Kein Jazz ohne Blue Note

Richard Havers huldigt dem legendären, stilbildenden Label und dessen Musikern

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Richard Havers opulentes Werk über die Geschichte des legendären Jazzlabels Blue Note Records beginnt mit drei Fotos aus dem Berlin der 1920er-Jahre: Unter den Linden Ecke Friedrichstraße. Die glitzernde Friedrichstraße bei Nacht. Der Vergnügungspalast „Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz. Das Berlin der Weimarer Republik in seiner Blütezeit genoss den Ruf, Europas heißestes und bedeutendstes Jazzpflaster zu sein. Berlin, genauer Schöneberg, war 1908 auch die Geburtsstadt von Alfred Löw, der später, nach seiner Flucht vor den Nazis, als Alfred Lion in den USA Blue Note Records gründete. Alfreds Mutter Margarite war mit der bunten Bohème und Künstlerszene im Kiez verbandelt. Für einen musikbegeisterten Jungen waren Epoche und Familie ideal, um die grassierende Jazzbegeisterung in sich aufzunehmen und zu kultivieren.

1933 richteten Deutschlands neue Machthaber dann ihr Propagandaministerium in Schöneberg ein. Mit Jazz, Kultur, Schwulenszene und Bohème war es damit im Kiez schnell vorbei. Eine Band wie die des Pianisten Sam Woodings, die noch 1925 dem 17-jährigen Alfred sein erstes Jazzerlebnis bescherte, hätte allein aufgrund ihrer Hautfarbe in Deutschland nicht mehr auftreten dürfen. Die Nazis gaben bald den „Erlass wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“ heraus, der sich gezielt gegen Jazz richtete. Joseph Goebbels gründete die Reichsmusikkammer und beschloss, dass Jazz einzig dem Zweck diene, „die Gesellschaft der Schamlosigkeit auszusetzen“. Für die nächsten Jahre sollte das ,deutsche Ohr‘ sich hauptsächlich an geeichtem deutschen Liedgut, nicht an „entarteter Musik“ erfreuen. Und das berühmteste Jazzlabel der Geschichte eben nicht in Berlin, sondern in New York entstehen.

Alfred und seine Mutter entschieden sich relativ früh, bereits 1933, als Juden die Ausreise noch möglich war, zur Flucht über Chile in die Vereinigten Staaten. Richard Havers präsentiert das „Certificate of Arrival“, das die Ankunft Alfred Lions in New York am 28. Januar 1936 bestätigt. In den USA und in New York herrschte zwar kein Terrorregime, sehr wohl aber Rassentrennung und zwar nicht zuletzt auch in der Unterhaltungsbranche. Im Cotton Club, der Ende der 1920er-Jahre der angesagteste unter New Yorks Jazzclubs war und Stars wie Duke Ellington hervorbrachte, spielten ausschließlich schwarze Musiker vor einem ausschließlich weißen Publikum. Alfred Lion hatte bereits bei einem früheren New York-Aufenthalt Tuchfühlung mit der Stadt und ihrer Jazzszene aufgenommen. Als er nun wieder dort ankam, fand er bald im Café Society einen Ort nach seinem Geschmack. Hier spielten schwarze und weiße Musiker gemeinsam für ein gemischtes Publikum: „The wrong place for the right people“, wie die Losung des Türstehers lautete.

Lion gründete Blue Note Records 1939 mit zwei Kompagnons, Max Margulis und Emanuel Eisenberg, Jazzverrückte wie er, die sich der Leidenschaft für „the uncompromising expression of hot jazz or swing“ und „genuine improvisation“ verpflichtet fühlten, wie sie in ihrem Gründungsmanifest deklarierten. Diesem Credo sollten die Gründer von Blue Note mit erstaunlicher Hartnäckigkeit und Unbeirrbarkeit fast drei Jahrzehnte hindurch treu bleiben. Bald nach der Gründung stieß Francis Wolff, ein jüdischer Freund von Lion, der den Nazis gerade noch entkommen war, zum Label und übernahm in den folgenden Jahren eine zunehmend zentrale Rolle, vor allem als Cover-Fotograf.

Eine Ironie der (Jazz-)Geschichte: Genau wie die Nazis in hanebüchener und verleumderischer Weise schwadroniert hatten, dass Juden die „Negermusik“ organisieren würden, standen nun, nach ihrer Vertreibung, tatsächlich zwei jüdische Jazz-Manager hinter dem neben Verve Records wichtigsten Label für die überwiegend schwarzen Jazzmusiker. Lion, der für den musikalischen Part hauptverantwortlich blieb, mochte klassischen New-Orleans-Jazz und Jazz mit energischen Rhythmen –  treibend, erdig, bloß nicht zu lyrisch. Ins Melodiöse driftenden Cool-Jazz suchte man bei Blue Note Records vergeblich. Unnötig zu erwähnen, dass ein Label mit Liebhaberansatz finanziell eine prekäre Angelegenheit war. Lion arbeitete die ersten drei Jahre bei einem Import-Export-Unternehmen, um sich über Wasser zu halten.

In den 1950ern, so Havers, habe Blue Note ganz zu sich selbst und seinem Stil gefunden und „das Versprechen seiner Gründung eingelöst“. Nachdem Sidney Bechet der wohl bedeutendste Name der ersten Jahre bei Blue Note war (sein Summertime wurde zudem der bis dato größte Hit des Labels), war es in den 1940ern, zumindest in Lions Sicht, der eigenwillige Jazzpianist Thelonius Monk. Kommerziell zwar wenig erträglich, war Lion jedoch überzeugt, mit Monks Musik „den heiligen Gral des Jazz“ gefunden zu haben, wie Havers schreibt. In den 1950ern nun kamen Dizzy Gillespie, Dextor Gordon, Fats Navarro, Miles Davis, Horace Silver, John Coltrane, Art Blakey und viele weitere Jazzgrößen zu Blue Note.

Ein nicht unwesentlicher Aspekt beim Aufstieg von Blue Note zur Lifestyle-Avantgarde waren die unverwechselbaren Cover, die aus Wolffs Fotos und Reid Miles fetten, Bauhaus-anverwandten Typographien entstanden. Die ästhetische Qualität der damaligen Cover lässt Havers Band beeindruckend Revue passieren. Reid Miles, den Havers den „Doyen der serifenlosen Schrift“ nennt, „entwarf in seiner 15-jährigen Ära rund 500 Plattencover – es dürfte schwerfallen, auch nur ein einfallsloses Cover darunter zu finden“. (Übrigens durfte auch Andy Wahrhol einige Cover gestalten, die jedoch nicht überzeugen konnten.)

Es war ein Herzinfarkt, der Alfred Lion 1966 schließlich dazu nötigte, Blue Note Records zu verkaufen; vielleicht ein weiser persönlicher Entschluss, denn er lebte noch bis 1987. Das Ende einer Ära war gekommen, das viele auch als Ende der unverwechselbaren Eigenheit des Labels ansehen. Man mag lange darüber debattieren, ob die unbedingte Ernsthaftigkeit, die Detailversessenheit und Leidenschaft von Lion fehlte oder ob es einfach der Gang der Geschichte in Gestalt der aufkommenden Woodstock-Generation war, die ihre eigene Musik mitbrachte und auf die der Jazz, und damit auch Blue Note, eine Antwort finden musste. Das Label kam unter das Dach verschiedener Entertainment-Konzerne. Dennoch entstanden weiterhin großartige Alben mit erstklassigen Musikern wie etwa Bobby McFerrin, Dianne Reeves, Cassandra Wilson, Nora Jones, die 2002 mit „Come along with me“ das meistverkaufte Blue Note-Album aller Zeiten aufnahm (11 Millionen Exemplare) und dafür acht Grammys abräumte, oder Gregory Porter, dessen „Liquid Spirit“ (2013) den Endpunkt von Havers Ode an Blue Note Records bildet.

75 Alben stellt Havers exemplarisch für die verschiedenen Blue Note-Epochen mit viel Kenntnis vor. Diese pointierten Texte heben sich schriftstellerisch vom Rest des Textes ab, der ansonsten über weite Strecken eher leicht, gefällig und mäandernd daherkommt. Das Wesentliche an dem Prachtband ist jedoch die Fülle an Abbildungen, Zeitdokumenten, Fotografien, Covern und Künstler-Portraits, die auf dem schweren, matten Papier atmosphärisch großartig zur Geltung kommen. Sie sind es in erster Linie, die den Liebhaber unwiderstehlich hineinziehen ins Blue Note-Feeling, in eine Swing-Nostalgie, die einen dazu drängt, endlich Schluss zu machen – mit der Abwesenheit von Jazzmusik beim Lesen.

Titelbild

Richard Havers: Blue Note. The Finest in Jazz since 1939.
Übersetzt aus dem Englischen von Tracey Evans und Reinhold Unger.
Sieveking Verlag, München 2014.
400 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783944874074

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