Nichts Schlimmeres droht als der Alltag

Stephan Thome profiliert sich mit seinem Roman „Gegenspiel“ als der Statthalter Max Frischs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Kapitel 15, nach mehr als dreihundert Seiten in Stephan Thomes neuem Roman „Gegenspiel“, findet man sich genau bei jener Episode wieder, mit der „Fliehkräfte“, das letzte Buch des Autors, vor drei Jahren begann. Hartmut Hainbach, Bonner Philosophieprofessor in den Fünfzigern, verheiratet, eine erwachsene Tochter, sieht sich, scheinbar genervt von einem immer reformsüchtiger werdenden und dabei zunehmend leerlaufenden Uni-Betrieb, in Berlin nach einem neuen Job um. Seine Frau, Maria, eine Portugiesin, hat sich in der Hauptstadt seit Jahren eine eigene Existenz geschaffen, indem sie einem Ex-Freund, dem Theatermacher Falk Merlinger, als persönliche Assistentin an dessen kleiner Bühne zur Hand geht.

Allein die Beziehung zwischen Hartmut und Maria kriselt seit geraumer Zeit, weil keiner der beiden Partner wirklich mit der Situation der Wochenendehe zurechtkommt. Nachdem Hartmuts Bewerbung als Programmleiter für die Sparte „Philosophie“ bei einem aufstrebenden Berliner Verlag ohne Erfolg bleibt, will er sich auf einer Autoreise nach Portugal darüber klar werden, wie es mit seiner Ehe und einem Leben, das immer weiter aus dem Ruder zu laufen scheint, weitergehen soll. Derweil begibt sich Maria mit ihren Kollegen nach Kopenhagen zu einem internationalen Theatertreffen und sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob der Job bei Merlinger noch der richtige für sie ist. 

„Fliehkräfte“ erzählte 2012 die Geschichte eines auseinanderdriftenden Paars, episodenreich und detailliert, mit viel Gespür für Zwischentöne. „Gegenspiel“ nun bringt, nachdem die Leser die Geschichte aus der Perspektive Hartmut Hainbachs kennen, jene seiner Frau Maria ins Spiel. Erzählt wird, wie wir das von Thome bereits kennen, streng realistisch, wobei sich die Zeitebenen ineinanderschieben, die Chronologie des Erzählten also aufgebrochen wird, man sich mit drei wechselnden erzählten Zeiten konfrontiert sieht, zwischen denen die Übergänge manchmal vielleicht etwas gar zu abrupt vonstatten gehen.

Spannend ist das Ganze freilich allemal, auch wenn hier nicht das Leben von aus der Masse herausragenden „Helden“ durchleuchtet wird, sondern mehr oder weniger ein deutsches Mittelschichtsdrama abläuft. Auch dass es Thome in „Fliehkräfte“ besser gelungen ist, in die seelischen Tiefen seines männlichen Protagonisten einzudringen als im neuen Roman in jene Marias, darf wohl als normal angesehen werden. Wer den Vorgängerroman gelesen hat, hat auf alle Fälle mehr Spaß an der Konfrontation der beiden unterschiedlichen Sichtweisen. All jenen, die mit der Geschichte von Hartmut und Maria in „Gegenspiel“ zum ersten Mal konfrontiert werden, entgeht aber nichts wirklich Wesentliches was den Plot betrifft. Sollten Sie neugierig werden, steht es ihnen nun ja frei, sofort im Anschluss an diesen Roman auf „Fliehkräfte“ zurückzugreifen.

Marias Erinnerungen konzentrieren sich im Wesentlichen auf drei Lebensabschnitte, in denen auch jeweils ein Mann eine entscheidende Rolle in ihrem Leben spielte. Ihre frühesten Reminiszenzen gelten der Zeit in Lissabon nach der so genannten „Nelkenrevolution“, die im April 1974 eine der ältesten europäischen Diktaturen weitestgehend unblutig hinwegfegte. Das Gefühl der Freiheit, das die Menschen in jenen Tagen des Aufbruchs in eine neue, demokratische Epoche ergriff, lässt die junge, lebenshungrige Frau eine Affäre mit dem Fotografen Mário beginnen, die mit einer illegalen Abtreibung endet.

In die darauf folgende Westberliner Studentenzeit fällt dann ihre Bekanntschaft mit Falk Merlinger, einer Art Heiner-Müller-Verschnitt mit hochfliegenden Plänen, systemfeindlicher Attitüde und der Gewohnheit, Freunde und Bekannte hemmungslos für seine eigenen Pläne einzuspannen. Als die Beziehung nicht mehr funktioniert, lernt Maria eher zufällig Hartmut Hainbach kennen.

Der ist das genaue Gegenteil des Bohémiens Falk, gerade dabei, seine Unikarriere zu starten, und bereit, für Maria seine aktuelle Freundin zu verlassen. Nachdem ein Kind unterwegs ist, heiraten die beiden und Maria folgt ihrem Mann über Bergkamen nach Bonn, wo eine Bewerbung Hartmuts auf eine Professur für analytische Philosophie endlich zum Erfolg führt. Allein glücklich wird das Paar nicht. Hartmut reibt sich im stressigen Uni-Alltag auf, Maria ist mit der Tochter überfordert, leidet an einer Kindbettdepression und lässt sich auf eine Affäre mit einem Bergkamener Nachbarn ein.

Auch Bonn bringt in dieser Beziehung keine Besserung. Maria fühlt sich nicht gebraucht, das Leben, das sie „im Land mit den drei kalten Jahreszeiten“ führt, scheint ihr nur noch eine „Parodie unserer Träume“ zu sein. Deshalb nutzt sie die erste Möglichkeit, die sich ihr bietet, nachdem die Tochter Philippa aus dem Haus ist und in Hamburg ein Studium begonnen hat, die Bonner Provinz zu verlassen und in die neue Hauptstadt Berlin zurückzukehren. Ein Jobangebot ihres Ex-Freundes Falk, der inzwischen ein angesehenes alternatives Theaterprojekt betreibt, das Berliner Theaterwerk BT, ermöglicht es ihr, eine kleine Wohnung anzumieten. Alte und neue Freunde erleichtern das Sich-Eingewöhnen.

Ganz dicht dran an seiner Figur bleibt Stephan Thome, wenn er sie ihr Leben überdenken lässt. Dabei entsteht das Porträt einer Frau, mit der der Leser Sympathien haben kann, die er aber auch gelegentlich in ihrer permanenten Unzufriedenheit und den daraus folgenden Verzweiflungstaten nicht versteht. Mit einem anderen Temperament ausgerüstet als der aus kleinbürgerlich-geordneten Verhältnissen stammende Hartmut, von dem sie als Vorbild immer wieder die Ehe seiner Schwester Ruth und deren Leben in Ordnung und Gemütlichkeit vorgehalten bekommt, scheint sie an ihrem finanziell abgesicherten Dasein stets mehr zu leiden als sie ihrem Mann gegenüber zuzugeben bereit ist.

Thomes Kunst – und nicht nur darin erinnern seine letzten beiden Romane an die Beziehungsdramen und Ichfindungskatastrophen in den Texten Max Frischs, dessen „Montauk“ übrigens Hartmut Hainbachs Lieblingsbuch ist – besitzt dort ihre größten Stärken, wo sie hinter den Banalitäten des Alltags all jene verlorenen Träume und Wünsche sichtbar werden lässt, mit denen seine Protagonisten einst angetreten waren. Gelandet sind sie letzten Endes im Mittelmaß, in einem Leben, mit dem weder Hartmut noch Maria zufrieden sind, aus dem sie intuitiv auszubrechen suchen – jedoch ohne ein wirklich neues Ziel vor Augen zu haben.

Titelbild

Stephan Thome: Gegenspiel.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
458 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424650

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