Absicht war, schreibdidaktische Maßnahmen innerhalb des Faches Germanistik zu implementieren. Im Verlauf des Seminars besuchte die Projektgruppe verschiedene außeruniversitäre Lernorte und forschte in Bibliotheken, Museen und Archiven. Die zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer übten, verschiedene Textsorten, wie Rezensionen, Übersetzungen und Drehbücher, zu verfassen. Ergänzend zu konventionellen Referaten lernten sie, die neuen Medien wissenschaftlich zu nutzen und ihre Ergebnisse als ePortfolio, als Film und als Audioguide zu präsentieren. Auf diese Weise konnten die Studierenden sprach-, literatur- und kulturgeschichtliche Kenntnisse und Medien-Kompetenzen erwerben bzw. ausbauen.

Das Schreibforschungsseminar war auf zwei Semester angelegt. Im ersten Semester wurde das ‚Frankfurter Passionsspiel’, das in rheinfränkischem Dialekt und frühneuhochdeutscher Sprache abgefasst ist, inhaltlich und sprachlich erschlossen. Die Studierenden setzten sich dann mit aktueller Forschungsliteratur auseinander und befassten sich mit historischen Quellen und Objekten. Im zweiten Semester präsentierten die Studierende individuelle Forschungsergebnisse und arbeiteten an dem gemeinsamen Produkt, der App, die von ihrem Engagement und ihrer Kreativität maßgeblich profitierte. Die Mitglieder der Projektgruppe wählten Stationen aus und fotografierten diese, sie legten Geokoordinaten fest und verfassten Drehbücher für die Hörbeiträge des Stadtrundgangs. Alle weiteren notwendigen Arbeitsschritte wurden von den Projektleiterinnen unter Mitwirkung von Sascha Dieter, Tutor des Schreibzentrums und Seminarteilnehmer, durchgeführt: Ein Gesamtkonzept für die App wurde entwickelt, ein Rundweg festgelegt und Bildmaterial organisiert; die Hörtexte der Studierenden wurden grundlegend überarbeitet, Einführungen für die App verfasst, ein ergänzender Flyer erstellt, Vorschläge für das Design entworfen und konkrete Anforderungen für die Erstellung der Software formuliert. Alle Ideen mussten auf ihre technische wie finanzielle Machbarkeit hin geprüft und in Kooperation mit den beteiligten Partnern umgesetzt werden.

Mit dem Layout und der Programmierung wurden zwei professionelle Anbieter, Imke Schmidt (dankegrafik, Berlin) und Marius Schmidt (Schmidtdenktmit, Oberursel), beauftragt. Ohne die finanzielle Förderung durch die Dr. Marschner Stiftung, Microsoft, den Förderfonds Lehre und die Vereinigung von Freunden und Förderern der Goethe-Universität Frankfurt hätte die App nicht realisiert werden können. Unverzichtbar für das Projekt war auch die Unterstützung mehrerer Frankfurter Institutionen, ihrer Direktoren und Mitarbeiter. Das Städel Museum, das Jüdische Museum, das Dommuseum, das Institut für Stadtgeschichte und die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg stellten Informationen, Materialien und Bildrechte für die App zur Verfügung. Eine der letzten und wichtigsten Aufgaben bestand im Einsprechen der Hörtexte, was Anna Chalupa-Albrecht und Johanna Dietz aus der Projektgruppe maßgeblich übernahmen. So werden die Hörer_innen der Audiobeiträge direkt von den Studentinnen eingeladen, sie auf einem Stadtrundgang durch das mittelalterliche Frankfurt zu begleiten.  

4) Vom Römerberg zum Galgentor

Der Hauptbildschirm der App zeigt eine Karte der Frankfurter Innenstadt, auf der zwölf Stationen markiert und durch eine rote Wegführung miteinander verbunden sind. Die Karte basiert auf dem modernen Wegenetz, ist aber stark abstrahiert und um die Silhouetten historischer Gebäude ergänzt. Bei jeder Station können eine Audiodatei und Bildmaterial abgerufen werden. Szenen des Passionsspiels werden mit historischen Orten und Erzählungen über das Leben der Frankfurter Bürger im späten Mittelalter korreliert. In jedem Hörbeitrag wird auch der Originaltext des ‚Frankfurter Passionsspiels‘ in wenigen frühneuhochdeutschen Versen zitiert. Die ersten drei Stationen befinden sich auf dem Römerberg, wo der virtuelle Stadtrundgang mit einer allgemeinen Einführung zu den Passionsspielen im mittelalterlichen Frankfurt beginnt. Im nächsten Beitrag wird der besondere Status des Spiels zwischen Theater und Kult thematisiert, wobei das Verhalten der Ratsherren in den Fokus rückt. Die dritte Station handelt von dem Verrat des Judas und den daraus erwachsenen Problemen für die Frankfurter Juden. Vom Römer aus führt der Weg Richtung Westen zum ehemaligen Karmeliterkloster, in dem heute das Institut für Stadtgeschichte untergebracht ist. Die vierte Station befindet sich im Kreuzgang des Klosters, wo die Geißelung Jesu in einem großflächigen Wandfresko dargestellt ist. In unmittelbarer Nähe stand das Weißfrauenkloster, bevor es im Zweiten Weltkrieg durch einen Luftangriff zerstört wurde. Nur der Straßenname zeugt noch von dem ursprünglichen Standort des Klosters, wo die fünfte Station des Stadtrundgangs angesiedelt ist. Durch Bilder und Geschichten werden in der App auch zerstörte Denkmäler und Stätten des mittelalterlichen Frankfurts wieder sichtbar gemacht. Der Beitrag zum Weißfrauenkloster handelt von seiner Patronin, Maria Magdalena, und den früheren Bewohnerinnen. Erzählt wird vom weltlichen Leben der Jüngerin Jesu und von den ‘gefallenen Mädchen’, für die das Kloster einst gegründet worden war.

Schneckenförmig führt der Weg vorbei am Goethehaus zu der alten staufischen Stadtmauer, dem Ende der Frankfurter Judengasse. An dieser Station wird die Gleichsetzung der Feinde Jesu auf der Bühne mit den Frankfurter Juden am Wollgraben offen gelegt. Der nächste Hörbeitrag bezieht sich auf die überlebensgroße Kreuzigungsgruppe von Hans Backoffen, die im Frankfurter Dom zu besichtigen ist. Die zu Beginn des 16. Jahrhunderts geschaffene Skulptur wirkt wie ein zu Stein gewordenes Passionsspiel, bei dem Maria Magdalena mit offenem Haar zu Füßen des Gekreuzigten kniet. Neben ihr steht Maria, die Mutter Jesu, auf der anderen Seite wird Jesus von Johannes und Longinus flankiert. Im ‚Frankfurter Passionsspiel’ wird der römische Hauptmann als Vorbildfigur präsentiert, weil er sich unter dem Kreuz bekehrt, wohingegen die Glaubensgenossen Jesu skeptisch bleiben. Auch die nächste Station des Stadtrundgangs, auf der Südseite des Doms, zeugt von dem spätmittelalterlichen Antijudaismus. Direkt am Dom befand sich im Mittelalter das Judenviertel, bevor die Juden in die Gasse an der Staufermauer umgesiedelt wurden. Vermutlich wurden die ersten Frankfurter Passionsspiele genau an diesem Platz aufgeführt, an dem Synagoge und Kirche einander unmittelbar gegenüber standen. Der Streit zwischen den Religionen ließ sich auf diese Weise besonders eindringlich inszenieren. Negativ und positiv belegte Bühnenorte, wie Himmel und Hölle, ließen sich Dom und Synagoge symbolträchtig zuordnen. Der Rundgang folgt anschließend dem Prozessionsweg, den die Darsteller und Zuschauer nach einer Aufführung gemeinsam beschritten. Er führt über die Alte Brücke, an deren Anfang und Ende die nächsten beiden Audiobeiträge gehört werden können. Station neun ist dem im Frankfurter Idiom liebevoll ‚Briggegiggel‘ genannten Hahn gewidmet, dessen mittelalterlicher Vorgänger in der Mitte der Brücke stand und den tiefsten Punkt des Flusses anzeigte. Der Hahn auf dem Kreuz sollte die Menschen an ihre Sünden erinnern und zur Bekehrung aufrufen. Diese Botschaft erhielt in der Mitte der Mainbrücke, wo die zum Tode Verurteilten ertränkt wurden, eine besondere Dringlichkeit. Das Sündenbekenntnis von Petrus im ‚Frankfurter Passionsspiel’ verschränkte sich so mit der Alltagswirklichkeit der Zuschauer. Das Leitmotiv des Antijudaismus wird dagegen bei der zehnten Station auf der anderen Seite des Mains wieder aufgegriffen; in einem Brückenturm befand sich ein Schandbild, das Juden verunglimpfte und ihnen schreckliche Verbrechen unterstellte.

Mit den letzten beiden Stationen werden die Grenzen der mittelalterlichen Stadtbefestigung erreicht. Am Affentor in Sachsenhausen wird von einem Muslim im ‚Frankfurter Passionsspiel‘ erzählt, dessen Auftritt vor dem historischen Hintergrund höchst erstaunlich erscheint. Während man in Mitteleuropa von den Türkenkriegen geradezu paralysiert war und eine osmanische Invasion fürchtete, ist Machmet als eine positive Figur gezeichnet. Allerdings wird der Muslim auf der Bühne instrumentalisiert, um die Frankfurter Juden bloßzustellen. Er bekennt sich nämlich zu Christus und beschämt so diejenigen, die ungläubig bleiben. Um zur zwölften Station zu gelangen, muss man den Main wieder überqueren. Die längste Wegstrecke des gesamten Rundgangs führt dann in das heutige Bankenviertel, zum einstigen Standort eines zweiten mittelalterlichen Stadttors, mit dem aussagekräftigen Namen Galgentor. Unmittelbar davor auf dem Galgenfeld wurde die Todesstrafe durch Strang vollstreckt, wobei Zuschauer willkommen waren. Findet sich hier eine Erklärung für die Gewaltexzesse im ‚Frankfurter Passionsspiel‘? Wird die Kreuzigung Jesu deshalb viel detailreicher und grausamer als in der Bibel dargestellt, weil solche Gewalterfahrungen im Mittelalter zum Alltag der Menschen gehörten? Diese Fragen werden im letzten Hörbeitrag beantwortet, so dass der virtuelle Stadtrundgang auf folgende Weise endet:

„[…] Der Grund für die heftige Gewaltdarstellung ist jedoch nicht ein abgestumpftes Publikum; der angeblich tumbe, einfache Mittelaltermensch, er ist nicht das Vorbild für die Gestaltung dieser Szene. Es geht hier nicht um Brot und Spiele. Denn die Zuschauer wissen genau: Der Mann, der im Passionsspiel gequält und gekreuzigt wird, ist unschuldig! Deshalb erregt Jesu Tod Mitgefühl und keine Befriedigung.

Das Passionsspiel bietet vielmehr die Möglichkeit zur Andacht – und zum Mitleiden mit Jesus, lateinisch auch Compassio genannt. Gott ist der christlichen Auffassung nach in Jesus verkörpert. Durch die Annäherung an den leidenden Menschen Jesus kann der Gläubige sich damit auch Gott annähern. Je krasser die Darstellung, desto stärker die Wirkung. Der Passionsweg wird so zu einer Pilgerreise, deren Ende der Gläubige nun erreicht hat. Auf die Hinrichtung folgt im christlichen Glauben die Auferstehung von Gottes Sohn.

Stellen Sie sich ein letztes Mal vor: Sie stehen auf dem Galgenfeld. Jesu Kreuz wird erhoben, reckt sich gen Himmel. Die letzte Station des Passionsspiels ist erreicht. Auf Ihrem Rundgang durch Frankfurt haben Sie die Stadt mit anderen Augen gesehen. Und das macht wohl die Faszination eines mittelalterlichen Textes wie dem Passionsspiel aus: Es ist so viel mehr als ein Theaterstück. Es ist ein religiöses und soziales Ereignis. Und bis heute wird seine Geschichte erzählt und verändert unseren Blick auf die Stadt – auf einmal ist weniger Glas.“

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg