Bindung und psychische Entwicklung

Das Lebenswerk des Forscher-Ehepaars Grossmann unterstreicht die psychologische Bedeutung des unsichtbaren, feinfühligen Bandes zwischen Eltern und Kind

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bindungstheorie (theory of attachment) geht zurück auf die Arbeiten der Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth und des Kinderpsychiaters John Bowlby. Sie verbindet Ansätze der Entwicklungspsychologie, der klinischen Psychoanalyse und der Evolutionsbiologie und ist für pädagogisch-psychologische Kontexte der Gegenwart hochaktuell und einflussreich. Wenn es um die frühe Mutter-Kind- oder Eltern-Kind-Beziehung geht, um die Frage etwa von Krippenbetreuung, Erzieherausbildung oder um die Ätiologie von Entwicklungsstörungen sind die Erkenntnisse der Bindungstheorie unverzichtbar. Und man müsste wohl einen Komparativ für unverzichtbar erfinden, um der Bedeutung des monumentalen Werks „Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit“ (5. vollständig neu bearbeitete Auflage, 2012, sechste Auflage, 2014) von Karin und Klaus Grossmann für die Bindungstheorie nahezukommen. Denn als führende Bindungsforscher legen die beiden darin ein umfassendes Resümee ihrer dreißigjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit vor, ein „Lebenswerk“, wie die beiden selbst schreiben.

Etliche Positionen der Bindungstheorie erscheinen dem heutigen Leser geläufig. Doch die Tage, in denen Abhärtung als probates Erziehungsmittel galt, Strenge als Auszeichnung des Erziehers, und kleine Kinder in Kliniken über lange Zeiträume hinweg von elterlicher Zuwendung isoliert wurden, sind noch nicht allzu lange gezählt.

John Bowlby (1907-1990), Arzt und Psychoanalytiker, während des Zweiten Weltkriegs Armeepsychiater, baute in den Nachkriegsjahren eine Abteilung für Kinderpsychiatrie in der renommierten Tavistock Clinic in London auf, der er im Weiteren als Direktor vorstand. Im Londoner Institut für Psychoanalyse stand er im engen Kontakt mit Melanie Klein (1882-1960), die als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert und als maßgebliche Theoretikerin der „Objektbeziehungen“ großen Einfluss auf ihn ausübte, von deren analytischen Positionen und Behandlungsansätzen er sich jedoch auch scharf abgrenzte.

Insbesondere widersprach er Klein darin, innere Konflikte zwischen aggressiven und libidinösen Trieben als Hauptursache pathologischer seelischer Entwicklungen bei Kindern anzunehmen. Bowlby war davon überzeugt, dass die realen äußeren Beziehungen eine wichtigere Rolle spielten. Bowlby wollte daher die Eltern der Kinder, die er behandelte interviewen, Klein untersagte es ihm. Der 25 Jahre jüngere Bowlby war an eine mächtige Gegenspielerin mit großer Anhängerschaft geraten. Er musste seine Waffen sorgsam wählen und entschied sich für die strengen Methoden der empirisch-statistischen Wissenschaft. „Freischwebende Nomenklatur und retrospektive Äußerungen von erwachsenen Patienten seien radikal durch prospektive Untersuchungen, also durch entwicklungspsychologisch orientierte Längsschnittforschung abzulösen“, so sein Credo. Das wurde von der orthodoxen Mehrheit des Instituts als Kampfansage verstanden. Noch 1988 notiert Bowlby in der Erinnerungen an seine ehemaligen analytischen Kollegen verdrießlich: „Die Beschäftigung mit realen Ereignissen war beinahe verpönt.“

Für seinen Forschungsweg spielte ihm das Schicksal an der Travistock Clinic eine kongeniale, in empirisch-methodischen Fragen höchst versierte Partnerin in Person von Mary Ainsworth (1913-1999) zu. Gemeinsam legten sie das Fundament für einen der bis heute einflussreichsten Forschungsansätze der Entwicklungspsychologie. Die von ihnen entwickelte Bindungstheorie stellt dar, wie der menschliche Säugling mit einem angeborenen Programm zur aktiven Interaktion und Kommunikation zur Welt kommt. Diese Interaktion ist auf Schutz gebende Nähe ausgerichtet und auf Responsivität angewiesen. Bei seinen Eltern findet der Säugling im Optimalfall den Rückhalt und die Sicherheit, die er zum Erkunden seiner Umwelt braucht. Durch ihre Reaktionen und das gemeinsame Handeln kann er die verschiedenen seelischen Ebenen (im Körperlichen verankerte Emotionen, bewusste Intentionen und symbolische Bedeutungen) als sein Selbst integrieren. Was nicht weniger heißt, als dass der Mensch erst aus dem sicheren seelischen Gebundensein heraus, das Kulturwesen werden kann, das er ist.

Die Bindungstheorie formuliert fünf zentrale Postulate:

1) Feinfühlige Fürsorge ist für das Kind und seine seelische Entwicklung unverzichtbar.

2) Das Kind braucht mindestens eine Sicherheit bietende erwachsene Bindungsperson.

3) Bei Angst wird die Nähe der Bindungsperson gesucht (was sie von anderen Beziehungspersonen unterscheidet), gleichzeitig wird Erkundungs- und Spielverhalten eingestellt.

4) Die Qualität der Bindung bemisst sich nach dem Gefühl psychischer Sicherheit, das sie vermittelt. (Liebe ist in diesem Sinne „die unangefochtene Beständigkeit einer Bindung“.)

5) Früh erlebte Bindungserfahrungen werden verinnerlicht und prägen die Vorstellungen des Kindes von sich selbst und von anderen. 

Der herausragende Beitrag von Mary Ainsworth bestand zunächst in ihrer empirischen Arbeit im Feld. Nachdem sie bereits reichhaltige Daten zur Mutter-Säuglings-Interaktion von ihrem Forschungsaufenthalt in Uganda mitgebracht hatte, startete sie 1963 mit einer bis dahin beispiellosen methodischen Präzision und Systematik die Untersuchung von 26 Familien in Baltimore. Minutiös und mit dem Fokus auf bedeutsame Verhaltensmuster beobachtete sie Mutter und Kind von dessen Geburt an bis zum vollendeten ersten Lebensjahr. Aus diesen Beobachtungen resultierte das Konzept der Feinfühligkeit (sensitivity), welches die Aufmerksamkeit für den Säugling und die unverzerrte Interpretation dessen Verhalten bezeichnet sowie die prompte und angemessene Reaktion darauf. Elterliche Feinfühligkeit gilt seit Ainsworth als die wichtigste Voraussetzung für eine sichere Bindung des Kindes.

Sie entwickelte nicht nur die Erhebungsmethodik für elterliche Feinfühligkeit, sondern darüber hinaus auch eine Laboruntersuchung für die Qualität der Bindung des Kindes an seine Mutter, die unter dem Namen „Fremde Situation“ (strange situation) bekannt geworden ist: Die Mutter spielt mit ihrem Kind (12-18 Monate alt) in einem Zimmer, eine fremde Person setzt sich dazu, die Mutter verlässt den Raum, kommt nach kurzer Zeit wieder. Anhand des kindlichen Verhaltens in den Momenten der Trennung, vor allem aber des Wiedersehens können vier verschiedene Bindungsmuster unterschieden werden: sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und desorganisiert beziehungsweise desorientiert. Diese Muster sind in der Zeit der Kindheit recht stabil und korrelieren statistisch mit einer Reihe bedeutsamer Faktoren des affektiven und sozialen Lebens der Kinder.

Sicher gebundene Kinder explorieren sorglos, finden Trost und Beruhigung bei der Bindungsperson, spielen selbständig und interessiert, äußern offen Unmut, Angst und Freude. Unsicher gebundene Kinder werden von ihren Müttern häufiger als schüchtern oder gehemmt beschrieben, besitzen eine eingeschränkte Aufmerksamkeitsstruktur und reagieren auf Trennung mit erhöhter Kortisolausschüttung. Während ambivalent gebundene Kinder sich nach Trennung schwer beruhigen lassen und zu Verzweiflung neigen, verbergen Kinder mit vermeidender Bindungsqualität ihr Leid umso mehr, je belastender die Situation für sie ist. Desorganisierte Bindung wiederum steht in einem deutlichen Zusammenhang mit pathologischen Entwicklungsverläufen, geprägt etwa von Aggressivität, Enthemmung oder Hyperaktivität. Mit sicherer Bindung gehen Selbstwertgefühl, ein realistisches Selbstkonzept sowie der Aufbau und die Qualität sozialer, vor allem auch enger und intimer Beziehungen einher. Dies sind klassische Schutzfaktoren der seelischen Gesundheit.

Die Bindungsmuster sollten als Kennzeichen der Beziehung, nicht als Eigenschaft des Kindes verstanden werden.  Gleichwohl findet eine Verinnerlichung statt: Ungefähr ab dem Vorschulalter werden aus Eigenschaften der Beziehung nach und nach auch Eigenschaften der Person. Die Bindungsqualität beeinflusst auf diese Weise das spätere, auch erwachsene Leben, nicht zuletzt das Erleben und Verhalten in Liebespartnerschaften.

Karin und Klaus Grossmann, die Ainsworth „mit ihrer äußerst detaillierten, sorgfältig beobachtenden Forschung“ als ihr „Vor- und Leitbild“ bezeichnen und auch mit Ainsworth’ Schülerinnen Mary Main und Inge Bretherton, beide ebenfalls renommierte Entwicklungspsychologinnen, in fachlichem Austausch standen, knüpften bereits in den 60er-Jahren an die Bindungsforschung an. 1976 begannen sie eine große Langzeitstudie, die das ehrgeizige Ziel in die Tat umsetzte, 51 Babys vom Moment ihrer Geburt an zu begleiten. Ihnen gelang das Kunststück, 44 von ihnen 22 Jahre lang für ihre Studie als „Untersuchungsobjekte“ zu erhalten, in Dimensionen der Wissenschaftspraxis ist dies nahezu ein Fabelrekord. Sie brachten Langzeitstudien mit weiteren Kohorten auf den Weg und konnten so Daten durch alle Stadien der Kindheit und Jugend hindurch erheben. Dazu kamen eine Vielzahl weiterer Studien sowie betreuter Diplomarbeiten und Dissertationen, die der Grossmann’schen Forschungsabteilung zuarbeiteten.

Der so entstandene psychologische Materialreichtum ist in „Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit“ in eine klare Ordnung gebracht, theoretisch gerahmt und um grundsätzliche Überlegungen ergänzt. Unnötig zu erwähnen, dass rund 750 Seiten in diesem Fall eine bemerkenswerte Verdichtungsleistung darstellen.

Obwohl ihre Namen außerhalb von psychologischen, pädagogischen und verwandten akademischen Bereichen wenig bekannt sind, hat ihre Forschung gesamtgesellschaftlich zu einer grundlegenden Veränderung in der Sicht auf und im Umgang mit Kindern beigetragen. Aufgrund ihrer Daten kann heute als gesichert gelten, dass Feinfühligkeit und das Zulassen von Nähe, und nicht etwa preußische Härte, aus einem Kind eine starke, autonome Persönlichkeit formen. Oder, um es in respektvoller Verneigung noch einmal mit den Worten der Wissenschaftler zu sagen: „Ein Kleinkind, das zuverlässige, liebevolle und feinfühlige Fürsorge erhalten hat und das sich in seiner Bindung sicher fühlt, kann eine Vorstellung (ein mehr oder weniger unbewusstes gedankliches Modell) von seiner Bindungsperson, wonach diese zugänglich, vertrauenswürdig und hilfsbereit ist, entwickeln und parallel dazu ein Modell von sich selbst als tüchtig und liebenswert […]. Nach Bowlby regeln solche verinnerlichten Modelle die Gefühle, die Wahrnehmung und Interpretation dessen, was das Kind erlebt“.

Titelbild

Karin Grossmann / Klaus E. Grossmann: Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012.
757 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783608947205

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