Friedliche Koexistenz oder: We agree to disagree

Literaturkritik im Nachrichtenmagazin

Von Uwe WittstockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Wittstock

Die Sonntagsrede ist eine vertraute Übung. Das Sonntagsinterview ist eine neuere Erfindung des Branchenblatts „Buchmarkt“. Am 25. Januar wurde in dieser Rubrik der Chef des Verbrecher Verlags Jörg Sundermeier befragt und seine Antworten nahmen einen eher ruppigen Charakter an. Er beklagte, die Literaturkritik sei unintellektuell geworden; die Zahl der klassischen Literaturrezensionen ginge immer weiter zurück; mancher hochbezahlte Kritiker werde schon durch die Besprechung eines Romans von Murakami an die Grenze seines intellektuellen Vermögens gebracht, ja manche festangestellten Literaturkritiker könnten viel, viel mehr über edle Schuhe und gutes Essen sagen als über die Qualität literarischer Texte.

An sein Sonntagsinterview schloss sich eine forsche Internet-Diskussion über Facebook und Twitter an. Bitte gestatten Sie mir, dass ich, bevor ich das Thema „Literaturkritik im Nachrichtenmagazin“ angehe, kurz auf diese Diskussion eingehe. Denn Kritik an der Literaturkritik ist eine gute Sache und gehört zum Thema dieses Kolloquiums. 

Zunächst einmal: Ich bin Sundermeier mehrfach begegnet, er ist ein sympathischer, umtriebiger, anregender Mann. Aber von seiner Polemik in diesem Fall halte ich nicht viel. Vor allem fällt auf, dass Sundermeier in seinem Interview wenig Gedanken an die realen Entstehungsbedingungen der Literaturkritik verschwendet. Das ist schade und wurde im Rahmen der folgenden Diskussion von anderen nachgetragen. Literaturkritik gehört zu der wirtschaftlich unproduktivsten Form des journalistischen Broterwerbs überhaupt. Die Zeit, die ein Kritiker bei der Lektüre verbringt, ist lang, der Platz, der ihm für sein Artikel zur Verfügung steht, ist klein, das Honorar gering. Und Ruhm erntet man ebenfalls nicht.

Vor gut zwei Jahren leitete ich wieder einmal ein Seminar zur Literaturkritik, diesmal an der Universität Jena. Um die Studenten zum Reden zu bringen – die dieses Seminar freiwillig besuchten und sich vermutlich also für Literaturkritik interessierten –, bat ich sie, sie sollten mir einige Literaturkritiker namentlich nennen, nur Marcel Reich-Ranicki nicht, den kenne jeder. Das Seminar kam mit Mühe auf zwei weitere Namen: Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler, die beiden anderen Teilnehmer am Literarischen Quartett.

Dennoch bezweifle ich Sundermeiers Diagnose. Einmal abgesehen davon, dass er sich meines Erachtens die Vergangenheit schöner redet, als sie war, leisten heute sehr viele Kritiker unter den angedeuteten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen exzellente Arbeit. Es gibt nach wie vor eine intellektuell anspruchsvolle Literaturkritik. Sie stellt ihre theoretischen Grundlagen nicht mehr ganz so ostentativ aus, wie das früher einmal üblich war. Viele Kritiker versuchen, ihre Sicht auf die Literatur an die Leser von Tages- und Wochenzeitungen zu vermitteln, ohne ihnen durch literaturwissenschaftlichen Fachjargon auf die Nerven zu gehen. Das halte ich für eine Qualität, nicht für einen Mangel. Denn Tages- und Wochenzeitungen sind General-Interest-Medien, richten sich also an eine große, unspezifische Öffentlichkeit. Ein Kritiker, der hier schreibt, ist in erster Linie Journalist und muss damit rechnen, hier für eine andere Leserschaft zu arbeiten, als wenn er in einer Literaturzeitschrift schreibt.

Schließlich fiel mir an der kleinen Netz-Diskussion um Sundermeiers Interview auf, wie schnell hinter dem angeblich aufs Allgemeine zielenden Vorwurf der mangelnden Intellektualität vieler Rezensenten die persönlichen Interessen derer hervorlugten, die hier Kritik übten. Da war der Leiter des kleinen Verlages, der sich darüber beklagt, dass die Bücher kleiner Verlage so wenig in großen Medien rezensiert werden. Da war der Lyriker, der beanstandet, die Kritiker interessierten sich zu wenig für Gedichte und für Dichterlesungen. Da war der Buchautor, dem in einer Rezension fälschlich ein Versäumnis vorgeworfen worden war und der aus dieser Schlamperei eines Rezensenten auf die Schlampigkeit des ganzen Rezensionsbetriebs glaubte schließen zu dürfen.

Hier beklagen sich also Brancheninsider darüber, dass die Literaturkritik nicht die Erwartungen von Brancheninsidern erfüllt. Aber ist Kritik in Tages- und Wochenzeitungen nicht dafür da, die an Literatur interessierten Leser zu informieren, statt die Selbstdarstellungsbedürfnisse der Literaturbetriebsangehörigen zu befriedigen? Natürlich wollen wir alle Aufmerksamkeit für unsere Arbeit und kennen die Schmerzen der narzisstischen Kränkung, wenn wir uns zu wenig beachtet fühlen. Aber die mediale Konkurrenz der Literatur (und also auch der Literaturkritik) hat massiv zugenommen. Sie ist, das muss ich niemandem sagen, kein Leitmedium mehr. Wenn man bedenkt, welche Rolle sie heute nüchtern betrachtet in einer westlichen, pluralistischen und hoch arbeitsteiligen Gesellschaft spielen kann, scheint mir die Aufmerksamkeit, mit der man der Literatur in der Öffentlichkeit und den General-Interest-Medien begegnet, noch immer erstaunlich hoch.

Diese Medien aber werden nicht nur von Menschen gelesen, die sich für Literatur interessieren, sondern auch von solchen, die für Literatur interessiert werden wollen. Literaturkritik ist kein Oberseminar, sondern Teil des Journalismus und hat eine Dienstleistungsfunktion. (Auch so eine narzisstische Kränkung, mit der sich viele nicht anfreunden können.) Sie hat die Aufgabe, sowohl das betreffende Buch als auch die – immer subjektive ästhetische – Kritik an dem Buch an den Leser der Zeitung zu vermitteln. In diesem Spannungsfeld bewegt sich Literaturkritik in auflagestarken Tages- und Wochenzeitungen notwendigerweise. Hier aber, an diesem Punkt, liegt der Teufel im Detail. Hier kann man nicht pauschal diskutieren, sondern nur individuell am Einzelbeispiel. Denn natürlich besteht die Gefahr, dass Artikel unter solchen Voraussetzungen banal, oberflächlich oder argumentativ schlicht werden. Aber das müssen sie nicht. Sie können klug, differenziert und überraschend sein. Und nebenbei: Ich habe auch in noblen Literaturzeitschriften Aufsätze gelesen, die selbst durch ihren gespreizten Fachjargon nicht verdecken konnten, wie banal, oberflächlich und argumentativ schlicht sie letztlich waren.

Kurz: Ich denke, die Literaturkritik ist natürlich in einer Krise, weil ein so luftiges Gewerbe wie die Kritik literarischer Werke sich zwangsläufig immer in einer Krise befindet. Und das ist auch gut so. Aber ansonsten ist der Rezensionsbetrieb hierzulande angesichts der wirtschaftlichen und zeitgeistigen Rahmenbedingungen dieser Jahre nicht nur viel besser, als er in dieser Sonntagsdebatte gemacht wurde, sondern auch viel besser, als man zunächst erwarten dürfte.

Nun aber zum Thema: Literaturkritik in Nachrichtenmagazinen.

Nähern wir uns dem Gegenstand behutsam. In Deutschland werden im Allgemeinen „Der Spiegel“, „Focus“ und „Stern“ zu den Nachrichtenmagazinen gezählt.  In Österreich „Profil“, in Großbritannien „The Economist“, in den USA „Time“ und „Newsweek“, in Frankreich „Le Nouvel Observateur“, „L’Express“ und „Le Point“ oder in Italien „L’Espresso“. Die Aufzählung ist selbstverständlich nicht vollständig, aber sie gibt bereits einige auffällige Charakteristika der journalistischen Spezies Nachrichtenmagazin an die Hand.

1. Alle genannten Nachrichtenmagazine erscheinen wöchentlich.

2. Sie sind mehr oder weniger stark illustriert.

3. Sie haben ein Format, das grob vereinfacht in etwa der deutschen Industrienorm A 4 entspricht.

4. Alle genannten Nachrichtenmagazine sind General-Interest-Zeitschriften, wenden sich also an ein Publikum, das vom Magazin nicht über ein spezielles Themengebiet, sondern über Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport usw. informiert werden will.

Aus den genannten Charakteristika lassen sich bereits einige Grundvoraussetzungen für die journalistischen Arbeiten in einem Nachrichtenmagazin ableiten. Um den Kontrast zur Arbeit für eine Tageszeitung gleich gehörig zuzuspitzen, würde ich gern provisorisch folgende Formel vorschlangen: Die psychische Grundbefindlichkeit einer Tageszeitungsredaktion ist manisch. Die psychische Grundbefindlichkeit der Redaktion eines Wochenmagazins ist melancholisch.

Ich habe meine journalistische Laufbahn in einer Tageszeitung begonnen, habe zehn Jahre für die „FAZ“ und zehn Jahre für die „Welt“ gearbeitet. Beide Zeitungen erscheinen im Nordischen Format (40 x 57 cm) und waren zu ihren Hochzeiten, um das Jahr 2000 herum, geradezu haarsträubend umfangreich. Die Materialmengen, die benötigt werden, um diesen Umfang qualitativ anspruchsvoll zu füllen, sind enorm. Doch wenn sie als Tageszeitungs-Redakteur morgens so gegen 9 Uhr an ihren Schreibtisch kommen, ist das einzige, was sie tatsächlich mit Sicherheit wissen, dass so gegen 16 oder 17 Uhr Redaktionsschluss sein wird und sie alle im emphatischen Sinne aktuellen Artikel wegschmeißen können, die sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht inhaltlich und formal druckfertig gemacht haben. Der Tageszeitungsjournalist fühlt sich dem Motto der New York Times verpflichtet, „All the News That’s Fit to Print“, und hat alle Hände voll zu tun, diesen Anspruch täglich bis 16 Uhr zu erfüllen. Ich halte es für verständlich, wenn aus dieser Situation eine tendenziell manische Grundhaltung der Betroffenen resultiert.

Bei dem weitaus weniger umfangreichen, nur wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazin ist die Situation anders. Der Redakteur weiß, dass seine Leser die täglichen Ereignisse in Tageszeitungen, Fernsehen, Radio oder Internet verfolgen. Sie sind also über die Informationslage auf dem Laufenden. Der Redakteur muss also nicht alle Nachrichten, die „fit to print“ sind, noch einmal drucken. Wenn er nicht schlicht wiederholen will, was seine Leser bereits wissen, bleiben ihm vor allem drei Wege:

1. Es gelingt ihm, den Lesern eine bislang noch unbekannte Geschichte von möglichst hoher Relevanz zu liefern. Die so genannte Enthüllungsstory.

2. Er kann zu bereits öffentlich diskutierten Vorgängen bislang unbekannte Informationen beisteuern. Ein typisches Beispiel: Das Bundeskabinett hat vor wenigen Tagen eine wichtige politische Kompromiss-Entscheidung getroffen, die Tageszeitungen haben sie vermeldet und kommentiert. Das Nachrichtenmagazin garniert seinen Bericht über die Entscheidung mit Zitaten aus der Kabinettsitzung, mit Aussagen der Unterhändler, die hinter den Kulissen den Kompromiss vorab aushandelten, und mit Äußerungen derjenigen, die ihn im Nachhinein begrüßen oder verdammen.

3. Oder der Redakteur des Nachrichtenmagazins findet einen bestimmten Dreh, einen Spin, mit dem sich ein in den Tageszeitungen bereits verhandelter Vorgang noch einmal neu und anders darstellen lässt: Er kann zum Beispiel einen besonders profilierten Autor bitten, den Vorgang zu kommentieren oder in einem Interview die Entscheidungsträger zu ihrer Entscheidung befragen oder die Entscheidung in einen übergeordneten Rahmen einbetten und so neue Zusammenhänge sichtbar machen.

All das kann der Tageszeitungs-Redakteur natürlich auch, aber wenn die Magazin-Redakteure ein wenig Glück haben, ist der Kollege an der Tagesfront so sehr mit der reinen Aktualität beschäftigt, dass ihm für alles andere wenig Zeit bleibt. Unter dem Strich bedeutet das aber, dass die Redakteure eines Wochenmagazins zu fast allen Themen, die während einer Woche öffentlich verhandelt werden, und zu denen sie – wie ihre Kollegen von der Tageszeitung – gern Stellung nehmen würden, leider schweigen müssen. Sie haben nicht das, was meine Kollegin und Vorrednerin Sandra Kegel das „Glück der Zeilenfreiheit“ nennt. Weil ihr Heft zu wenig Platz bietet. Weil die Kollegen von den Tageszeitungen schon fast alles Wichtige aktuell gesagt haben. Weil das Thema schon drei, vier, fünf Tage alt ist, wenn das Magazin erscheint, und inzwischen längst ein andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Wenn sich angesichts dieser Situation gelegentlich Melancholie unter ihnen breit macht, sollte das niemanden überraschen. Kurz: Der Druck zur Themen-Auswahl ist beim Nachrichtenmagazin enorm hoch. Während das Feuilleton der „SZ“, der „Welt“ oder der „FAZ“ acht bis zehn Themen pro Tag breit darstellen kann, sind es bei einem Nachrichtenmagazin vielleicht fünf pro Woche.

In den Redaktionskonferenzen, in denen die Redakteure um möglichst viel Platz im Magazin fechten, präsentiert also jeder von ihnen nur das Beste, nur das Wichtigste, was er zu bieten hat. Der Kollegin aus der Innenpolitik zum Beispiel wurden Emails aus einer Parteizentrale zugespielt, die finstere Pläne zum Bruch der Großen Koalition offenbaren. Der Osteuropa-Spezialist schwenkt Fotos, die den Transport russischen Kriegsgeräts in die Ostukraine belegen. Zwei Wirtschaftsredakteure haben ein Interview mit dem Chef der amerikanischen Notenbank gemacht, der ihnen vorrechnet, dass italienischen Kreditinstitute in drei Wochen pleite sind. Danach ist dann der Literaturredakteur dran, alle Blicke richten sich auf ihn, er zögert, stockt, öffnet den Mund – und was immer er nun sagen wird, kämpft in diesem Kreis konkurrierender Kollegen mit mindestens einem von zwei Handikaps: der Banalität oder der Subjektivität.

Denn die bloße Feststellung, die Schriftstellerin XY veröffentliche jetzt einen neuen Roman, ist zwar nüchtern gesehen eine Nachricht, aber eine sehr banale. Jeder, der sich für die Programmvorschau der Verlage interessiert, ist seit Wochen über diese Tatsache informiert. Die Behauptung des Literaturredakteurs, dieser Roman der Schriftstellerin sei fabelhaft, ein großes Werk, schlichtweg überragend, ist ein notwendigerweise subjektives ästhetisches Urteil. Und die Kollegen des Literaturredakteurs, die um Platz im Heft für ihre Themen rangeln, wissen genau, dass zeitgleich in anderen Redaktionskonferenzen anderer Zeitungen andere Literaturredakteurinnen und Literaturredakteure sitzen, die ebenso gut über den neuen Roman der Schriftstellerin XY informiert sind, hier also von einer Enthüllung oder einem Scoop nicht die Rede sein kann. Zudem: von diesen anderen Literaturredakteuren wird das Buch möglicherweise als komplett misslungen abgetan und belächelt – womit die Subjektivität des ästhetischen Urteils noch einmal deutlich hervortritt. Eine harte News ist die Beurteilung des Romans also gewiss nicht.

Ich möchte Sie hier nicht mit zu viel Details langweilen, fasse die Möglichkeiten, die dem Literaturredakteur angesichts dieser Ausgangslage bleiben, deshalb in stark vergröberter Form zusammen. Alle laufen im Grunde darauf hinaus, dass der Literaturredakteur vorschlägt, nicht lediglich eine Rezension des neuen Buches der Schriftstellerin XY zu publizieren, sondern dieser Textsorte noch etwas hinzuzufügen, also der Sache einen zusätzlichen und hoffentlich reizvollen journalistischen Spin zu geben.

1. Er kann ein Interview mit der Schriftstellerin XY machen und versuchen, der Autorin entscheidende Selbstkommentare zu ihrem Werk zu entlocken. (Der analytische Wert solcher Selbstkommentare ist zugegebenermaßen zweifelhaft. Der analytische Wert zahlreicher Rezensionen allerdings auch.) Oder er kann versuchen, andere markante Aussagen von XY zu bekommen zum Thema ihres Romans, zur Literatur im Allgemeinen oder eben zu Gott und der Welt.

2. Der Literaturredakteur kann XY treffen, mit ihr über den neuen Roman sprechen und dann ein so genanntes Porträt über sie schreiben, in dem er die Leser nicht nur über Inhalt und literarische Qualität des Buches informiert, sondern auch über Selbstkommentare der Autorin, über ihre vergangenen Werke, über das Auf und Ab ihrer bisherigen literarischen Karriere oder andere – hoffentlich – literarisch wissenswerte Fakten oder Deutungen.

3. Der Literaturredakteur kann einen sehr namhaften Autor bitten, das Buch für das Magazin zu rezensieren. Wichtig ist hier, eine wirklich attraktive, intellektuell produktive Kombination von Buch und prominentem Rezensenten zu finden. Beispiel: Wem es gelungen wäre, Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“ von Hans Magnus Enzensberger rezensieren zu lassen, der viel von Kehlmanns Helden Alexander von Humboldt und der Mathematik Karl Friedrich Gauß’ versteht, hätte sich über einen veritablen journalistischen Coup freuen dürfen.

4. Der Literaturredakteur kann thematisch-inhaltliche oder zeitgeschichtliche oder politische Aspekte des Romans von XY in den Vordergrund stellen, sie mit anderen aktuellen literarischen Werken kombinieren oder kontrastieren, das einzelne Werk also in einen größeren literarischen oder sonstigen Zusammenhang rücken. Wenn das darauf hinausläuft, irgendeinen literarischen Trend verkünden zu wollen, ist das Ergebnis meist sehr fragwürdig. Andererseits wäre es – um ein aktuelles Beispiel zu nehmen – sowohl literarisch wie journalistisch mehr als fragwürdig gewesen, über Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ nur aus streng ästhetischer Perspektive berichten zu wollen und die aktuellen politischen Aspekte des Buches unbeachtet zu lassen.

Ich fürchte, das klingt alles entsetzlich pragmatisch und nicht nach den idealen Kommunikationsbedingungen, die man sich für eine öffentliche Debatte über ein literarisches Kunstwerk wünscht. Der Literaturredakteur des Nachrichtenmagazins macht in dieser Beschreibung auf den ersten Blick keine glanzvolle Figur. Gleiches gilt jedoch mit Abstrichen auch für die Literaturredakteure in Tages- oder Wochenzeitungen, denn sie bedienen sich, wie ich andeutete, ähnlicher journalistischer Mittel. Die Rezension, also die konzentrierte Analyse eines Buches durch einen Literaturkritiker zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches, weckt da mehr Vertrauen. Das will ich gar nicht abstreiten, auch ich liebe es, Rezensionen zu schreiben.

Allerdings sollten wir uns davor hüten, die Buchrezension zum journalistischen Fetisch zu machen. Jeder von uns hat schon dümmliche Rezensionen gelesen und kluge Porträts oder erhellende Interviews. In meinen Augen ist jede Form öffentlicher Berichterstattung über Literatur zunächst einmal Literaturjournalismus. Von den Versuchen, der einen Form pauschal den Ehrentitel „Kritik“ zu verleihen, und alle anderen pauschal abzuqualifizieren, halte ich nichts. Ich würde hier gern eine Lanze brechen dafür, journalistische Artikel nicht vorschnell in Schubladen einzuordnen, sondern zu lesen und individuell zu beurteilen. Denn, wie gesagt, hier liegt der Teufel im Detail.

In seinem Essay „Rezensentendämmerung“, das Stefan Neuhaus zu Anfang unseres Kolloquiums schon erwähnte, hat Hans Magnus Enzensberger dem Literaturjournalismus unserer Jahre die Leviten gelesen. Von der Hintergrund der beiden Pole, die Enzensberger in seinem Aufsatz umreißt – hier der Kritiker alter Schule, dort der Zirkulationsagent des Literaturmarkts – wirken die heutigen Literaturredakteure von Nachrichtenmagazinen oder Tages- und Wochenzeitungen nicht sehr imponierend.

Ich muss allerdings gestehen, dass ich Enzensbergers Essay nie besonders mochte. Er enthält viel Kluges über den Bedeutungsverlust von Literatur seit der Hochzeit der bürgerlichen Gesellschaft, zugegeben. Ansonsten aber bedient er sich des Effektes willen eines argumentativen Taschenspielertrick: Er spaltet den Literaturjournalismus auf in die zwei Extremfiguren Kritiker und Zirkulationsagent und täuscht so darüber hinweg, wie viel beide gemeinsam haben, wenn sie ihre Arbeit gut machen. Und er verliert kein Wort über das eigentliche Ziel journalistischer Arbeit, nämlich die Information des Publikums.

Um meine Einwände kurz und recht pauschal zusammenzufassen:

- Enzensbergers Kritiker alter Schule war immer auch bis zu einem gewissen Grad Zirkulationsagent. Auch er hat durch seine Essays Erfolge und Misserfolge von Büchern beeinflusst.

- Der Zirkulationsagent von heute lässt, das notwendige handwerkliche Geschick vorausgesetzt, in seine Rezensionen oder Porträts literarische Argumentationen einfließen, die zeigen, dass auch für ihn, wie Enzensberger für den Kritiker reklamiert, „die Literatur ein Nexus von Schriften ist, die er liebt oder hasst, bewundert oder verwirft“.

- Die literarische Essayzeitschrift, die Enzensberger als liebstes Medium des Kritikers alter Schule benennt, existiert bis heute fort. Im „Merkur“, in der „Neuen Rundschau“, in „Sinn und Form“, in den „Akzenten“ und vielen anderen liebevoll redigierten Journalen mehr kann ein Kritiker Bücher vor einer sehr fachkundigen Leserschaft auf hohem intellektuellen Niveau diskutieren. Es spricht also nichts dagegen, die Arbeit des Kritikers auch heute fortzusetzen. Die Auflagen dieser Zeitschriften sind gering, sicher, aber das waren sie immer. Wundern würde ich mich allerdings, wenn irgendjemand auf die Idee käme, er könnte als Kritiker heute in einem radikal veränderten sozialen und medialen Umfeld die gleiche gesellschaftliche Resonanz erzielen, wie in jenen Hochzeiten der Kritik, von denen Enzensberger spricht. Die beachtliche Zahl ganz unterschiedlicher Medien von „taz“ bis „FAZ“, von „Merkur“ bis „Brigitte“, von „Druckfrisch“ bis „Herbert liest!“, die heute über Literatur berichten, scheinen mir dafür zu sprechen, dass unterschiedliche Leser auf unterschiedliche Weise über Literatur informiert werden möchten. Und bevor ich ihnen einen Vorwurf machen würde, dass sich manche mit angeblich oberflächlichen Formen des Literaturjournalismus zufrieden geben, würde ich mich darüber freuen, dass sie sich überhaupt für Literatur interessieren.

- Der öffentlichen Diskussion kultureller Normen durch Kritiker, schreibt Enzensberger, wird heute eine nicht mehr so hohe Bedeutung eingeräumt wie zu der Zeit, als die Entscheidung zwischen literarischer Tradition und literarischer Moderne eine politische Entscheidung zu sein schien und Freundschaften daran zerbrachen. Ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich bedauerlich ist, wenn diese Zeiten mittlerweile hinter uns liegen. Aber ziemlich sicher bin ich mir, dass für diesen Prozess des Bedeutungsverlusts nicht Rezensenten oder Journalisten verantwortlich sind, sondern ein großräumiger sozialer, kultureller und politischer Prozess von historischer Dimension, auf den weder Kritiker alter Schule noch heutige Zirkulationsagenten irgendeinen Einfluss haben.

Und ich bezweifle, dass es klug wäre, angesichts dieses radikal veränderten sozialen und medialen Umfelds ausschließlich an den traditionellen Formen der Literaturkritik, also an der Rezension festhalten zu wollen. Mir scheint es vielmehr eine sinnvolle und notwendige Entwicklung zu sein, der Rezension auch andere, neue journalistische Formen an die Seite zu stellen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf dem Manuskript eines Vortrags, den der Verfasser im Rahmen des XX. Mainzer Kolloquiums des Instituts für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität am 30.1. 2015 zum Thema „Das Ende der Literaturkritik?“ gehalten hat.