Widerlich menschlich!
Michael Tomasello widmet sich der „Naturgeschichte des menschlichen Denkens“
Von Wolfgang Imo
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Einschätzung „Widerlich menschlich!“ stammt von Königin Victoria, die sich angesichts eines Orang Utans im Zoo zu dieser Äußerung verleiten ließ. Menschenaffen wirken in der Tat sehr (wenn auch nicht unbedingt widerlich) menschlich, und es ist daher seit der ‚Entdeckung‘ der Menschenaffen immer wieder versucht worden, herauszufinden, ob und inwiefern menschliches Denken sich von tierischem unterscheidet. Bereits in Gottfried Wilhelm Leibniz’ „Von den Worten“, verfasst zwischen 1701 und 1704, wird der Orang Utan als ein Beispiel eines physisch durchaus sprachfähigen, aber im Gegensatz zum Menschen eben nicht denkenden Wesens angeführt. Michael Tomasello setzt sich mit dem Versuch, menschliches Denken in Kontrast zu tierischem zu definieren und die Ursprünge und die Entwicklung des menschlichen Denkens zu rekonstruieren, ein hohes Ziel. Dabei bleibt er thematisch und in Bezug der Wahl seiner Argumente im Kontext seiner bisherigen Arbeiten. So wird das vorliegende Buch im Vorwort explizit als „Prequel“ zu der 2002 bei Suhrkamp erschienenen Monographie „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ angekündigt, und auch zu dem 2009 ebenfalls bei Suhrkamp erschienenen „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ sind enge – manchmal fast schon zu enge – Bezüge zu sehen.
Zunächst geht es Tomasello darum, Vorschläge dafür zu liefern, warum und wie Menschen „im Vergleich zu anderen Tierarten auf besondere Weise denken“. So einfach es auf den ersten Blick zu sein scheint, menschliches Denken von tierischem zu unterscheiden, so kompliziert erweist sich diese Aufgabe bei näherer Betrachtung. Vieles von dem, was man als typisch menschliche Denkleistungen klassifizieren würde, wie das Schlussfolgern, die Selbst- und Fremdwahrnehmung oder ähnliche kognitive Prozesse lassen sich auch bei Tieren nachweisen. Sehr schlüssig und auf interessante Weise widmet sich Tomasello der Diskussion kognitiver Kapazitäten von Tieren am Beispiel der Menschenaffen. Er zeigt, dass Menschenaffen durchaus in der Lage sind, klassische Schlussfolgerungsverfahren oder die Negation zumindest in einer Proto-Form durchzuführen. Wenn menschliches Denken nicht lediglich als eine verbesserte Version des Denkens von Menschenaffen (oder anderen Tieren) gefasst werden soll, müssen eindeutigere Unterschiede festgestellt werden. Die – wer die Arbeiten von Tomasello kennt, nicht überraschende – Lösung lautet: Die Grundlage für menschliches Denken bildet die nur dem Menschen eigene Fähigkeit, „einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund durch kollektiv bekannte kulturelle Konventionen, Normen und Institutionen aufzubauen“. Damit schließt Tomasello – zum Teil recht pauschal und zum Teil ohne, zum Teil mit nur oberflächlicher Diskussion – andere Erklärungsansätze schlichtweg aus. Menschliches Denken sei gekennzeichnet durch zwei kommunikativ-kulturelle Aspekte: gemeinsame Intentionalität und kollektive Intentionalität. Diese Fokussierung auf den kommunikativen Aspekt menschlicher Interaktion kommt natürlich nicht von ungefähr, sie zieht sich durch das gesamte Werk Tomasellos – und führt damit, auch wenn dieser nicht erwähnt wird, die These von Leibniz fort, dass Sprache (und auch Denken) elementar mit der Pflege der ‚Geselligkeit‘ zusammenhängt, die den Menschen eigen ist.
Wenn man auch die etwas apodiktische Setzung der oben genannten Aspekte als grundlegend für menschliches Denken und die oberflächliche Behandlung anderer Ansätze kritisieren kann, so liegt der Vorteil dieser selbstgewählten Beschränkung aber darin, ein kohärentes und stimmiges Bild menschlichen Denkens zeichnen zu können. Die solcherart gekennzeichnete spezifisch menschliche Art des Denkens bezeichnet Tomasello mit dem etwas sperrigen Begriff „objektiv-reflexiv-normatives Denken“. Gemeint ist damit dasselbe, was auch in den Hypothesen der gemeinsamen und der kollektiven Intentionalität angedeutet wird, nämlich, dass nur Menschen in der Lage sind, ihr Denken insofern zu objektivieren, als sie darüber nachdenken, was der andere wohl denkt beziehungsweise wie ihr Handeln von anderen wahrgenommen wird. Diese Objektivierung verläuft reflexiv, das heißt, wir können auch darüber nachdenken, wie die Tatsache, dass wir etwas tun, von anderen wahrgenommen wird, und wie wir mit der Tatsache umgehen, dass jemand diese Handlung wahrnimmt und wie wir dann darauf reagieren könnten und so weiter.
Im Kern sind in diesen reflexiven Zirkeln auch die sozialen Normen angelegt, wenn wir nämlich unsere Handlungen objektiv betrachten und entsprechend Handlungen durchführen oder unterlassen, sobald wir sie dem hypothetischen Blick anderer unterzogen haben. Hier ist nach Tomasello der entscheidende Übergang von tierischem zu menschlichem Denken zu finden: Während Menschenaffen über individuelle Intentionalität verfügen, die sie dazu befähigt, Schlüsse zu ziehen, wie andere sich verhalten werden, sich Situationen auch in gewisser Weise abstrakt vorzustellen und sich selbst zu beobachten, fehlt ihnen die Fähigkeit, über ihre eigenen individuellen Bedürfnisse hinauszugehen: Menschenaffen, so Tomasello, handeln nicht altruistisch. Diese Fähigkeit entstand erst bei den Menschen auf der Ebene der gemeinsamen Intentionalität, das heißt der Fähigkeit, die Bedürfnisse der anderen erkennen zu können und damit koordinierte Handlungen planen zu können. Die gemeinsame Intentionalität mündet schließlich in der hypothetischen Entwicklung der Menschheit in die kollektive Intentionalität. Hier bilden Gruppen abstrakte, kulturell verfestigte Normen aus, die als Orientierungspunkte dienen. Die Orientierung verläuft nun also an diesen Normen und nicht mehr, wie bei der gemeinsamen Intentionalität, an den konkreten, situativ bedingten Handlungen des jeweils präsenten und anwesenden Partners. Das führt dazu, dass das eigene Handeln einer ständigen Selbstbeobachtung von außen, das heißt aus der Perspektive der Gruppe (vermittelt über die Kultur und die Normen), unterzogen wird. Interessant ist bei dieser Hypothese, dass Tomasello dabei ein Modell entwirft, das die Entstehung von Sprache und Kultur aus einer immer engeren Kooperation heraus erklärt: „Die gemeinschaftlichen Tätigkeiten und die kooperative Kommunikation der Frühmenschen führten – unter Anwendung neuer Formen sozialer Koordination – ohne Kultur und Sprache zu neuen Formen des menschlichen Denkens.“ Die Komplexität des Denkens wiederum wird aus der Entstehung der durch die Kooperation entstandenen Sprache und Kultur abgeleitet: „Die Prozesse der konventionalisierten Kultur und Sprache moderner Menschen führten zu all den einzigartigen Komplexitäten des Denkens und Schlussfolgerns moderner Menschen.“
Die hier dargestellte Entwicklung wird von Tomasello gewohnt stringent und argumentativ schlüssig präsentiert. Wie bereits erwähnt, ist es etwas schade, dass alternative Erklärungsansätze nur sehr oberflächlich behandelt werden. Überzeugend ist Tomasellos Argumentation daher vor allem dann, wenn man kooperativen oder interaktionalistischen Ansätzen in den Bereichen der Anthropologie, Sprach- und Kulturwissenschaften, Psychologie, Soziologie et cetera gegenüber aufgeschlossen ist. Es handelt sich bei der „Naturgeschichte des menschlichen Denkens“ um ein ‚Statement‘, das mit vielen Beispielen aus der Primatenforschung arbeitet und interessant zu lesen ist, nicht um eine intensive Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Positionen. Der Wermutstropfen ist, dass sich die Argumente früherer Bücher doch recht nachvollziehbar wiederholen und nicht viele neue Erkenntnisse präsentiert werden. Vor allem denjenigen, die noch keine anderen Bücher von Tomasello gelesen haben, ist dieses ‚Statement‘ einer radikal ‚kooperatistisch‘ gedachten Menschheitsentwicklung jedoch durchaus zu empfehlen.
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1971 / 1701-1704): Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Aus dem Französischen übersetzt von Ernst Cassirer. Hamburg: Felix Meiner Verlag.
Tomasello, Michael (2009 / 2008): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Schröder. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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