Zu den Wurzeln des eigenen Bewusstseins

Mit dem „Bericht aus dem Inneren“ setzt Paul Auster seine autobiografische Erkundungsreise weiter fort – schonungslos ehrlich.

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Paul Auster nicht nur ein großer Romancier ist, sondern auch über sich selber sehr gut zu erzählen weiß, hat er mehrfach bewiesen. Das Schreiben über die eigene Person ist bei Auster, mittlerweile 67, seit dem Beginn seiner schriftstellerischen Karriere gleichsam Programm. Die erste im Grunde autobiografische Schrift „Die Erfindung der Einsamkeit“ („The Invention of Solitude“, 1982) datiert noch früher als die „New York Trilogie“, die ihn berühmt gemacht hat. Mit „Die Kunst des Hungers“ („The Art of Hunger“, 1982), „Das rote Notizbuch“ („The Red Notebook“, 1995) und „Von der Hand in den Mund“ („Hand to Mouth“, 1997) folgten in den Achtziger- und Neunzigerjahren gleich drei weitere autobiografische Texte, bevor 2012 das „Winterjournal“ („Winter Journal“, 2012) einen neuen Zyklus des autobiografischen Schreibens in Austers Werk einläutete. Auf das „Winterjournal“ und der Beschäftigung mit den körperlichen Lebenserfahrungen, mit Stürzen, Unfällen, Liebesbeziehungen, aber auch mit der legendären Beziehung zu Zigaretten, folgt nun bereits wiederum ein neues autobiografisches Werk: der „Bericht aus dem Inneren“ („Report from the Interior“, 2013).

Gemäß der klassischen Dichotomie von Körper und Geist geht es im „Bericht aus dem Inneren“, dem „Zwillingsbuch“ zum „Winterjournal“, nun um den Geist: um die Ausformung des eigenen Bewusstseins. Die eigene geistige Ich-Werdung nachzuzeichnen, ist kein leichtes Unterfangen. Sie läuft nicht wie ein linearer Prozess ab, sondern vollzieht sich schleichend, unmerklich. Der „Bericht aus dem Inneren“ versucht daher auch gar nicht, den Eindruck einer Geschlossenheit zu erwecken, sondern wirkt disparat, ohne dadurch aber auseinanderzufallen.

Grob gliedert sich das Buch in drei Teile, ergänzt durch einen Anhang mit zahlreichen Fotodokumenten, die allesamt nicht Paul Auster zeigen, sondern Hinweise auf jene Ereignisse und Personen geben, die Austers Bewusstsein, seine geistige Entwicklung, maßgeblich beeinflusst haben. Auster wählt als Erzählform das Du, ein selten gebrauchter Kunstgriff, der pathetisch wirken kann, wenn der Ton allzu hymnisch und überschwänglich gerät. Nachdem Auster aber sehr beiläufig und unangestrengt erzählt, erzeugt dieses Du im „Bericht“ aber einfach nur jene Intimität und Wärme, die man aus Briefen, jener Gattung, aus der die Du-Anrede entlehnt ist, kennt. Obwohl Autor und Hauptfigur also dieselbe Person sind, stehen so dennoch Autor und Leser auf einer Seite, sie werden zu Komplizen. Der Leser rückt dadurch näher zum Autor, der Autor kann die nötige Distanz aufbauen, um über dieses Du – sein jüngeres Ich –, vielleicht überhaupt erst schreiben zu können.

Insgesamt drei verschiedene Entwicklungsstufen des Ichs zeichnet Auster mit jeweils ganz unterschiedlichen Mitteln im „Bericht“ nach. Am Anfang stehen Episoden aus der frühen Kindheit, die Austers Bewusstsein als Junge geformt haben: etwa zu lernen, was es heißt, im New Jersey der Nachkriegszeit Jude zu sein, die Erkenntnis, nicht alle Bücher zu verstehen, obwohl man lesen kann, der erste Sieg gegen ältere Jungs im Ferienlager. Mit der Erinnerung an den Eintritt in die Junior High School mit zwölf bricht der Erinnerungsstrom ab.

Anstatt nun zu versuchen, die Verwirrungen eines jugendlichen Bewusstseins einzufangen, erzählt Auster im zweiten Teil lediglich zwei Kinofilme minutiös nach, die sich tief in sein Bewusstsein eingegraben haben. Das verlangt dem Leser zwar ein wenig Geduld ab, aber man macht auch diese Reise in die Filmwelt mit Auster mit, zeigt sie doch, von welch zentraler Bedeutung der Film für Auster immer schon war und welche Art von Helden bereits den jugendlichen Paul Auster faszinierten.

Im dritten Teil begegnet der Leser schließlich noch Auster als jungen Erwachsenen, dem Studenten, der fest entschlossen ist, Schriftsteller zu werden. Dieses Phase der Adoleszenz wird fast ausschließlich in Originaldokumenten beschrieben, in Briefen Austers an seine spätere erste Ehefrau Lydia Davis, selbst Schriftstellerin und Übersetzerin. Noch ist Auster in diesen Briefen nicht das, was er bald sein wird, noch dominieren Selbstzweifel und Zukunftsangst. Gleichzeitig ist in jeder Zeile eine unbändige Leidenschaft für das Lesen und Schreiben zu spüren, auch eine unglaubliche Intensität, die Austers späteren Weg vorwegnehmen.

Insgesamt ergibt das textliche Dreigestirn des „Berichts aus dem Inneren“ ein sehr intimes und berührendes Triptychon einer Reise zu den Wurzeln des eigenen Ich, die sich alles andere als narzisstisch liest, obwohl die Person Paul Auster Ausgangspunkt und Ziel des Textes ist. Das Movens für diesen Text war aber auch nicht das Gefühl, die eigene Geschichte möglichst präzise aufzeichnen zu wollen, weil sie eine so besondere war, sondern ein anderes: Nicht „weil du ein rares und außergewöhnliches Untersuchungsobjekt zu sein glaubst, sondern ganz im Gegenteil, weil du dich für alltäglich hältst, für einen Menschen wie alle anderen“ – deshalb schreibt Auster über Auster. Und das merkt man dem Text an, der immer wieder auch dieses schwierige Unterfangen, die eigene „Werdung“ schriftlich nachzuzeichnen, reflektiert, wodurch er auf ganz natürliche Weise eine zweite, allgemeinere Textebene aufmacht, die die autobiografische Enge sprengt.

Wie in seinen fiktionalen Erzählungen entpuppt sich Auster zudem auch hier als meisterhafter Erzähler, als kluger Text-Arrangeur, der Fragmente ganz natürlich zu einem Ganzen zusammenzusetzen vermag, das wie zufällig hingeworfen wirkt. Auster erzählt dabei schonungslos offen und völlig unprätentiös. Was den „Bericht aus dem Inneren“ daher am allermeisten auszeichnet, ihn so außergewöhnlich und so wertvoll macht, ist Austers Ehrlichkeit und Uneitelkeit. Das gibt es in autobiografischen Schriften in der Tat sehr selten. Austers Buch wirkt wie das Lehrstück einer gelungenen autobiografischen Auseinandersetzung eines Schriftstellers. Der „Bericht aus dem Inneren“ ist ein wahrer Glücksfall.

Titelbild

Paul Auster: Bericht aus dem Inneren.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014.
360 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498000899

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