Ein Kunstwerk auf dem Prüfstand

Wieland Försters „Große Neeberger Figur“ – ein Hauptwerk der figürlichen Bildhauerei nach 1945

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er sei Bildhauer geworden, weil er „an ganz bestimmten Grundverletzungen litt, mit denen ich sehr schwer fertig geworden bin […]. Es war der Versuch, aufzuarbeiten, was an Erschütterungen von der Zeit her in mich eingedrungen ist“. So entstanden seine Gemarterten und Verzweifelten, Hoffenden und Liebenden, Polarisierungen und Vermischungen des Humanen und Barbarischen, Martyrium und Ecce homo, Arkadischer Akt mit Beinen nach oben, Großer schreitender und Großer trauernder Mann, Große Neeberger Figur und Penthesilea-Gruppe, die Frau als Symbol des Naturhaft-Unzerstörbaren und der vom Leben gezeichnete, mit schlimmen Erfahrungen belastete Mann, plastische Körper-Einblicke und Torsi als eine Form der Konzentration auf das Wesentliche, als „Porträt des Leibes“. Seine Porträtplastiken – zuletzt die von Elfriede Jelinek und Jean Genet, aber auch des ermordeten jüdischen Arztes Dr. Benno Hallauer, die im Parlamentsgebäude gegenüber dem Reichstag steht – leben aus der Spannung zwischen abstrakter Form und der Individualität des Dargestellten.

Der 1930 in Dresden geborene und seit den 1960er-Jahren in Berlin und im Land Brandenburg ansässige Bildhauer Wieland Förster, der zugleich ein bedeutender Zeichner und sensibler Schriftsteller ist, hat Biographisches, das nur ihm Verfügbare, in die bildhauerische Metapher übertragen, die das Persönliche ins Allgemeingültige, das Empfinden und Erleben eines einzelnen in die existenzielle Erfahrung vieler hebt. Die „Passion“ von 1966, ein aufgepfählter männlicher Körper in erbarmungslos lädierter Nacktheit. „Ecce homo“ (1980), die Anthropomorphisierung einer versehrten und zerstörten Felsform, die zugleich von Beharrung und Widerstehen geprägt ist. „Erschossener“ (1968), ein Klumpen Mensch vor der Erschießungsmauer. Aus einem Sandsteinfindling hat Förster 1974 einen „Männlichen Torso“ gehauen: „Bin bei der Arbeit immer so erregt, als hinge von dieser Stunde meine ganze Existenz ab: die Folge Herzflattern und Armlähmung, so dass ich, wie heute, in Angst lebe; Herzinfarktangst – die Symptome sind alle beisammen.“ „Einblick IV“ (1978) zeigt aufregende Verläufe, Hebungen und Senkungen, die Epidermis ist von einem Gespinst von Buckelungen und linearem Geäder überzogen: „Hier stirbt jede Macht, sie wird nicht bekämpft, nicht besiegt, sie erlischt.“. In Paar-Kompositionen wird jener unerlöste Widerspruch von Leben und Tod, von Aggression und Erleiden, von Sinken und Trotzen auf zwei Figuren übertragen. Der Torso als Fragment trägt prozessualen Charakter, er bleibt als Form offen und sperrt sich nicht gegen Verbindungen, Verschmelzungen, Verknotungen, Überlagerungen. Der Körper wird zur zuckenden, auffahrenden Form, zur lodernden Landschaft, und diese wiederum zu organischem Leben mit allen Zeugungsmerkmalen erweckt.

Von tragischer Gespanntheit vermochte Förster in seinem Alterswerk zu einer fast arkadischen Gelassenheit zu gelangen, so wenn er der durch das Feuer gegangenen „Nike“ von 1998 atmenden Rhythmus und tänzerische Beschwingtheit verleiht. Dieser Hoffnung auf Überleben, auf Überdauern steht dann wieder der durch die Überdrehung des Leibes an den Füßen wie aufgehängte, gehäutete „Marsyas – Jahrhundertbilanz“ (1999) gegenüber. Und diese Polarität begleitete den Bildhauer weiter ins neue Säkulum als noch immer offene Frage nach der Würde und Selbstbestimmung des Menschen. Nach der Einweihung der Uwe-Johnson-Porträtstele in Güstrow 2007 musste Förster krankheitsbedingt seine bildhauerische Tätigkeit beenden und widmet sich seitdem ganz dem Schreiben. „So darf ich am Ende meiner Tage hoffen“, schrieb der nunmehr 85jährige Wieland Förster damals, „Zeugnis für den Menschen abgelegt zu haben“.

Ein Hauptwerk Försters – und der figürlichen Bildhauerei nach 1945 überhaupt –, die „Große Neeberger Figur“ (1971–1974, Bronze), steht jetzt im Zentrum einer Ausstellung des Gerhard-Marcks-Hauses in Bremen (bis 12. April). Um sie herum sind andere Werke Försters gruppiert. die in Bezug zu ihr stehen, sowie bildhauerische Arbeiten von Walter Arnold, Fritz Cremer, Waldemar Grzimek, Theo Balden, Wolfgang Kuhle, Joannis Avramidis, Reg Butler, Waldemar Otto, Rolf Szymanski, Michael Schoenholtz und anderen, die unterschiedliche Blickwinkel auf die Große Neeberger Figur werfen sollen. Hier werden Fragen nach der Darstellung des Menschen, Positionen zu Themen wie Realismus und abstrahierte Figur, Schmerz, Leid, Eros und Vergänglichkeit, Leben und Tod, Akt und bekleidete Figur, der Torso als „Porträt des Leibes“  diskutiert.

Die Entstehung der Großen Neeberger Figur hat Förster so beschrieben: „Dieser Name Neeberg geht auf ein kleines Dorf am Bodden zurück, in dem ich mich aufhielt. Dort habe ich die Figur in der Landschaft stehen gesehen – ich mag das Wort Vision nicht – aber als Vorstellung […]. Ich lag da am Strand und habe sie gesehen, einfach, weil ich immer irgendwelche Bilder sehe. Und dieses Bild war für mich so stark, dass ich diese Figur machen musste und fast drei Jahre daran arbeitete. Ganz wichtig an dieser Figur war für mich die absolute Ehrlichkeit der Form. Verstehen Sie mich richtig: bei dieser Figur ist jedes Detail bis zum letzten ausgesprochen, Anfang und Ende der Form, Höhe und Spannung und alles. Es war ein Prozess der Bestandsaufnahme und handwerklichen Wahrhaftigkeit.“ 

Die Neeberger Figur, ganz Vertikale bis zu den aufgereckten Armen, verkörpert eigentlich ein alltägliches Motiv, das des Hemdausziehens. Aber sie ist, aus Eiformen aufgebaut (das Ei als Quelle des Lebens), in den Körperformen so abstrahiert, dass sie zu einer Übersteigerung des traditionellen Körperideals geworden ist. Ihre Zehen bohren sich in die Erde, ihre Arme reckt sie wie Zweige, ihre Finger züngeln wie Geäst in den Himmel. Verborgen ist der Kopf, nur die Brüste halten das herab gleitende Gewand auf. Ihr Gegenbild ist der „Große Trauernde Mann“ (1979–1983, Bronze), in sich zusammengesunken, aber voller innerer Energien bebend in der Erinnerung: Entsprechungen wie Polaritäten bestimmen das Werk eines der bedeutendsten  Künstler unserer Gegenwart.

Neben vielen, zu vergleichenden Betrachtungen anregenden Abbildungen enthält der Katalog vier Texte, die sich mit der Großen Neeberger Figur auseinandersetzen. Arie Hartog zeigt auf, welchen Freiraum die Große Neeberger Figur in der offiziellen Kulturpolitik der DDR in den 1970er-Jahren ausfüllte. Förster hat selbst 1975 darauf verwiesen, dass sie in „Sehgewohnheiten“ eingebrochen sei, weil hier eine völlig neue Auffassung vom Torso umgesetzt wurde. Hartog sieht dieses Gestaltzeichen eines weiblichen Akts als eine Figur der Krise an: Sie lässt sich als eine extreme Zuspitzung von bildhauerischen Ideen und Motiven verstehen. Das hätte er jedoch etwas deutlicher ausführen müssen. So bleibt er bei der Aussage stehen, dass die Figur mit all ihren sichtbaren und unsichtbaren Widersprüchen zu einer Symbolfigur wurde. Veronika Wiegartz verweist darauf, dass die Neeberger Figur aus Ovoiden gebaut wurde, einer Grundform, die Förster schon in den frühen 1960er-Jahren für sich entdeckt hatte. Die Figur verfüge über ein vielfältiges Rhythmus- und Spannungsgefüge. Die stark überlängten Proportionen der Neeberger Figur, das rhythmische An- und Abschwellen der Glieder lässt einen Vergleich mit Brancusis „Endloser Säule“ (1936/37)  zu. Wir haben es hier auch nicht mit einem realen Kleidungsstück zu tun, sondern es geht um das existenzielle Verhüllt- beziehungsweise Ausgeliefertsein an sich, das Wechselspiel von Eros (Leben) und Tod, die auch Förster als die beiden Grundthemen für sein Schaffen benannt hat. 

Gerd Brüne sieht die Neeberger Figur als Zwitter zwischen Abstraktion und Figürlichkeit an, als eine Gegenposition auch zum „Aufsteigenden“ (1964/65) von Försters Lehrer Fritz Cremer und damit zur Gerstel-Schule, die von Cremer, aber auch von Gustav Seitz und Waldemar Grzimek repräsentiert wurde. Für die Gerstel-Schule war die Rückbesinnung auf das menschliche Modell prägend. Dagegen irritierte die Neeberger Figur in ihrer Widersprüchlichkeit und Verschlossenheit, erregte Fragen und Emotionen. Die „kraftvolle, energiegeladene Gebärde des Sich-Aufrichtens“ sieht Fritz Jacobi durch eine „eigenartige Erstarrung“ der Neeberger Figur hinterlaufen. Er beruft sich auf Försters Aussage, dass dieser die Figur als „bildhauerisches Gefüge“  aufgebaut habe, und kommt zu dem Schluss, dass die durchgängige Formenstrenge die Figur trotz aller spürbaren Sinnlichkeit in ein „Sinnbild zeitlosen Verharrens“ verwandelt hat. Die Vertikale der Figur signalisiert sowohl ein dynamisches Aufsteigen als auch ein schon passiv intendiertes Heruntersinken, das aber in einer Balance gehalten wird. Querformen, „Treppungen“, sind dem übereinander gelagerten Rhythmus  entgegengesetzt, Lebensfülle und Lebensentzug  spielen ineinander, organische Körper-Ganzheit  und die „fast apparathafte Zergliederung“, ein Sich-Öffnen und ein Sich-Schließen der Formen, eine „vertrauensvolle Hingabe“ und „sich schützende Abwehrhaltung“  stehen im Widerstreit zueinander.

Ein Kunstwerk, so auf den Prüfstand gesetzt, erschließt sich erst so richtig dem kunsthistorischen Verständnis wie der öffentlichen Wirkung.

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Figur tut weh. Positionen um Wieland Försters Große Neeberger Figur.
Gerhard-Marcks-Stiftung Bremen, Bremen 2015.
71 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783924412821

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