Reflexionen über die „Textur der Wirklichkeit“

Über Marcel Beyers Lichtenberg-Poetikvorlesungen

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

XX. Das meint zunächst einmal das 20. Jahrhundert und die Grundprobleme der Erinnerungskultur, der Zeugenschaft, der Autorschaft, unter anderem auch die Frage, wer erzählt, wer verarbeitet, wem eine Geschichte gehört. Das verweist aber obendrein zugleich auf jene Zeichen, die einen auf der Schreibmaschine geschriebenen Text beinah zum Verschwinden bringen und so den Leser dazu herausfordern, auch das Gestrichene zu entziffern.

Die Lichtenberg-Poetikvorlesungen, die Marcel Beyer am 12. und 13. November 2014 in Göttingen gehalten hat, drehen sich – skeptisch und ironisch, ganz im Geist der Sudelbücher von Georg Christoph Lichtenberg – im wesentlichen um zwei Themen; zum einen um eine Literatur, „die sprachlos macht“, zum andern um einen Literaturbetrieb, der in Geschwätzigkeit versinkt.

Pech, doppeltes Pech. Auf einem Flug von Dresden nach Frankfurt muss Beyer feststellen, dass sich auch die mächtigste Literaturkritikerin des deutschsprachigen Raumes in der Maschine aufhält, mehr noch, dass ihr Begleiter, ihr Reise- oder auch Lebensgefährte, nach der Landung ausgerechnet die schwarze Umhängetasche des Autors aus dem Gepäckfach wirft oder wenigstens fallen lässt, eine Tasche mit einem Buch „über das Verschwinden der Welt, das Verschwinden der Sprache, das Verschwinden der Erinnerungen“. Anlass genug, über die aus schauerlichen TV-Sendungen bekannte Literaturkritikerin zu räsonieren, über ihren Umgang mit Literatur im Allgemeinen und mit Martin Heidegger im Besonderen („Ich lese das nicht“), und nachzudenken über die Frage, wie denn ein Mensch leben könne, „den wörtlich zu zitieren einer Komplettdemontage gleichkommt“. – Karl Kraus hätte darauf hundertprozentig schon eine Antwort gehabt.

Beyer liest anderes; namentlich das Buch in der schwarzen Umhängetasche – Die Köpfe der Hydra. Eine Geschichte – von Cécile Wajsbrot und Bücher von Georges Perec, W oder Die Kindheitserinnerung und Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen. Ähnlich wie Perec, der an der Place Saint-Sulpice drei Tage zubringt, um zu schildern, was gewöhnlich nicht bemerkt, nicht „beschrieben, inventarisiert, fotografiert, erzählt oder zahlenmäßig erfasst“ wird (Perec), so registriert auch Beyer, was ihm der 8. September 2014 alles zuträgt.

Zunächst einmal notiert er das in einem Sudelheft, im Notizbuch vom 8. September 2014, „in hingekrakelter Schrift“. Die vorliegende Broschüre enthält einige Proben dieser Handschrift; sie ist (abgesehen von einigen Wörtern, die mit X-Buchstaben gestrichen sind) keineswegs  schwer zu entschlüsseln. Da ist die Rede von der (uns schon bekannten) „Dame“, die tatsächlich glaubt, über das Feld der Literaturkritik gebieten zu dürfen, ohne davon auch nur das Geringste zu verstehen, und von ihrem (um ihn taktvoll zu charakterisieren) ungeschickten Lebensgefährten, da finden sich Anmerkungen zu Cécile Wajsbrot und Herta Müller, und schließlich immer wieder Beobachtungen, die ins Zentrum der Vorlesungen führen: in die „Textur der Wirklichkeit“.

Die veröffentlichte Version der Vorlesungen vermittelt in erster Linie Reflexionen über die Eigendynamik, die in jedem Akt des Schreibens beziehungsweise des Erzählens von Geschichten fast wie zwangsläufig sich entwickelt – ein unaufhörliches Wechselspiel zwischen Sich-Einlassen auf die Welt und Distanz-Wahren zur Welt. Betrachtungen in Abstimmung mit Überlegungen von Perec und Wajsbrot, aber auch im Anschluss an Claude Simon, an Heinrich von Kleist und Oskar Pastior (Beyer hat 2014 den Kleist-Preis und den Oskar Pastior Preis erhalten), nicht zuletzt außerdem in kritischer Auseinandersetzung mit Louis-Ferdinand Céline und Heidegger. Gedanken vor allen Dingen, durchwegs geistreich formulierte Gedanken über eine Literatur, „die nicht zu Herzen geht, ganz entschieden nicht zu Herzen geht“, vielmehr darauf den größten Wert legt, deutlich den Abstand zu markieren zwischen der Wirklichkeit und der Welt des schriftlich Festgehaltenen und somit auch niemals mehr aufkommen zu lassen, was Literaturkritik und Literaturdidaktik lange genug arglos als Moral der Geschichte eruiert und hochgehalten haben.

Titelbild

Marcel Beyer: XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
80 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783835316744

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