Die Wiedergeburt der Utopie aus der Dystopie
Susanna Layhs Untersuchung zu „gattungsparadigmatischen Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie“ klärt über die „finsteren neuen Welten“ kritischer Dystopien auf
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDante hat in der „Göttlichen Komödie“ für die Beschreibung der Qualen der Sünder in Hölle und Fegefeuer bekanntlich 67 Gesänge benötigt, während ihm für die hossianischen Hymnen auf die um den Thron Gottes versammelten Seligen im Paradies gerade einmal die Hälfte hinreichte.
Offenbar sind die Leiden der Menschen um einiges ergiebiger als deren Freuden. Zumindest für die Schreibende Zunft, wie auch die Geschichte des utopischen Genres zu bezeugen scheint, das sich im Laufe des 20. Jahrhundert immer stärker zu einem dystopischen wandelte. Waren die frühen utopischen Entwürfe eines Thomas Morus, Tomasso Campanella oder einer Christine von Pizan ebenso wie die späteren etwa von Louis-Sébastien Mecier oder William Morris doch ebenso handlungs- wie spannungsarm. Eine Ausnahme mag Charlotte Perkins Gilman „Herland“ bieten.
Hingegen hielten schon die ersten Dystopien von Aldous Huxley, Karin Boye oder George Orwell ihr Publikum samt und sonders mit (Selbst-)Mord und Totschlag auf Trapp. Die Utopie schien im 20. Jahrhundert, ungeachtet der kurzzeitigen Widerbelebungsversuche durch feministische Autorinnen in den 1960er- und 1970er-Jahren, dahinzusiechen.
Susanna Layh zufolge ist es dennoch „fraglich, ob […] das Utopische in ideengeschichtlicher Hinsicht zu Grabe getragen werden muss“. In ihrer unter dem Titel „Finstere neue Welten“ erschienenen komparatistischen Untersuchung der „gattungsparadigmatischen Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie“ im 20. Jahrhundert begründet sie ihre Zweifel nicht nur ausführlich sondern auch weithin überzeugend.
Layh entwickelt für ihre „Poetik negativer literarischer Erscheinungsformen des Utopischen“ ein praktikables Instrumentarium, indem sie Utopien, kritische Utopien, Antiutopien, (traditionelle) Dystopien und kritische Dystopien unterscheidet, wobei besonders interessant ist, wie sie die letzten drei begrifflich von einander abgrenzt. Kennzeichnet die Antiutopie „eine gegen das Utopische gerichtete Grundhaltung“, so verkehrt die (traditionelle) Dystopie die positive Utopie in ihr „düsteres literarisches Gegenbild“. Die erst in den 1990er-Jahren die literarische Bühne betretenden kritischen Dystopien hingegen, – „eine vornehmlich weiblich geprägte Literaturerscheinung“ – „entdecken das Dystopische als geeignete fiktionale Vermittlungsform, um utopisches Möglichkeitsdenken als geschlechtsspezifisches Anliegen in die Literatur einschreiben zu können“, und belegen somit „die ungebrochene Anziehungskraft und Virulenz zeitdiagnostischer utopischer Fiktion“.
Kritische Dystopien zeichnen sich gegenüber ihrer traditionellen Variante also nicht zuletzt durch ihre Hybridität aus, „denn sie präsentieren sich ebenso wie die kritischen Utopien als Gattungshybride, in denen sich unter anderem utopische und dystopische Genre-Elemente mischen“. Es ist Layh zufolge gerade diese Hybridität der Texte, die es ermöglicht, „dem weiblichen Subjekt eine Stimme zu verleihen, patriarchale Gesellschaftszustände samt tradierter Geschlechterverhältnisse infrage zu stellen und innerhalb des dystopischen Gesamtentwurfs feministische Vorstellungen, gar eine Art feministische Utopie sichtbar zu werden zu lassen“. Es ist also keineswegs zufällig, dass gerade feministische (SF-)Autorinnen dieses Genre entwickelt haben.
Autorinnen wie Octavia E. Butler, Pat Cardigan, Suzy McKee Charnas, Kim Stanley Robinson, Marge Piercy, Ursula K. Le Guin, Margaret Atwood, Irmtraud Morgner und Vlady Kociancich reanimieren denn auch nicht einfach die traditionelle Utopie, sondern transformieren auf je eigene Weise die „traditionelle Dystopie“ in eine „kritische Dystopie“, indem sie „konventionelle utopische wie dystopische Erzählmustern unterlaufen“, die sich somit „den herkömmlichen Gattungsschemata entziehen“. Da die Autorinnen „utopische und dystopische Elemente miteinander verweben“, „bleibt der utopische Impuls innerhalb des dystopischen Textes erhalten“. So „erweisen“ sich ihre Texte „durch die ihnen inhärente Dialektik von utopischer Hoffnung und dystopischem Pessimismus“ als „postutopische Fortsetzung der literarischen Tradition der Utopie unter anderen Vorzeichen“.
Als weiteres Differenzkriterium zwischen traditionellen und kritischen Dysopien nennt die Autorin die in letzteren „häufig beinahe gleichwertige Beschreibung nicht nur der dystopischen, sondern auch der dieser vorausgehenden innerliterarischen Welt – die der außerliterarischen Wirklichkeit deutlich ähnelt“. So böten kritische Dystopien „fiktionsintern eine klare Warnung, welche über die nur ex negativo erkennbare didaktische Intention der traditionellen Dystopien mit ihrer Darstellung von statischen Schreckensgesellschaften und Szenarien des Grauens hinausgeht“. In solchen Literarisierungen „gesellschaftlicher Entwicklungs- und Transformationsprozesse hin zu einer dystopischen Gesellschaft oder einem postapokalyptischen Weltzustand“ macht Layh ein „innovatives Charakteristikum“ aus, „das in den traditionellen Dystopien nicht zum Ausdruck kommt“. Als Beispiel derartiger Dystopien nennt und analysiert sie etwa „A Handmaid’s Tail“ und „Oryx and Crake“ von Margaret Atwood sowie Marge Piercys Roman „He, She, and It“, wobei anzumerken ist, dass die präapokalyptische Welt in „Oryx and Crake“ selbst bereits dystopisch ist. Die Figur Crake will ihr eine Utopie entgegensetzen und löst bei dem Versuch, sie zu realisieren, absichtlich ein apokalyptisches Geschehen aus.
Auf der erzählerischen Ebene unterscheidet sich die kritische Dystopie Layh zufolge gegenüber der traditionellen Dystopie (und Utopie) durch eine „Fokusverschiebung von der historie zum discourse der Narration, also vom Was zum Wie des Erzählens“.
Susanna Layhs Untersuchung legt nachvollziehbar dar, wie die Utopie als kritische Dystopie wiedergeboren wurde. Dass die Autorin in einem Exkurs zudem nachzeichnet, wie sich die Utopie selbst schon im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts „durch den ‚Eintritt der Frauen in die Literaturhistorie‘“ wandelte, und dabei an so vergessene Utopien wie Mary E. Bradley Lanes Roman „Mizora. A Prophecy“ (1880/81) erinnert, macht ihr Buch umso lesenswerter.
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