Abstrakte Zeitgeschichte
Paul Celans „Todesfuge“
Von Ruth Klüger
Mit diesem berühmtesten aller deutschen Nachkriegsgedichte steht es ein wenig wie mit Picassos großem Gemälde „Guernica“. Das Gemälde stellt einen der ersten Luftangriffe dar, von Naziflugzeugen ausgeführt, bei denen Zivilisten ums Leben kamen. Aber es ist kein realistisches Bild, sondern der Maler verwendet, was er an avantgardistischen Methoden gelernt und geübt hat. Mit abstrakten oder surrealen Mitteln bezieht sich das Bild auf ein aktuelles Geschehen, verortet in dem lakonischen Stadtnamen des Titels. Die Gestalten sind erkennbar, aber sie sind verzerrt im Terror und der Zerstörung, Unheil an Menschen, von Menschen verübt. Meistens ist es ja so, daß sich sowohl die abstrakte Malerei wie die abstrakte Lyrik von der Realität entfernt und das Publikum, sofern es nach einer Deutung und Darstellung der Realität verlangt, im Stich läßt. Andererseits sind rein realitätsbezogene Gedichte und Bilder einem modernen Geschmack oft zu bieder und einfallslos. In „Guernica“ und in der „Todesfuge“ schließt sich ein Kreis, das Wort und der Pinsel finden zu ihren Anfängen, zum Erlebnis, zurück, aus dem dann die Kunst dieses Erlebte nicht in seiner Ganzheit, sondern im Gegenteil, in seiner Brüchigkeit wiederauferstehen läßt. Der Dichter nimmt Wortgefüge, wandelt sie ab, verwebt sie miteinander, setzt sie immer neu zusammen, jedesmal mit einer kleinen Änderung. Diese neuen Gebilde sagen nichts Neues aus, das Gedicht „informiert“ nicht, im Gegenteil, es setzt voraus, daß der Leser oder der Hörer mit der jüngsten deutschen Geschichte vertraut ist. Das Gedicht klagt und führt die Klage von einer Stufe zur nächsten.
Fragmentartig tauchen die Teile, die Hinweise auf die Vernichtungslager auf, entziehen sich der Logik, aber nicht der Trauer, die sie auslösen. Als Hörer und Leser sind wir hin- und hergerissen zwischen einer aus den Fugen geratenen Welt und einer, die sich wie eine Fuge zusammenfügt und musikalischen Trost gewährt. Die Bildsprache ist unheimlich, nicht eigentlich entsetzlich, doch die Worte, die Metaphern und Bilder sind zutiefst beunruhigend und können Entsetzen auslösen, während im Kontrast dazu im hochmusikalischen Zauber der Form ein gewisser Trost liegt.
Warum „Fuge“? Die Fuge gilt als die mathematischste aller musikalischen Kompositionstechniken und besteht aus mehreren Stimmen, die wechselseitig aufeinander folgen und sich überschneiden. Ein Thema (Subjekt) erklingt allein, in seiner Grundgestalt, wird beantwortet, und eine oder mehrere neue Stimmen spielen mit Abweichungen das Thema in Variationen durch. Die Fuge arbeitet mit einem Übereinander von Akkorden, die ein Gedicht natürlich nicht nachahmen kann, denn das Gedicht muß zwangsläufig linear verfahren, das heißt es muß die Wörter immer noch aneinander reihen, nicht sie gleichzeitig einsetzen, wie die Fuge es mit ihren Akkorden tut. Auch von dem Wechselgesang der Fuge kann nicht die Rede sein, denn es gibt nur eine Stimme, das „Wir“. Aber die „Todesfuge“ setzt Worte, die ein mörderisches Geschehen bezeichnen, mit Variationen an verschiedenen Stellen des Gedichts ein und wirkt daher mit einer musikalischen Regelmäßigkeit, wie ich sie von keinem anderen Gedicht kenne, die sich übrigens auch gut in andere Sprachen übersetzen läßt, weil sie nicht nur an den Klang der einzelnen Worte gebunden ist. Ein Beispiel sind die verschiedenen Tageszeiten, die auf „schwarze Milch der Frühe“ folgen; „wir trinken sie mittags“ und „morgens“ oder „nachts“; ein anderes Beispiel sind die Haare der beiden Frauen, die in den verschiedenen Kontexten einzeln auftauchen und zusammenfinden.
Einige der Bestandteile des Gedichts sind Kontrastpaare: „schwarze Milch“ zum Beispiel. Milch ist Inbegriff der lebensspendenden Flüssigkeit, hier verkehrt in den Todestrank. Oder die beiden Frauennamen: Margarete steht im Kontrast zu Sulamith aus dem Hohelied, die Geliebte des mythischen Deutschen Faust zur Geliebten Salomons, des weisesten Königs der Juden, beide entlehnt aus großen literarischen Werken, die für die jeweilige Kultur zentral sind. Der Kontrast ist nicht zwischen blond und brünett – das wäre banal –, sondern das strahlende und lebendige Gold der Gretchenhaare hat das aschene Haar der biblischen Frau zum Gegensatz, das heißt Verbranntes, ein verhaltener Hinweis auf die Krematorien, die etwa in den Gedichten von Nelly Sachs, einer Freundin Paul Celans, viel konkreter als die „Schornsteine“ aufgerufen werden.
In dem Vers „er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz“ kommt ein vertrautes Motiv aus der spätmittelalterlichen Malerei zur Geltung, nämlich der Totentanz. Eine frühe Version, sowie auch eine rumänische Übersetzung, hat den Titel „Todestango“, betont also interessanterweise das Tanzmotiv, und nicht die Form des Gedichts, wie es der spätere Titel tut. In der Malerei ist es der Tod selbst, der „aufspielt“, bei Celan ist er „der Mann“, der im Haus wohnt, der aber wohl identisch ist mit dem „Meister aus Deutschland“. Meister, das ist ein Maestro, der die Musik dirigiert oder ein Maler – ein Meister des Totentanzes –, oder einfach ein Herr im Sinne von Herrenmensch, also einer, der Macht hat über die Untermenschen. Ein schillerndes Wort, dieses „Meister“. Auch Musik und Tanz sind eingesetzt in diesem Szenarium einer furchtbar verkehrten Welt, wo aus Milch die Todesflüssigkeit wird und das Grab in der Erde („stecht tiefer ins Erdreich“) zum Grab in der Luft („da liegt man nicht eng“). So werden aus Musik und Tanz Todeszeichen, ganz abgesehen davon, daß es, wie wir wissen, tatsächlich erzwungene Orchestermusik in den Lagern gegeben hat. Hunde und Schlangen tauchen auf als drohende Tiersymbole. Die Hunde entsprechen der Wirklichkeit, die Schlangen dem Mythos.
Gedichte sind gebundene und von altersher meist auch gereimte Sprache. Moderne Dichter haben den Reim weitgehend, aber keineswegs durchgehend aufgegeben. Tatsächlich ist es der Reim, der uns in der Kindheit als das Eigentliche am Gedicht vorkommt, das, was im Gedächtnis hängenbleibt, sozusagen eines der Lebenselemente des Gedichts als Gattung. Celan hat selbst in seinen frühen Gedichten drauflosgereimt, wie er es bei Rilke gelernt hatte, und er konnte es auch fast zu gut. Zweifel an der Aussagefähigkeit dieses Mittels dürften ihm schon gekommen sein, als er ein frühes Klagelied auf die ermordete Mutter mit den Versen beendete: „Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim, / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?“
Hier stellt er Reim gereimt in Frage. In der „Todesfuge“ wird das Reimen sozusagen hingerichtet, denn da gibt es nur einen einzigen, und der ist im wahrsten Sinne des Wortes tödlich: „der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau“. Die Milch ist schwarz, das Haar ist aschen, der Reim mordet. Verkehrte Welt.
Unser Gedicht ist nun auch schon über fünfzig Jahre alt, und es hat seine Geschichte. Der Autor, Paul Antschel, der sich in Verkehrung der beiden Silben seines Nachnames später Paul Celan nannte, 1920 in Czernowitz geboren, war in gewissem Sinne ein österreichischer Jude wie Theodor Herzl, nämlich aus dem größeren Umkreis des alten Reichs geistig an einem Wien ausgerichtet, das ihn auch nach dem Krieg enttäuschte. Er war selbst ein Gefangener und Zwangsarbeiter in der Nazizeit und verlor beide Eltern im Holocaust. Er mußte Straßenarbeiten mit Spaten und Schaufel verrichten. Wenn man ihn nach seiner Arbeit fragte, so antwortete er mit einem Wort: „Schaufeln.“ Schaufeln war ihm so Inbegriff sinnloser Arbeit, im Gedicht gesteigert zu tödlicher Arbeit.
Das Gedicht entstand wahrscheinlich 1945, vielleicht schon 1944. Das Entstehungsdatum ist deshalb von Bedeutung, weil die „Todesfuge“ später verschiedenen Plagiatsvorwürfen ausgesetzt war. Die „Todesfuge“ steht dann im ersten von Celans Gedichtbänden, dem in Wien 1948 erschienenen „Der Sand in den Urnen“, gedruckt in nur fünfhundert Exemplaren, ein Buch, das wegen der zahlreichen Druckfehler auf Drängen des Autors rasch wieder eingezogen wurde. Einer größeren Öffentlichkeit wird die „Todesfuge“ erst in dem aufsehenerregenden Band „Mohn und Gedächtnis“ von 1952 zugänglich. Von da an war Celan ein gefeierter, aber auch ein umstrittener Dichter.
Auf zweierlei Weise ist die „Todesfuge“ in den öffentlichen Diskurs geraten. Einerseits ist es zu einem quasi sakralen Gedicht hochstilisiert worden, das bei öffentlichen Anlässen gerne zitiert und aufgesagt wird. Ein Gedicht kann und soll aber niemals ein Ersatz für eine heilige Schrift sein. Wir sollten uns davor hüten, einen literarischen Text mit pseudo-religiöser Ergriffenheit zu rezipieren. Ein Gedicht ist ein ästhetischer und ein profaner Text, profan im Sinne von säkular, und sollte nicht kniefällig hingenommen werden. Unser Empfinden mag noch so emotional auf das Gedicht reagieren, immer noch muß es dem Verstand und dem kritischen Denken offen bleiben. Damit kommen wir aber zum zweiten Stellenwert der „Todesfuge“, der dem ersten widerspricht. Die „Todesfuge“ wurde nämlich zum Brennpunkt für Theodor Adornos berühmtes Wort, das Schreiben von Gedichten nach Auschwitz sei barbarisch. Dieser Satz ist nicht so autoritär, wie er zuerst klingen mag. Er steht in einem Kontext, wo über das dialektische Verhältnis von Kultur und Barbarei gehandelt wird und wie das eine paradoxerweise zum anderen werden kann. Doch der Grund, warum dieser Satz so viel diskutiert wurde, ist, daß er eine heikle Frage aufwirft, die uns immer noch angeht. Die Frage nämlich, ob man Spaß haben darf am Massenmord.
Das habe ich natürlich jetzt so aufreizend wie möglich formuliert. Doch mit Absicht, um die Sache auf den Punkt zu bringen. Adorno war nicht der einzige, der sich nicht wohl fühlte bei der Aussicht, daß die Kunst den Hinterbliebenen Vergnügen und Unterhaltung auf Kosten der Ermordeten verschaffen würde. Die Frage ist, ob es unmoralisch sei, die jüdische Katastrophe auf diese Weise zu instrumentalisieren. Und noch jetzt häufen sich die Beispiele, daß wir ein moralisches Urteil auf Werke anwenden, die wir ganz bestimmt unter einem anderen Blickwinkel in Augenschein nehmen würden, wenn sie einen anderen Inhalt hätten. Es gab zum Beispiel eine Ausstellung im Jüdischen Museum in New York, wo Konzentrationslager mit Legoblöcken nachgebaut sind, was vielen Beobachtern als unerlaubt verspielt vorkam. Ich stehe diesen Problemen auch nicht neutral gegenüber, aber gleichzeitig scheint mir ein Tabu des Holocaust für künstlerische Behandlung so etwas wie eine weitere Ghettoisierung zu sein. Der Holocaust wird sozusagen zum Baum der Erkenntnis, als ob wir sagen wollten: Aus allen anderen Geschichten dürft ihr Kunst und Literatur machen, nur aus diesem nicht. Das ist erstens undurchführbar, zweitens ist es auch nicht gerechtfertigt. Man muß bei der künstlerischen Verarbeitung wie immer zwischen Kunst und Kitsch unterscheiden und womöglich die Entrüstung ganz beiseite lassen. Die „Todesfuge“ hat sich bewährt. Nach Aristoteles’ Definition bewirkt tragische Kunst Läuterung durch Furcht und Mitleid, besser übersetzt als Jammer und Schrecken, und macht die Vergangenheit, die wir mit uns tragen müssen, ein wenig erträglicher.
Anm. der Red.: Der Beitrag erschien bereits in dem Band Ruth Klüger: Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik (© Wallstein Verlag, Göttingen 2007. S. 141–147). Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. In Klügers Buch ist Pauls Celans „Todesfuge“ der Interpretation vorangestellt. Wir dokumentieren das Gedicht in dieser Rubrik unserer Ausgabe an separater Stelle.