Mark Twain für das 21. Jahrhundert

Dirk Popes instruktiver Jugendroman „Idiotensicher“ übersetzt die „Abenteuer des Tom Sawyer“ in die Gegenwart

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der farbige Moki ist ein Freak voller verrückter Ideen. Mit seinem Cowboyhut fühlt er sich wie der schwarze Held in Tarantinos „Django unchained“. Seine Freunde Joss und Basti dagegen sind ziemlich normal und schauen zu ihm auf. Oder umkreisen ihn „wie Motten das Licht“, wie die pummelige Elín findet, die Älteste der Gruppe.

Dirk Popes Jugendroman „Idiotensicher“ untersucht die fragile Architektur von Freundschaften. Er zeigt, wie leicht sich solch ein Gefüge verschiebt, ja sogar einzustürzen droht, wenn die Dinge in Bewegung geraten. Und das passiert schnell, wenn man mit Moki befreundet ist. So wie bei der Sache mit dem frisierten Motorrad, dem „Japsen“, mit dem die drei Jungen auf einem verlassenen Fabrikgelände Sprünge üben. So wie mit dem Kran am Fluss, von dem sie hinunterspringen, ohne zu wissen, ob unten im Wasser nicht alte Maschinenteile nur darauf warten, die Eintauchenden aufzuspießen. Oder so wie beim „House Running“, bei dem es darum geht, in fremde Häuser einzudringen, um von hinten an den Bewohnern vorbei einmal quer durchs Wohnzimmer zu rennen.

Das klingt nicht von ungefähr nach Wagemut und wilden Abenteuern, und in der Tat unternimmt Pope nichts Geringeres, als Mark Twains Jugendbuchklassiker „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ aus der Mitte des 19. Jahrhunderts heraus in die Gegenwart zu hieven. Dabei bleibt vom ursprünglichen Kolorit des Klassikers so einiges hängen: Da gibt es den farbigen Jungen, der das Wort „Neger“ als gar nicht so falsch empfindet. Wenn er in den Fluss springt, schmerzt der Aufprall aufs Wasser wie „Peitschenhiebe“ – ein Verweis auf den schwarzen Sklaven Jim. Es gibt den „Mississippi“, an dessen Ufern sich alles abspielt. Und es gibt sogar einen „Schatz“! Im Unterschied zu Twains Roman handelt es sich dabei aber nicht um eine Truhe voller Goldmünzen, sondern um eine Kiste mit allerfeinstem Dope.

Als Moki bestimmt, dass sie die Drogen verkaufen sollten, fädelt die gebürtige Isländerin Elín, die nach dem Fund zum Trio stößt, über einen Mittelsmann einen Kontakt zu zwei Dealern ein. Und plötzlich gerät die eigentlich idiotensichere Sache außer Kontrolle. Den Leser überrascht das kaum –  im Gegenteil. Denn schon im Bauprinzip des Romans ist angelegt, dass hier einiges schief laufen muss. Die drei Hauptkapitel sind nämlich als „Akten“ gekennzeichnet, die wiederum einzelne „Protokolle“ enthalten. In diesen übernehmen es drei verschiedene Ich-Erzähler, ihre Sicht auf die Ereignisse darzustellen: Joss, Basti und Elín. Pope verleiht jeder seiner Figuren ihre eigene Sprache. Joss spricht besonnen und reflektiert, Basti assoziativ, aufgeregt und mit vielen Auslassungen, Elín in kurzen elliptischen Sätzen. Auch ist sie die Einzige, die ihr Gegenüber duzt. Nur Moki erhält keine eigene Erzählerrolle, er entsteigt als schillernde Figur den Schilderungen seiner Freunde.

Pope begnügt sich nicht damit, den Erzählstrang linear durch die „Protokolle“ zu führen. Neben den ständigen Perspektivenwechseln gibt es Überschneidungen, Vorgriffe, Rückblenden. Das fordert den Leser, die Geschichte als dreifarbiges Puzzle aus den Einzelteilen zusammenzusetzen. Gleichzeitig beruht darauf das Spannungsprinzip dieses Jugendromans. Nur an einer einzigen Stelle auf den knapp 200 Seiten wird das vom Leser vollständig imaginierte polizeiliche Verhör direkter greifbar, und zwar in einer Frage von Joss: „Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?“

Wenn man bedenkt, dass erst die Ich-Perspektive, zu der Twain in seinem Nachfolger „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ wechselt, moralische Konflikte ernst nimmt, anstatt sie nur distanziert zu beurteilen, so ist Pope dem amerikanischen Schriftsteller sogar einen Schritt voraus. Immer geht es seinen Figuren auch um Fragen des Gewissens und der Moral. Und ausnahmslos geschieht dies selbstgesteuert und intrinsisch – nicht aus der Warte eines mahnenden Erzählers, der die Erwachsenenordnung vertritt. Darf man beispielsweise das Dope den Dealern, denen es abhandengekommen ist, zurückverkaufen, damit diese es anschließend auf dem Schulhof verticken? Und wie steht es um die moralische Integrität der Freunde? Joss, mit Hang zum Philosophieren, löst das untergründig schwelende Konfliktfeld unterschiedlicher Herkunftskulturen – der „schwarze“ Moki und die „weiße“ Elín – von der Frage nach Gut und Böse ab, neutralisiert sie also: „Zwischen den beiden war es weniger die Frage ,schwarz oder weiß‘, sondern wer von beiden grauer war, dunkel- oder hellgrau. Je länger ich darüber nachdenke – genau das war ihr Problem: die Frage nach dem Grau.“

Anlass für solche Gedanken ist, dass die Freundschaft eine Zerreißprobe zu bestehen hat, als die sechzehnjährige Elín plötzlich die Zügel in die Hand nimmt und der degradierte Moki auf den Machtverlust mit hemmungsloser Aggressivität und noch größerer Unberechenbarkeit reagiert. Nachdem mit Hilfe von Elíns früherem Nachbarn Ronnie-Roy die Übergabe der Drogen an die Dealer stattfindet, die Freunde aber nur einen unbefriedigenden „Finderlohn“ herausschlagen können, ist die Stimmung zwischen ihnen am vorläufigen Tiefpunkt angelangt. Moki übertreibt es mit seinen Schuldzuweisungen an Elín, was wiederum Joss und Basti deprimiert. Himmelhochjauchzende Aufbruchstimmung und Desillusion liegen verdammt nah beieinander! Als das Mädchen bei der Rückkehr an den Übergabeort von den dort wartenden Dealern entführt wird, Moki sich aber weigert, seinen Anteil für ihre Freilassung beizusteuern, sinkt das Ansehen des früheren Anführers bei seinen Freunden ins Bodenlose.

Dann überschlagen sich die Ereignisse: Der bekiffte Moki verbrennt fast im Zufluchtsort der Freunde, einem alten Zirkuswagen, und wird nur in letzter Sekunde von ihnen gerettet. Zur Überraschung des Lesers aktiviert Pope eine Randfigur seines Romans: „Der große M“, der früher mit dem Wagen auf Achse war und vom Zauberer zum Bauern umgesattelt hat, schaltet sich ein. Die drei fahren mit dem Traktor zu einer verlassenen Lagerhalle, in der Elín festgehalten wird, um sie zu befreien. Die Bosse der Dealer rücken in einem verbeulten Benz an, die in der Halle lagernden Feuerwerksraketen explodieren zu Tausenden, kurz: eine „Wahnsinnskatastrophe“ nimmt ihren Lauf. Am Ende eilt ausgerechnet der schwerverletzte Moki seiner Konkurrentin Elín zu Hilfe. Und wer weiß, vielleicht war sogar er es, der – nur auf dem Motorrad und ohne Helm – absichtlich in den Benz gekracht ist, um die Bosse aufzuhalten. 

Zum Schluss des Buchs hat Pope seine einmal durch die Mühle der moralischen Fragwürdigkeit gedrehten Hauptfiguren rehabilitiert, sogar den scheinbar fühl- und mitleidslosen Moki. Wenn es zum Äußersten kommt und es um Leben und Tod geht, so kann man frei übersetzen, halten Freunde eben zusammen. Bis ganz kurz davor ist aber alles Spaß, zumindest für Jungen wir Moki, und genau das kann zum Problem für Jugendliche werden: Wenn sie alles auf die leichte Schulter nehmen und den Bogen hoffnungslos überspannen.

Die innere Widersprüchlichkeit jeder Jugendliteratur beruht auf dem Spannungsverhältnis von Autor und Erzählgegenstand: Es sind immer Erwachsene, die schreiben. Dabei müssen sie die Erfahrungen und die Lebenswelt der jüngeren Generation zunächst neu aufschließen und rekonstruieren. Und wenn sich der Schlüssel nicht findet, vielleicht sogar die Brechstange zur Hand nehmen. Pope, der „neben dem Schreiben“ als Deutsch- und Sportlehrer arbeitet, wie der Klappentext nicht ohne Selbstironie verrät, gelingt das Eintauchen in das eigentlich Fernliegende mit bewundernswerter Lässigkeit. Wenn er beispielsweise Begriffe wie „Nasen-Pipi“ (für Nasenbluten), „Ackerporsche“ (für Traktor) oder „das war Pinocchio“ (für eine Lügengeschichte) aus dem Vokabular der Jugendsprache schöpft, geschieht das wie selbstverständlich – und nicht mit der plumpen Bemühtheit des Außenstehenden.

Überhaupt zeichnet sich das Buch durch eine wohltuende Distanz zur Elterngeneration und den verbeamteten Erziehungsberechtigten aus. Die Eltern von Joss und Basti: Spießer mit einem zwanghaften Ordnungssinn; der Vater, als Vertriebsleiter gerne unterwegs auf Messen oder „Mitarbeiterinnenschulungen“; der Lehrer Kruschka, ein Gartenzwerg-Liebhaber, isoliert von der Nachbarschaft, gutgläubig und völlig hilflos, als sich der ertappte Basti im Klassenzimmer ein Stück Dope in den Mund stopft, anstatt es ihm auszuhändigen. Auch damit liefert Popes beachtenswertes Debüt das, was einen Jugendroman für Jugendliche und jung gebliebene Erwachsene spannend und lesenswert macht: Projektionsflächen, Reibepunkte und sensibel erspürte Primärerfahrung.

Titelbild

Dirk Pope: Idiotensicher. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
192 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247444

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