Der unbekannte Klassiker

Michael Maurer untersucht Leben und Werk Johann Gottfried Herders

Von Helga ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helga Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder wird die Bedeutung des Sprachtheoretikers und Intellektuellen Johann Gottfried Herder hervorgehoben, wenn über die Ästhetik, die Theorie der Kultur und Sprache, über die Pädagogik, die Theologie oder die Philosophie des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts geforscht wird. Allerdings steht der Gelehrte oder sein Werk meist nicht im Mittelpunkt, sondern es wird sein enormer Einfluss auf die Weltanschauung seiner Zeit betont; wie wichtig seine Gedanken für die Entwicklung Johann Wolfgang von Goethes, seine Übersetzungen für die Literatur der Romantik, seine Erfindung des Historismus für die Geschichtsphilosophie, seine Theologie für das Werk Friedrich Schleiermachers gewesen seien. Es ist erstaunlich, dass dieser Universalgelehrte einen solch großen Einfluss hatte, aber nur wenige Forschungen sich direkt mit seinem Werk oder seiner Person auseinandersetzen. Es gibt zwar inzwischen eine Herder-Gesellschaft, interessant dabei aber ist, dass die „International Herder Society“ 1985 in Monterey in Kalifornien gegründet wurde.

Michael Maurer widmet Herder, ohne dessen Ideen das geistesgeschichtliche Leben des beginnenden 19. Jahrhunderts zweifelsohne einen anderen Verlauf genommen hätte, ein eigenes Buch, das einen Einblick in dessen Leben und Werk vermittelt. Nach einer Einleitung, in der Maurer versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum dieser bedeutende Gelehrte vergessen werden konnte, stellt er Herders Leben und seine Arbeiten chronologisch vor: Ausbildung, Bückeburg und Weimar. Diese drei großen Stationen werden unterbrochen durch zwei große Reisen: eine Seereise von Riga nach Nantes (1769–1771) und die Italienreise (1788–1789).

Herder stammt aus einem armen kleinbürgerlichen Milieu. Unter diesen Bedingungen war es nicht leicht, Bildung zu erlangen; eine nahe liegende Möglichkeit bot der Weg, einen geistlichen Beruf anzustreben.  Ein Medizinstudium, das er 1762 in Königsberg begann, brach er bald wieder ab und wechselte zur Theologie und Philosophie. Einige Jahre arbeitete er als Lehrer und als Prediger, um 1769 von Riga aus eine Seereise nach Frankreich zu starten. Schon in dieser Anfangszeit formuliert er Ideen für gesellschaftliche Reformen, die absolut neu und grundlegend sind: Er propagiert den Vorrang der modernen Sprachen in der Schule vor dem Latein. Zunächst sollten die Schüler in der Muttersprache, dann in Französisch und erst zuletzt in Latein unterrichtet werden. Herder selbst bemühte sich ständig, andere Sprachen zu lernen. Die Hochschätzung anderer Kulturen und Sprachen, aber auch der eigenen zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. Eines seiner ersten sehr erfolgreichen Werke ist die „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772), in dem er sich gegen die These wendet, die Sprache sei göttlichen Ursprungs. Er richtet sich aber auch gegen die Thesen  der Aufklärer, die Sprache als reinen Gefühlsausdruck sehen. Er verankert seine Sprachphilosophie vielmehr in der Angewiesenheit des Menschen auf Kommunikation. Der Mensch entwickelt sich zum Menschen durch seine Sprache. Erst in der Verwendung der Sprache kann seine Vernunft entstehen. Der Mensch ist ein sich bildendes Wesen, das synchron eingebunden ist in die Gesellschaft, in der es lebt, und diachron ein Wesen mit Vergangenheit und Zukunft. Besonders die Bezogenheit auf die Vergangenheit lässt Herder zum Erfinder des Historismus werden, der die Dimension der Geschichte des Menschen betont.

Damit einher geht für Herder auch die Wertschätzung von ursprünglicheren Formen des Ausdrucks. Für ihn ist die Volkspoesie nicht weniger wert, sondern er wünscht sich eine Verbindung des Volkes mit den Philosophen und damit mit den Gelehrten. Diese Einstellung fördert bei den Autoren des Sturm und Drang den Emanzipationsgedanken. Herder ruft dazu auf, die Poesie des Volkes zu sammeln, was auf entschiedenen Widerstand der Aufklärer stößt. Nicolai spricht dem Volkslied das Recht ab, als Dichtung anerkannt zu werden. Trotz dieser Gegnerschaft folgen Herders  Aufrufen viele Autoren mit Begeisterung: Gottfried August Bürger fordert sogar, alle Poesie solle volksmäßig sein. Goethe, Achim von Arnim, Clemens Brentano und die Brüder Grimm sind die bekanntesten Sammler volkstümlicher Dichtung. Herder führt den Begriff des Volksliedes ein. Volk ist bei Herder zunächst der einfache Mensch im sozialen Sinne. Die Volksliedkonzeption Herders war von „historischer Vehemenz“. Eng verflochten mit diesem Begriff war auch die Weltliteraturkonzeption Herders, die später von Goethe übernommen wurde. Der wissenschaftliche Umgang mit volkstümlichen Texten war damit von Herder initiiert worden, weitergeführt wurde er von den Grimms.

Eine solche Dichtung hat das Potential, Ständegrenzen zu überschreiten. Auch dies ist ein Grundzug in Herders Denken, der sich durch sein ganzes Werk zieht: Er steht hinter dem Ideal der Gleichheit der Menschen, er ist gegen die Erbmonarchie, er wendet sich gegen die Sklaverei und gegen die wirtschaftliche Ausbeutung der Welt durch die Europäer. Die unterschiedlichen Kulturen stehen für ihn gleichrangig nebeneinander. So sieht er zwar einen Fortschritt in der Entwicklung der Menschen auf eine höhere Humanität hin, aber der Gedanke einer linearen teleologischen Fortschrittsentwicklung, wie ihn die Aufklärer formuliert hatten, lehnt er ab.

Die neue Poesie, die Herder vertritt, ist nicht die Dichtung der Höfe. Er wendet sich gegen den französischen Klassizismus im Drama und sieht in Shakespeare das neue große Vorbild. Eine seiner Stärken liegt darin, die Literatur anderer Sprachen zu durchforsten und zu übersetzen. Seine Übersetzung des Hohen Liedes aus dem Alten Testament wurde zu seiner Zeit sehr gelobt. Sein Umgang mit den Bibeltexten hatte etwas Revolutionäres, weil er sich dafür aussprach, das Alte Testament wie die Texte Homers als Dichtung zu lesen.

Sein ganzes Leben arbeitet Herder daran, die Religion mit der modernen Aufklärungsphilosophie zu versöhnen. Ausgehend von der Naturbetrachtung, die für ihn Grundlage jeder Erkenntnis ist, entwickelt er eine Kulturgeschichte des Menschen, die mit der Ausbildung der Sprache beginnt. Seitdem ist die Möglichkeit der Weitergabe von Wissen und der Tradition gegeben. Nach Herder ist der Mensch auf Bildung angelegt und auf den Bezug zu anderen Menschen. Ohne den Kontakt zu anderen könne der Mensch nicht leben und sich nicht entwickeln. Herder betont die unterschiedlichen Formen von Bildung, die gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Es gelingt Maurer mit diesem Buch, auf klare und verständliche Art und Weise die Bedeutung des äußerst komplexen und umfassenden Werk Herders darzustellen. Sehr übersichtlich am Leben orientiert analysiert er seine großen Werke und durchleuchtet das Besondere daran, in Bezug auf die damalige Zeit, aber auch in ihrer Bedeutung auf das Heute. Am Ende listet Maurer zwölf Punkte mit den dazugehörigen Argumenten auf, die diese Größe belegen oder begründen. Im letzten Punkt erklärt Maurer ihn zum Gründer einer neuen Wissenschaft: der Ästhesiologie. Die Kunst des Auges (Malerei, Schrift) sollte relativiert werden zu Gunsten der Kunst des Ohres (Poesie, Musik) und der Kunst des Gefühls (Plastik). Gerade in diesem Punkt tritt wieder der Universalgelehrte Herder in den Fokus, weil seine Betrachtungsweise Einseitigkeiten in Wissenschaft und Kunst verhindert. Überheblichkeiten gegenüber anderen Kulturen können nicht entstehen, wenn die unterschiedlichen Ansätze gleiche Wertschätzung erfahren. Während der Europäer seine Bildung im Aneignen der lateinischen Sprache suche, liege sie für den Feuerländer im Erlernen der Jagd.

Nach den Darlegungen von Maurer kommt man wieder unweigerlich zu der Frage, die er schon am Anfang gestellt hat, zurück. Warum konnte ein Gelehrter, der in solch beeindruckender  Weise seine Zeit und die gesamte Wissenschaft beeinflusst hat, „dermaßen verdeckt, verdrängt, vernachlässigt werden“? Maurer erläutert vier wichtige Gründe für diese erstaunliche Rezeptionsgeschichte: Seine Werke wurden falsch gedeutet, so wurde ihm zum Beispiel vorgeworfen, er sei ein Kämpfer gegen die Vernunft gewesen. Dann könnte es daran gelegen haben, dass er in einer frühen Phase seines Schreibens einen mystischen, schwer verständlichen Stil geschrieben hat. Einen dritten Grund sieht Maurer darin, dass er keine Anhängerschaft organisiert hat. Der vierte Grund liegt darin, dass diejenigen, die seine Impulse, Gedankengänge  und Ideen aufgegriffen und weitergeführt haben, es vermieden, sich zu ihm zu bekennen. Maurer nennt folgende Geistesgrößen, die alle starke Grundlagen in Herders Denken gefunden haben: die Brüder Friedrich und August Schlegel, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Gottlieb Fichte, die Brüder Alexander und August Wilhelm von Humboldt, die romantischen Philologen, die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Diese Denker schöpfen aus den Vorgaben, die Herder geliefert hat, aber sie wollen nichts mit dem Namen zu tun haben: „Herders Impulse waren quasi anonym in die Masse des Denkens eingegangen“.

Maurer findet keine Antwort auf die Frage, warum diese wichtigen Vertreter seiner Gedanken die Person Herder vollkommen ignorieren. Meine These ist, dass Denker, die aus dem Kleinbürgertum kommen, in der deutschen Geistesgeschichte einen besonders schwierigen Stand haben, wenn sie als die Großen ihrer Zeit anerkannt werden wollen. Einen wie Herder, der aus armen Verhältnissen kam und der, auch wenn er inzwischen in eine höhere Gesellschaftsschicht aufgestiegen war, seine Ideale der gleichen Wertschätzung aller Menschen und Kulturen nicht aufgegeben hatte, akzeptierte man nicht als gleichberechtigt. Herder hat sich zwar gebildet, aber er hat sich dem Denken der Aristokraten nicht angepasst.

Umso wichtiger ist es, dass Michael Maurer das Werk und die Bedeutung Herders möglichst vielen Lesern nahe bringt. Das Buch ist ansprechend und sehr übersichtlich gestaltet;  es bringt einige Bilder aus Herders Leben, mit Orten, an denen er sich aufgehalten hat, ein Gemälde seiner Frau Caroline, Schattenrisse und das Herderdenkmal in Weimar.

Titelbild

Michael Maurer: Johann Gottfried Herder. Leben und Werk.
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2014.
195 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783412223441

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