Eine mehr oder weniger perfekte Verlagsmaschine

Siegfried Unselds „Chronik 1971“ ist das Werk eines veritablen Schriftstellers

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Uli Hoeneß nicht der erste und einzige war, der seine Einnahmen dem Finanzamt verschweigen wollte, war eh klar. Dass aber auch Peter Weiss, der sich gerne einen antikapitalistischen Anstrich gab, das Honorar von 830.000 DM, das er sich in vier Jahren verdient hatte, an den Steuerbehörden des schwedischen Wohlfahrtsstaates vorbei, also unversteuert genießen wollte, erfahren wir aus Siegfried Unselds „Chronik 1971“. Diese ist nun nach vier Jahren die Fortsetzung der „Chronik 1970“, die der Chef der Verlage Suhrkamp und Insel begonnen hatte, nachdem oder weil der „Lektoren-Aufstand“ die auf den Verleger zugeschnittene Organisation des Verlags in Frage gestellt beziehungsweise rundweg abgelehnt hatte und die er bis zu seinem Tod weiter schrieb.

Im zweiten Band der „Chronik“ also zeigt sich der Verfasser in seiner Rolle nunmehr durchaus gefestigt. Die wichtigste unternehmerische Entscheidung des Jahres 1971 ist die Präsentation einer neuen Taschenbuchreihe „suhrkamp taschenbücher“, wodurch Verlag und Autoren zunächst allerdings auf Lizenzeinnahmen verzichten mussten. Das Schicksal der Reihe ist dem Initiator deshalb auch ein persönliches Anliegen. So besucht er Buchhandlungen, begutachtet mit den Buchhändlern die Aufstellmöglichkeiten der Bücher und ist überaus beglückt, wenn man die Titel und die Gestaltung der neuen Reihe lobt. Waren doch Suhrkamp/Insel bislang eher auf Distanz zum billigen Taschenbuch gegangen. So erschien die Bibliothek Suhrkamp (seit 1951) fadengeheftet und kartoniert, und auch die edition suhrkamp (seit 1963) kam mit einem eher konservativen Schutzumschlag daher. Mit der Realisation der neuen Reihe, die es bis heute auf rund 4.400 Titel gebracht hat, stellt sich Unseld quer zur damals wie heute verbreiteten Meinung, dass „Opas Verlag tot ist und dass nur der Multimedia-Verlag oder der Verbund-Verlag eine Chance hat“. Durch die Überproduktion von Taschenbüchern würde das Kulturgut Buch zum Wegwerfprodukt. Weil er trotzdem erfolgreich ist, avanciert Unseld an anderer Stelle zum „Haifisch unter den Geschäftemachern in Sachen Literatur“.

In seiner Existenz gefährdet wird der Verlag allerdings durch ein anderes Ereignis des Jahres 1971: den Tod von Helene Weigel am 6. Mai, den Unseld als „schwarzen Donnerstag“ charakterisiert. Denn zu diesem Anlass wollte die DDR mit einer „besonderen Ehrung“ für Bertolt Brecht und Helene Weigel aufwarten, der Überführung des Nachlasses in Staatsbesitz, gleichsam als nationale Aufgabe. Mit dieser „besonderen Ehrung“, das erkannte Unseld blitzschnell, wären die Rechte des von Peter Suhrkamp gegründeten Verlags aufs Äußerste gefährdet, dem Brecht 1950 brieflich versichert hatte: „Natürlich möchte ich unter allen Umständen in dem Verlag sein, den Sie leiten.“ Warum die DDR von ihrem Enteignungsvorhaben schließlich zurücktrat, bleibt indes offen.

Mit diesen und weiteren Informationen wäre Unselds Betriebstagebuch, das er selbst in Bezugnahme auf ein Goethe-Zitat aus „Maximen und Reflexionen“ eine „Chronik“ nennt und das er zeitnah oder auch im Nachhinein diktierte, ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des heute arg gebeutelten Verlags. Es ist aber weit mehr. Es ist vielmehr ein Stück deutscher Kulturgeschichte ebenso wie das „Selbstporträt eines engagierten Verlegers“ (Gerrit Bartels) und schließlich auch eine Fundgrube für Anekdoten. Im Laufe des Jahres 1971 traf sich Unseld mit, um nur die Bekanntesten und Bedeutendsten zu nennen, folgenden Autoren und Autorinnen seines Verlags: Ingeborg Bachmann, Samuel Beckett, Thomas Bernhard, Ernst Bloch, Max Frisch, Peter Handke, Jürgen Habermas, Uwe Johnson, Paul Nizon, Martin Walser und Peter Weiss. Verglichen damit sind die Produktionen, die der aktuelle Novitätenkatalog des Hauses Suhrkamp/Insel aufweist, wohl leider nur Saisonware.

Während einer seiner zahlreichen Reisen notiert Unseld ein Memorandum an den Lektor Beckermann: „Wir müssen mit den Autoren, zu denen wir uns entschlossen haben und von denen wir auch meinen, wir wollen sie weiterführen, dauernde Kontakte halten.“ Die sich daraus ergebenden Konsequenzen hält das Verlegertagebuch minutiös fest, seien es gute Vorsätze gegenüber dem sich beständig entziehenden Wolfgang Koeppen: „Ich muss Koeppen nun noch dichter als bisher auf seinen Schreibspuren bleiben“, oder die Besorgnisse von Jürgen Becker, der sich enttäuscht zeigt über die Verkaufsziffern seiner Bücher: „Er hat den Verdacht, daß bei unserem Versand etwas schiefgelaufen sein muß, ich versprach ihm, das zu kontrollieren.“ Sehr ausführlich dokumentiert Unseld den Streit mit Max Frisch bei der Feier zu dessen 60. Geburtstag in New York und erweist sich dabei als durchaus sensibel und verletzlich: „Ich hatte bis zu diesem Datum immer darauf gebaut, daß es auch Freundschaft zwischen Autoren und Verleger geben könnte, aber seit diesem Datum weiß ich, daß das vielleicht nicht oder nicht mehr möglich sein kann und daß ich mich darauf einstellen muß, das Rettungsmittel kann nicht Liebe sein, sondern nur Arbeit.“

Ein „ausgesprochenes Tief“ notiert Unseld auch in seiner Beziehung zu Thomas Bernhard, als dieser einfach einen Passus aus einem bestehenden Vertrag streicht. Der sehr eigenwillige Vorgang ist bereits in den Briefwechsel Unseld/Bernhard eingegangen. Hier aber ist neben vielen anderen Originaldokumenten auch der faksimilierte Vertrag und „der Strich mit dem Kugelschreiber“, der nachträglich durch Unterschrift wieder ungültig gemacht wurde, zu besichtigen. Unseld gibt Einblicke in die Kalkulation und Bilanzen von Suhrkamp/Insel, vermerkt Kündigungen und Neueinstellungen, so etwa von Elisabeth Borchers, aber auch scheinbar unbedeutende Beobachtungen: „Herr Dr. Sieger hat seit der letzten Begegnung mit mir 17 kg abgenommen“, womit ein ganz persönliches Problem offenbart wird.

Nicht nur im Falle des ominösen Dr. Sieger hilft das umfangreiche Personenregister weiter: Rechtsanwalt für Urheberrecht. Ansonsten freut sich der Leser über die ausführlichen Fußnoten der Herausgeber, die nicht nur etwa die Hälfte des Gesamttextes ausmachen, sondern ganze Vorträge Unselds enthalten oder auch Zeitungsartikel, auf die Unseld Bezug nimmt.

Siegfried Unseld war weit mehr als nur eine „mehr oder weniger perfekte Verlagsmaschine“; er war, das zeigen seine Reflexionen über die Arbeit an der „Chronik 71“ auch ein Schriftsteller: „So schwer schreiben fällt, so sehr orientiert es mich doch, so sehr hält es mich, so sehr werde ich klar über mich selbst und klar über die Richtung meiner Arbeit. Nur schreibend kann man den Prozeß des Schreibens verstehen.“

Titelbild

Siegfried Unseld: Chronik 1971.
Herausgegeben von Ulrike Anders, Raimund Fellinger und Katharina Karduck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
477 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422373

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