Matthias Claudius – nicht nur der Dichter des Mondaufgangs

Zu seinem 200. Todestag

Von Reinhard GörischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Görisch

Wer den Namen Matthias Claudius hört oder liest, denkt womöglich gleich an sein „Abendlied“: „Der Mond ist aufgegangen“. Freilich ist dieses bis heute überaus populäre, 1778 in einem Musenalmanach zuerst publizierte Gedicht in der Vertonung von Johann Abraham Peter Schulz von 1790 Vielen bekannt, ohne dass sie den Verfasser kennen; das kennzeichnet Volkslieder.

Aber ist Claudiusʼ „Abendlied“ wirklich bekannt? In einer Repräsentativumfrage in den 1970er Jahren zu den Singgewohnheiten der Deutschen wurde dieses Lied anhand einer Liste von knapp 200 Liedanfängen am häufigsten genannt: 91 Prozent der Befragten gaben an, es zu kennen, und 67 Prozent, es zu singen. Bei der Gegenprobe, der Frage nach bekannten Liedern aus freier Erinnerung, war das Lied hingegen nicht einmal unter den ersten zwanzig. Es ist vielfach bezeugt, dass Eltern ihren Kindern vor dem Einschlafen immer noch dieses „Abendlied“ vorsingen, aber mit wie vielen Strophen und welchen, wird nicht überliefert. Liederbücher verkürzen in der Regel das Lied auf drei bis vier Strophen: auf die ersten beiden („Der Mond ist aufgegangen“, „Wie ist die Welt so stille“) und die letzte („So legt euch denn, ihr Brüder“), zuweilen wird noch die dritte einbezogen („Seht ihr den Mond dort stehen“). Damit wird das Lied nahezu auf eine besinnliche Naturbetrachtung reduziert. Es umfasst aber sieben Strophen und stellt aufs Ganze gesehen eine in lyrische Form gekleidete häusliche Abendandacht dar: Der Hausvater (das ‚lyrische Ich‘, das in dem Gedicht spricht) lenkt die gemeinsamen Gedanken zunächst auf die sichtbare Erscheinung der abendlichen Natur, dann zur Fehlbarkeit menschlichen Erkennens und Wünschens hin, schließt ein Gebet um das irdische und ewige Heil des Menschen an und bittet zuletzt für sich und die Seinen (und für den „kranken Nachbar“) um einen unbedrohten, ruhigen Schlaf, bevor alle zu Bett gehen. Claudiusʼ „Abendlied“ ist also ein eminent geistliches Gedicht und insoweit durchaus nicht populär. Aber es beinhaltet die für den Dichter typische Verbindung von Profanem und Geistlichem und Themen, die sein Werk durchziehen.

So berühmt dieses „Abendlied“ seinen Dichter Matthias Claudius gemacht hat, so sehr steht es der Aufmerksamkeit auf dessen Gesamtwerk im Weg. Von dem wird noch die Rede sein. Zunächst ist Claudiusʼ Biographie zu skizzieren, denn der Anlass vielfachen Gedenkens in diesem Jahr ist schließlich ein biographisches Datum: sein 200. Todestag am 21. Januar, ergänzt von seinem 275. Geburtstag sechs Monate später.

Matthias Claudius wird am 15. August 1740 in Reinfeld/Holstein geboren. Sein Vater und seine unmittelbaren Vorfahren waren Pastoren, drei seiner Söhne setzen diese Tradition fort. Claudius besucht ab 1755 die Lateinschule in Plön, studiert ab 1759 in Jena zunächst ebenfalls Theologie, sattelt dann jedoch aus unklaren Gründen auf Jura und Kameralistik um. Er wird Mitglied der Jenaer „Teutschen Gesellschaft“ und kommt damit in Kontakt mit einem Literatenkreis. In dieser Zeit stirbt sein Bruder und Mitstudent Josias an den Blattern, Matthias hält eine steife akademische (auch gedruckte) Trauerrede, deren Förmlichkeit seine Erschütterung nur zwischen den Zeilen erkennen lässt. 1763 publiziert er sein erstes, noch epigonal anakreontisches Büchlein „Tändeleyen und Erzählungen“, geht für ein Jahr als Sekretär eines Grafen nach Kopenhagen und verweilt dann jahrelang ohne Berufstätigkeit im Elternhaus, wo er indessen zu sich selbst findet. Von Klopstock empfohlen, bekommt Claudius 1768 eine Anstellung als Journalist bei den „Hamburgischen Addreß-Comtoir-Nachrichten“, wird aber nach zwei Jahren wegen Unstimmigkeiten mit dem Verleger entlassen. Ab 1771 redigiert er in Wandsbe(c)k (alte/neue Schreibweise), einem unter dänischer Herrschaft stehenden Ort vor den Toren Hamburgs, die Zeitung „Der Wandsbecker Bothe“ mit vier Ausgaben pro Woche. Wegen ihres originellen Feuilletonteils mit Beiträgen von Claudius und anderen, teils namhaften Autoren ist sie in ganz Deutschland berühmt, bleibt aber für den Verleger J. J. Bode unrentabel und wird 1775, kurz nach Claudiusʼ Entlassung, beendet. Nach einer von J. G. Herder vermittelten kurzen, enttäuschenden Anstellung 1776/77 als Regierungsbeamter in Darmstadt und erster Redakteur der „Hessen-Darmstädtischen privilegirten Land-Zeitung“ lebt Claudius auf Dauer wieder in Wandsbek und hält sich mit dem bescheidenen Ertrag seiner Werke, mit Privatschülern (unter ihnen zwei Söhne F. H. Jacobis) und mit Zuwendungen von Gönnern über Wasser. Erst ein vom dänischen Kronprinzen ab 1788 gewährter Posten als Revisor einer Bank in Altona gibt ihm Freiraum und seiner Familie materielle Sicherheit. Seit 1772 war Matthias Claudius mit der Wandsbeker Zimmermanns- und Gastwirtstochter Rebecca Behn (1754-1832) überaus glücklich verheiratet; zwölf Kinder gehen aus ihrer Ehe hervor, von denen drei vorzeitig sterben, u.a. auch 20jährig die Tochter Christiane, der Claudius zwei ergreifende Gedichte widmet. Das Anrücken französischer Truppen in Hamburg und Wandsbek zwingt Claudius 1813/14 zu monatelanger Flucht quer durch Holstein. Kaum zurückgekehrt, stirbt Claudius am 21. Januar 1815 in Hamburg im Haus seiner Tochter Caroline und seines Schwiegersohns, des Verlegers Ch. F. Perthes, vier Tage später wird er in Wandsbek beigesetzt. Claudius’ Grab und das seiner Frau sind bis heute auf dem Historischen Friedhof neben der Christuskirche in Hamburg-Wandsbek zu finden.

Freundschaften verbinden Claudius mit Literaten und Philosophen wie F. G. Klopstock und Mitgliedern des Göttinger Hains, insbesondere J. H. Voß, ferner J. G. Herder (beiden freilich in späteren Jahren wegen zu unterschiedlicher Positionen entfremdet), G. E. Lessing, J. G. Hamann, F. H. Jacobi und mit den Grafenfamilien Stolberg und Reventlow in Holstein sowie der katholischen Fürstin Gallitzin in Münster. Einige Freunde und Gönner verdankt Claudius auch dem Umstand, dass er, wie viele Intellektuelle damals, in den 1770er und 1780er Jahren den Freimaurern angehört, von denen er sich dann jedoch zurückzieht, womöglich weil sein christlicher Realismus mit ihren Ritualen und Symbolhandlungen nichts mehr anfangen konnte.

Goethe ist anfangs Claudius wohlgesonnen und stellt einige kleine Gedichte für den „Wandsbecker Bothen“ zur Verfügung. Claudiusʼ Rezension des „Werther“-Romans (1774), den er bei allem launigen Stil grundsätzlich kritisch beurteilt, ist wohl der Grundstein für Goethes spätere abfällige Meinung über ihn: Er sei „ein Narr, der voller Einfaltsprätensionen steckt“, und jemand, der „aus einem Fußboten ein Evangelist werden möchte“, schreibt Goethe 1787 von Italien aus an Herder. 1784 waren sie einander in Weimar begegnet und hatten sich nichts zu sagen. Noch schärfer erscheint Wilhelm von Humboldts oft zitiertes Diktum, er äußert es 1796, nach einer Begegnung mit Claudius in Wandsbek, gegenüber Schiller, der es offenbar genüsslich sogleich Goethe in einem Brief mitteilt: „von Claudius wisse er [Humboldt] durchaus nichts zu sagen, er sei eine völlige Null“. Das wirkt ein bisschen wie Klatsch zwischen Klassikern unter sich mit einer unverkennbaren Spur von Häme und Verachtung. (In seinem Tagebuch von 1796 zeichnet Humboldt hingegen ein wesentlich differenzierteres Bild von Claudius!)

Für Claudius wiederum ist Weimar eine Welt, vor allem eine Gedankenwelt, an der er von seinem ganzen eigenen geistigen Habitus her weder teilhaben kann noch teilhaben will. Die Leitideen der Klassik – ein ästhetizistisches Bildungsideal und ein von Harmonie und Humanität bestimmtes Menschenbild – bleiben ihm unverständlich. Vielleicht bezieht er deshalb ihr gegenüber nicht ausdrücklich artikuliert Stellung. Indessen gibt Gerhard Kaiser („Geschichte der deutschen Literatur“, Band 3, 1976) zu bedenken, das „Leitbild des Pilgers omnia sua secum portans, in christlichem Vertrauen dem Augenblick und seiner Forderung hingegeben, zeig(e), daß die kleine Welt von Claudius Lebensdichte besitzt und einer unendlichen Weite geöffnet ist. Bei allem Unterschied des Formats ist hier eine wirkliche Gegenposition zur Klassik mit ihrem weltbürgerlichen Ideal der Autonomie und Humanität aufgebaut, aus christlichem Ursprung“.

Dezidierter als das zur Klassik bestimmt Claudius sein Verhältnis zum Rationalismus. Ein genereller Aufklärungsgegner, wie immer wieder behauptet, ist er keineswegs, vielmehr macht er sich vielfältig und auch noch in späteren Jahren Elemente der Neologie und der Empfindsamkeit, also der mittleren, gemäßigten theologischen bzw. literarischen Aufklärungsperiode zu eigen. Claudius opponiert im wesentlichen und seit etwa 1790 zunehmend streitbar speziell gegen den Rationalismus der Spätaufklärung, der den Menschen und die Religion mittels der autonomen Vernunft zu begreifen sucht; besonders seine Freundschaft mit Voß leidet darunter. „Wenn das Christentum weiter nichts wäre, als ein klares allen einleuchtendes Gemächte der Vernunft; so wäre es ja keine Religion und kein Glaube“, erklärt Claudius einmal bezeichnenderweise. Unter diesen Umständen ist es Claudius auch unmöglich, sich in die Philosophie Immanuel Kants hineinzudenken. Zwar bittet er F. H. Jacobi um Nachhilfe und versucht gelegentlich Begriffe der kantischen Philosophie aufzunehmen, aber er versteht sie nicht wirklich und kann sie von seinem Gedanken- und Erfahrungshorizont her auch nicht verstehen. Womit Kant sich beschäftigt – das Ding an sich, die reine Vernunft, die Herleitung der Existenz von Religion aus der Moral etc. – das ist ihm viel zu abstrakt und lebensfern.

Zwischen 1775 und 1812 veröffentlicht Claudius – neben diversen Übersetzungen, darunter Schriften der französischen Mystiker Saint Martin und Fénelon – seine Gedichte, Erzählungen, Betrachtungen und Aufsätze als „Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen“ in acht Teilen. Große literarische Formen wie Roman und Drama fehlen, vielleicht weil Claudius vom Journalismus herkommt. Den Titel seiner Zeitung überträgt er auf sich selbst, da er sich zunehmend als Bote des Christenglaubens versteht, den er als überlieferte Lehre und tagtägliche Praxis verbreiten will, nicht von einer Kanzel aus, sondern in poetischer, erzählender und essayistischer Gestaltung. „Einfassung und Spielewerk“ wird er es nennen. Sein Selbstverständnis formuliert er 1802/03 in dem „Valet an meine Leser“ bescheiden, aber nur scheinbar anspruchslos, so: „Ich entschuldige mich über meine Werke bei Ihnen nicht. Ich bin kein Gelehrter und habe mich nie für etwas ausgegeben. Und ich habe, als einfältiger Bote, nichts Großes bringen wollen, sondern nur etwas Kleines, das den Gelehrten zu wenig und zu geringe ist. Das aber habe ich nach meinem besten Gewissen gebracht; und ich sage in allen Treuen, dass ich nichts Bessers bringen konnte. Das meiste ist Einfassung und Spielewerk, das als ein Blumenkranz um meinen ‚Becher kaltes Wassers‘ gewunden ist, dass er desto freundlicher ins Auge falle.“ Damit erklärt Claudius selbstbewusst, seinen Lesern das denkbar Beste gebracht zu haben, und beruft sich dafür sogar auf ein Aussendungswort Jesu (der „Becher kaltes Wassers“ spielt auf das Matthäus-Evangelium 10,42 an). Das gilt nicht nur für seine spätere Schaffenszeit, in der er seine Themen direkter präsentiert, sondern schon für die 1770er Jahre: Ein Wiegenlied, eine Buchbesprechung, ein Jauchzer über die ‚wunderschöne Lenzgestalt der Natur‘, ein satirisches Epigramm können für ihn früher ebenso Mitteilungsweisen seiner Botschaft sein wie später ein fromm-erbaulicher Traktat.

Ansatzweise schon in seiner Hamburger Redakteurstätigkeit, verstärkt im „Wandsbecker Bothen“ und in den „Sämtlichen Werken“ treibt Claudius ein Rollenspiel, an dem u.a. der alte treuherzige Schulfreund Andres, der gelehrte Herr Vetter und der gewitzte, nur scheinbar einfältige Bote Asmus beteiligt sind. Das ermöglicht ihm in einer Art sokratischer Methode, ein Thema aus verschiedenen Perspektiven zu erörtern und zugleich die Leser in einen Dialog hineinzuziehen, in dem sie sich selbst ihre Meinung bilden sollen, statt eine Meinung vorgesetzt zu bekommen. Sowohl vergnüglich als auch besinnlich oder ernst-eindringlich gestaltet Claudius in seinem Werk Themen aus Familie, Alltagsleben und Natur ebenso wie religiöse und zeitkritische Ansichten zum Verhältnis von Gott, Mensch und Welt sowie Todesgedenken. In alledem fügen sich ihm Lebensfreude, Wissen um die Vergänglichkeit alles Irdischen, Glaubensgefasstheit und Ewigkeitshoffnung zu einem Sinnganzen menschlicher Existenz zusammen. Rudolf Alexander Schröder hat ihn einmal einen „Christen der Bergpredigt“ genannt; was damit gemeint ist, kommt z.B. programmatisch in Claudiusʼ Gedicht „Täglich zu singen“ (1777) zum Ausdruck.

In seinem Verständnis des Christenglaubens wirkt Claudius ‚konservativ‘ insofern, als er sich weniger an (damals) aktuellen Theologien als vielmehr unmittelbar an der Bibel orientiert. Ein ‚Theologe‘ ist er nicht, dafür fehlt ihm eine zumindest ansatzweise systematisch konzipierte Position. Er wolle nach wie vor seine „ungeheuchelte und unbegrenzte Achtung für das alte apostolische Christentum bezeugen und an den Tag legen“, erklärt er in der Ankündigung des VII. Werke-Teils (1802). Das versteht der Lutheraner Claudius durchaus konfessionsübergreifend, wie seine engen Beziehungen zu den katholischen Kreisen um die Fürstin Gallitzin und den Theologen und nachmaligen Regensburger Bischof Johann Michael Sailer zeigen. Als sein Freund Friedrich Leopold zu Stolberg im Jahr 1800 zum Katholizismus übertritt, gehört Claudius zu den Wenigen, die ihm die Treue halten. Aber auch nichtchristlichen Religionen zollt er in seinem Werk große Achtung. Hier wie dort sucht er Gemeinsamkeiten, nicht Trennendes. Mehrfach in seinen „Sämtlichen Werken“ teilt er übersetzte Abschnitte aus indischen Religionslehren mit oder schildert die fremdartigen Religionsübungen japanischer Priester und Pilger als gottgefällig, „denn ist er nicht auch der Japaneser Gott? Freilich ist er auch der Japaneser Gott“. Als Muster eines ‚frommen Heiden‘, der eine Ahnung von der göttlichen Offenbarung habe, führt er wiederholt Sokrates an, dessen „Apologie“ er übersetzt und in den V. Werke-Teil aufnimmt.

Nur aus seinen religiösen Überzeugungen sind Claudiusʼ reaktionäre politische Auffassungen zu erklären. Als überzeugter Lutheraner und in paulinischer Tradition ist es ihm ein unumstößliches Gebot, der Obrigkeit unter allen Umständen untertan zu sein. Die Würde der Fürsten sieht er als von Gott verliehen an, deshalb können sie nicht abgesetzt werden. Wohl aber können und müssen sie in ihren Taten, sofern sie ihr Herrscheramt missbrauchen und nicht dem Wohl der Untertanen dienen, kritisiert und zur Besserung ermahnt werden. Dafür gibt es viele Belege in Claudiusʼ Werken, unter anderem sein „Kriegslied“ (1778). Von seiner Grundeinstellung her wird er zum militanten Verteidiger des „alten Systems“ und zum erbitterten Gegner der politischen Ideen der Französischen Revolution, weil sie seiner Meinung nach nicht dem wahren Heil des Menschen dienen. Offenbar aufgrund seiner religiösen Überzeugungen kann er die realen Machtstrukturen nicht als historisch gewachsen und veränderbar durchschauen.

Schon zu Claudius’ Lebzeiten haben sich – wirkungsgeschichtlich – zwei konkurrierende Claudius-Bilder formiert und im 19. und 20. Jahrhundert verfestigt: Das eine lässt bloß das Gemütvoll-Humoristische und Bodenständige in seinem Werk, das andere bloß den christlich-erbaulichen, zuweilen auch bekennerhaft-streitbaren Autor gelten. Dieser in populärliterarischen Darstellungen immer noch anzutreffenden, beiderseits fatal einäugigen Sichtweise versucht die seriöse, wissenschaftlich informierte Literatur zu Claudius seit den 1970er Jahren entgegenzuwirken: Gerade die Vielstimmigkeit in Claudiusʼ Werk macht seine spezifische schriftstellerische Persönlichkeit aus.

Kürzlich stellte ein Journalist die Frage, welche Impulse Leben und Werk von Matthias Claudius für die moderne Gesellschaft geben könnten. Ein Schriftsteller des 18. Jahrhunderts muss, nach mehr als 200 geschichtsvollen Jahren, nicht unbedingt solche Impulse geben, um noch lesenswert zu sein, zumal die ‚moderne Gesellschaft‘ ein disparates Phänomen darstellt. Die Frage kann aber lauten, ob Matthias Claudiusʼ Leben und Werk auch für die heutige Zeit noch Orientierungsmöglichkeiten bietet. Die könnten z.B. darin bestehen, dass er eine unangepasste, nur den eigenen Überzeugungen folgende und unprätentiöse Lebenshaltung verkörpert und dass in seinem Werk Themen begegnen, die bis heute oder heute wieder aktuell sind. So thematisiert er den Alltag in einer Weise, die auf Grundzüge des Menschlichen verweist: kommunikatives Zusammenleben in Familie und Gemeinwesen, Solidarität mit Benachteiligten, kritische Distanz zum Mainstream, Bewahrung der Natur. Ungeachtet seiner konservativen Grundhaltung fordert er von den politischen Machthabern, nur dem Wohl des Volkes zu dienen. Ohne Pazifist im engeren Sinn zu sein, lehnt er den Krieg als Mittel der Politik ab und propagiert friedliche Lösungen. Als überzeugter Christ, der die Bibel mehr schätzt als theologische Systeme, denkt er doch über Konfessionsgrenzen hinweg und votiert dafür, auch den nichtchristlichen Religionen Achtung zu erweisen. Neben solchen aktuellen Bezügen, die sich in Claudiusʼ Werk finden lassen, bleibt Claudius im Übrigen auch wegen seiner literarischen Gestaltungskunst in etlichen Gedichten und Prosastücken immer noch lesenswert.

Wer nun wissen will, in welchen Gedichten und Prosastücken man dergleichen denn konkret findet, der nehme Claudiusʼ Werke in die Hand und lese dort selbst nach und lerne ihn aus erster Hand kennen.

Dieser Beitrag greift mehrfach und gelegentlich wörtlich zurück auf Ausführungen des Verfassers in seiner Biographie „Matthias Claudius oder Leben als Hauptberuf“, 2., überarbeitete Auflage, Marburg 2014, sowie in seinem Artikel „Matthias Claudius – ein evangelischer Poet. Der Wandsbeker Bote und seine Botschaft“, in: Orte der Reformation, Magazin Nr. 8: Hamburg, Lübeck, Schleswig-Holstein. Leipzig 2013, S. 72-73.