Vom „Wunderhorn“ zu „Dorian Gray“
Günter Häntzschels Darstellung des literarischen Sammelns im langen 19. Jahrhundert
Von Malte Lorenzen
So wenig Sammlungen unter allen Umständen dem Zweck dienen, allzeit nur die neuesten Produkte aus Kunst, Industrie, Handwerk oder Design zu vereinen, so wenig lässt sich von ihrer Präsentation in einer Ausstellung erwarten, dass sie dem interessierten Publikum stets unbekannte Objekte oder neue Erkenntnisse liefert. Eine Ausstellung erfüllt schon dann eine wichtige kulturelle Aufgabe, wenn sie bereits Bekanntes in Erinnerung ruft oder durch die Zusammenstellung und Erläuterung der Sammlungsobjekte die Einsicht in deren Entstehungsbedingen, ihre historischen und systematischen Kontexte oder in ihre Tradierung fördert.
Nicht anders verhält es sich mit Günter Häntzschels Darstellung literarischen Sammelns im 19. Jahrhundert, die selbst Züge der Sammlung und Ausstellung trägt. Der emeritierte Münchner Literaturwissenschaftler hat sich in seiner wissenschaftlichen Laufbahn immer wieder mit Lyrikanthologien des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt und neben einer Monografie und zahlreichen Aufsätzen zum Thema auch eine Bibliografie vorgelegt. Auf den hierbei erworbenen Fundus kann er in der vorliegenden Darstellung zurückgreifen und erweitert ihn in die eine Richtung um die Volkslied- und Märchensammlungen der Zeit, in die andere Richtung um Sammlungen und sammelnde Figuren in der fiktionalen Literatur und ihre mitunter ebenfalls sammelnden Autorinnen und Autoren.
Mit leichter Hand skizziert Häntzschel einleitend Ergebnisse der anthropologischen und der kulturwissenschaftlichen Forschungen zum Thema, zur Rolle des Sammelns in der neuesten Erinnerungs- und Gedächtnisforschung und zur historischen und systematischen Erforschung des Museums als zentraler gesellschaftlicher Institution für diesen Bereich. Bislang unerforscht sei dabei das literarische Sammeln geblieben. Dies erweist sich jedoch nur bedingt als richtig, kann Häntzschel doch in den folgenden Kapiteln auf zahlreiche Forschungsergebnisse zurückgreifen, die in der Vergangenheit zu einzelnen Sammlungen und Sammlern publiziert worden sind. Achtung verdient darum vielmehr der Anspruch, diese Ergebnisse in einer übergreifenden Darstellung zusammenzuführen und in die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts einzuordnen.
Es ist kein Zufall, dass sich Häntzschel gerade diesem Zeitraum zuwendet. Mit Des Knaben Wundernhorn, den Kinder- und Hausmärchen und dem Deutschen Wörterbuch entstehen in dieser Zeit bis heute prominente literarische Sammlungen. Die großangelegten Projekte der Literaturgeschichtsschreibung im Zeichen des positivistischen Historismus, ungezählte Lyrikanthologien, Reclams Universalbibliothek und zahlreiche weitere bekannte und unbekannte Korpora vervollständigen das Bild und machen die Rede vom Sammeln als Signum des 19. Jahrhunderts sehr plausibel.
Dem Sammeln volkskultureller Zeugnisse seit der Romantik widmet sich Häntzschel in den ersten Kapiteln seiner Studie. Als fruchtbar erweist sich hierbei vor allem die terminologische Differenzierung zwischen dem „reproduzierenden Sammeln“ als Auswahl aus bereits vorliegenden schriftlichen Dokumenten und dem „entdeckenden“ oder „bewahrenden“ Sammeln als Bemühungen um die nur mündlich überlieferten volksliterarischen Traditionen. Anhand dessen vermag er unter anderem die unterschiedlichen Methoden und Interessen zwischen den mit didaktischem Anspruch auftretenden Anthologien aus dem Umfeld der Volksaufklärung wie dem Mildheimischen Liederbuch und den Sammlungen der Romantik und ihrer Nachfolgeprojekte auf den Begriff zu bringen. Neben einer exemplarischen Sichtung publizierter Sammlungen und deren Quellen setzt sich Häntzschel mit einem ganzen Bündel von Fragen auseinander. Sozialgeschichtlichen Aspekten wie der sozialen Herkunft der Sammler und ihrer zunehmend institutionalisierten Vernetzung in Vereinen gedenkt er ebenso wie den Praktiken in Archiven und in der Feldforschung. Die Suche nach Erklärungen für ihre Bemühungen und ihre Intentionen führt ihn schließlich immer wieder zur Kulturgeschichte und zur politischen Geschichte zurück.
Gerade hier fehlt Häntzschels kursorischem Gang durch die Geschichte literarischer Sammlungen, dessen Potential als einführender Überblicksdarstellung in den Themenkomplex dennoch gegeben ist, mitunter ein kritischerer Blick auf die ideologischen Implikationen der zugrundeliegenden Konzepte. Man muss kein Anhänger von Peter Hacks‘ Verachtung der Romantik sein, um ihre antimodernen Züge skeptischer zu beurteilen, als Häntzschel dies bisweilen tut. Wolfgang Emmerichs mittlerweile über dreißig Jahre alte Kritik der Volkstumsideologie oder die einschlägigen Arbeiten von Klaus von See hätten wichtige Impulse geben können, um einen deutlich stärkeren Akzent auf die Kontinuitäten von Arnim, Brentano und den Grimms bis zur völkischen Ideologie der Zeit um 1900 zu legen. Auch die Behauptung, das Märchen verweigere sich aufgrund seines „friedliche[n] und internationale[n] Charakter[s]“ einer einfachen politischen Instrumentalisierung, wäre unter Einbezug der Rezeptionsgeschichte und ideologiekritischer Ansätze zu hinterfragen.
Der zweite Schwerpunkt des Bandes gilt sammelnden Figuren in der fiktionalen Literatur des 19. Jahrhunderts, wobei sich der Bogen von Goethe und Jean Paul über Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, Mörike, Droste-Hülshoff und Grillparzer bis zu Joris-Karl Huysmans und Oscar Wilde spannt. Es zeigt sich, dass das Sammeln nicht nur für die damaligen Protagonisten des Sammelns von Literatur und für heutige Kulturhistoriker von Relevanz ist, sondern auch die Imaginationsräume der Dichter bewegte.
Jedoch verfällt Häntzschel in diesem Teil selbst in zunehmendem Maße positivistischem Sammeleifer und lässt darüber die wünschenswerte analytische Tiefe vermissen. Inhaltsangaben, die auf die Sammelthematik fokussiert sind, stehen Berichte über die Erfahrungen der Autorinnen und Autoren als Sammler und mit Sammlern zur Seite, wohingegen Überlegungen zu einer Poetik des Sammelns lediglich am Rande behandelt werden. Diesen Komplex eingehender zu behandeln, bedürfte es vor allem eines Brückenschlages zur Forschung zur literarischen Enzyklopädik und zum Zusammenhang von Literatur und Wissen. Dieses Defizit gesteht Häntzschel in seinem den Band beschließenden Ausblick allerdings auch freimütig ein und eröffnet somit Perspektiven auf ein umfassenderes Forschungsgebiet, das nicht nur von kulturhistorischem Interesse wäre, sondern ebenso spannende poetologische und ästhetische Erkenntnisse verspricht. Indem vorliegendes Buch dazu Materialien ausbreitet und die richtigen Fragen stellt oder evoziert, glückt ihm ein bislang unerwähnter Anspruch an Ausstellungen: Es regt zum Sammeln weiterer Fundstücke an.
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